Arto Paasilinna – Vorstandssitzung im Paradies

Südsee-Posse: Die spinnen, die Finnen!

Fünfzig Skandinavier und Briten verschlägt das Schicksal bei einem Flugzeugabsturz auf eine einsame Insel in der Südsee. Klingt nach Paradies? Wird es auch. Aber erst nach der Einführung von Demokratie und Sozialismus.

Der Autor

Der 1942 in Lappland geborene Finne Arto Paasilinna hat bisher nahezu vierzig Bücher veröffentlicht, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem in Frankreich und Italien. Einige davon wurden bereits verfilmt. Paasilinnas Spezialität ist die humorvolle Parodie, die bestimmte Charakterzüge der Finnen und umgebenden Völkerschaften ironisch thematisiert.

Auf Deutsch erschienen sind bisher:

– Der heulende Müller
– Die Giftköchin
– Der Sohn des Donnergottes
– Im Wald der gehenkten Füchse
– Der Sommer der lachenden Kühe
– Das Jahr des Hasen
– Die Rache des glücklichen Mannes
– Der wunderbare Massenselbstmord
– Nördlich des Weltuntergangs
– Im Jenseits ist die Hölle los

Handlung

Ein von den Vereinten Nationen gechartertes Flugzeug, eine völlig veraltete Trident, startet von Tokio aus Richtung Indien. An Bord ist unser nicht sonderlich gewissenhafter Gewährsmann und heftig beteiligter Chronist, ein finnischer Journalist. Nennen wir ihn Arto. Neben der britischen Besatzung befinden sich noch eine Reihe finnischer Holzfäller und eine ganze Reihe finnischer Hebammen und schwedischer Krankenschwestern sowie zwei norwegische Ärzte an Bord. Während die Waldarbeiter der indischen Forstwirtschaft auf die Beine helfen sollen, beabsichtigt das medizinische Personal, in Indien Techniken der Verhütung zu vermitteln und einzuführen.

Als die Maschine in einem Tropensturm in der Südsee abstürzt, können sich die meisten der 50 Menschen an Bord an den Strand einer einsamen Insel retten, doch zwei werden unterwegs von den Haien gefressen. Der Journalist braucht eine Weile, bis er zusammen mit einer Stewardess den Rest der Truppe wiedergefunden hat: 48 Personen, günstig verteilt auf 26 Frauen und 22 Männer. Die Verletzten erhalten eine gute Pflege, versteht sich. Der Journalist ist froh darüber, denn er hat sich mehrere Rippen gebrochen.

Die Skandinavier sind vernünftige Leute – außer wenn der Hunger an ihnen nagt. Aus dem Wrack des Flugzeug lassen sich nicht nur Verhütungsspiralen in rauen Mengen bergen – sehr gut als Angelhaken zu verwenden -, sondern zum Glück auch die Essensrationen für die Passagiere. Sie sind ruckzuck verschlungen. Damit alle etwas davon haben, erweist es sich als notwendig, die Demokratie und ein Entscheidungsgremium einzuführen: Eine schwarze Hebamme, der Journalist sowie der norwegische Arzt Vanninen gelangen in Führungspositionen.

Das Führungskomitee verteilt die Aufgaben, und nach ein paar Wochen sind die Gestrandeten in der Lage, selbständig über die Runden zu kommen. Eine Expedition ins Landesinnere stößt zunächst auf ein unüberwindbares Gebirge und auf dem Rückweg auf einen aus dem Weltkrieg übriggebliebenen Geschützbunker der Japaner. Sogar die Kanone ist noch da und lässt sich, nach ein wenig Reparatur und Instandsetzung, tatsächlich abfeuern. Bevor es dazu kommt, ist aber noch die Entdeckung von trinkbarem Spiritus nötig: In Nullkommanix sind die Expeditionsteilnehmer, Frauen wie Männer, stockbesoffen und zu allen Schandtaten bereit. Als sehr lustig erweist sich die Beschießung des eigenen Strandes. Die solcherart unter Beschuss Geratenen sind weniger entzückt.

Als ein Hubschrauber heranfliegt und die Strandbewohner mit seinem Maschinengewehr unter Feuer nimmt, fliehen alle in den Dschungel. Offenbar ist auf dieser Insel ein Krieg im Gange. Das bedeutet, dass keine Handelsschiffe in diese Gewässer kommen werden und man eventuell auftauchende Kriegsschiffe tunlichst meiden sollte. Also beschließt man, die geniale Idee eines britischen Kopiloten in die Tat umzusetzen. Dieses SOS-Signal herzustellen, wird zwar fast ein Jahr dauern, doch es könnte die einzige Möglichkeit sein, von der Insel runterzukommen. (Wie man es bewerkstelligt, wird jetzt hier aber nicht verraten.)

Während dieses Jahres organisiert sich der etablierte Sozialismus, doch der Verzicht auf Eigentum erstreckt sich natürlich nicht auf Frauen und Männer. Und so kommt es unweigerlich zu einer zwischenmenschlichen Krise, denn auch im Paradies ist der Sündenfall nicht zu vermeiden.

Mein Eindruck

Fünfzig Europäer auf einer einsamen Insel – das könnte eigentlich ganz romantisch werden. Man denke etwa an das eindeutige Vorbild des „Robinson Crusoe“. Dessen reales Vorbild aus dem 18. Jahrhundert war ja wiederum ein schottischer Seemann namens Alexander Selkirk. (Siehe z. B.: [„Selkirks Insel. Die wahre Geschichte von Robinson Crusoe“) 234 Doch Crusoe machte sich nach dem Willen seines Schöpfers Daniel Defoe, eines gerissenen Londoner Journalisten, seine Insel untertan, um so die moralische Überlegenheit des westlichen Christenmenschen zu belegen – inklusive der Herrschaft über einen farbigen Eingeborenen, den er bekanntlich „Freitag“ nannte, von den Ziegen ganz zu schweigen. Die Variante, die in „Herr der Fliegen“ geschildert wurde, kommt allerdings nicht zum Zuge: Schließlich handelt es sich bei den Gestrandeten um Erwachsene, nicht um kleine Jungs.

Der umgekehrte Crusoe

Auch im Südseeparadies der Skandinavier taucht ein „Eingeborener“ auf: Der Indonesier Jhan, den alle nur „Janne“ nennen, ist von seiner Militärtruppe, die gegen Partisanen Krieg führt, desertiert, weil er die Sinnlosigkeit seines Einsatzes erkannt hat. Das ist genau der richtige Teamgeist, der bei den Finnen etc. gebraucht wird, und so wird Janne schon bald in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Er schließt ausgerechnet mit der strengsten und unleidigsten Hebamme, Frau Sigurd, Freundschaft, woraus im Lauf der Zeit mehr wird. Der Rest der kleinen Kolonie ist froh: endlich Ruhe! Auch Jannes Karabiner ist für die Nahrungsbeschaffung sehr willkommen. Die Wildschweine werden nun keine Damen mehr in der Sauna heimsuchen.

Statt den „schwarzen Wilden“ (um mal den blonden Nazi in „Indiana Jones 1“ zu zitieren) umzukrempeln, bis aus ihm ein Christenmensch wird, nehmen ihn sich die Europäer gewissermaßen zum Vorbild. Leben sie nicht im Paradies? Sie schimpfen auf die Steuern, die sie in Europa zu zählen hätten, auf die strengen Winter in Finnland, die sinnlose Maloche in schlechter Luft – und wer brauche überhaupt solche Staatspräsidenten wie Kekkonen aus Finnland, hm? Und so kommt es, dass sich eine rebellische Gruppe von Aussteigern bildet, die, im Gegensatz zu den Verheirateten und Familienvätern etc, gar nicht mehr zurück wollen in die sogenannte Zivilisation, unter ihnen auch unser Journalist Arto. Aus „Robinson Crusoe“ ist „The Beach“ geworden, allerdings unter positiven Vorzeichen.

Rettung, nein danke!

Als der erwähnte Hilferuf endlich eine Reaktion zeitigt und ein Flugzeugträger der Amerikaner auftaucht, um die Gestrandeten zu retten, erweist sich dieses Vorhaben denn auch als wesentlich schwieriger als erwartet: Zuerst fliehen alle wieder in den Dschungel; die Lektion des feuernden Hubschrauber ist noch sehr lebendig. Manche der Gefundenen wollen auch gar nicht gerettet werden. Es entwickeln sich recht groteske Szenen voller Ironie.

Doch die sogenannte „Zivilisation“ spielt mal wieder ihre ganze Überzeugungskraft in Form von Rauchbomben und Tränengas aus, um die Aussteiger von ihrer „moralischen Überlegenheit“ zu überzeugen. Der Schiffskapitän droht sogar, die waffenlosen Zivilisationsverweigerer ihrerseits wegen „Angriffs auf die amerikanischen Truppen“ zu bestrafen, lässt aber noch einmal Gnade vor Recht ergehen. Die moderne Welt hat sie wieder, mit ihrem ganzen Irrsinn.

Sündenfall ohne Apfel

Wie es den Insulanern in ihren privaten Beziehungen ergeht, sollte man selbst lesen. Erotik trifft auf Vernunft, Bäumchen-wechsel-dich trifft auf Von-wem-ist-das-Kind? Das ist durchaus amüsant zu lesen und wird an kaum einer Stelle kitschig oder zu sentimental.

Doch die Krise selbst wirkt im Nachhinein zu stark inszeniert, um Spannung zu erzeugen. Denn dass Janne seine indonesischen Verhaltensmaßstäbe anwendet, berechtigt bzw. veranlasst ihn meines Erachtens noch nicht dazu, seinen britischen Nebenbuhler mit Mord und Totschlag zu bedrohen – hier wird, scheint mir, vom Autor mit Theaterdonner hantiert. Ansonsten verlauft das Liebesleben auffallend harmonisch.

Unterm Strich

Es ist heute nicht so einfach, einen Südsee-Aussteiger-Roman zu schreiben, wie noch vor 100 oder 200 Jahren. Zum einen sind schon derart viele Klischees produziert und widerlegt worden, dass das Modell heute einem Minenfeld an Fettnäpfchen gleicht. Zum anderen kann die Story dadurch sehr leicht für schlüpfrige Genreszenen missbraucht werden, sei es nun Richtung Erotik – nach dem Motto „fun in the sun“ – oder Richtung Gewalt – nach dem Motto „mein Eiland ist mein Königreich“.

Paasilinna schickt seinen Journalisten als nüchtern beobachtenden, doch auch den weltlichen Genüssen nicht abgeneigten Chronisten vor, um eine moderne Aussteigergesellschaft zu beschreiben, die Demokratie und Sozialismus nicht zugunsten archaischer Modelle (Feudalismus, Oligarchie, Tyrannei usw.) über Bord wirft. Selbst die Liebe ist keineswegs eine Leidenschaft, die Leichen schafft (höchstens in einer Ausnahme).

Umso sympathischer ist daher der Widerstand der Rebellen unter den Gestrandeten gegen die Rückführung in die Zivilisation. Das klingt wie ein Widerspruch. Doch der Grund ist einfach der, dass die Rebellen nicht per Abstimmung verhindern konnten, dass das SOS-Signal hergestellt wurde. Also müssen sie sich mit dem Auftauchen der Rettungstruppe abfinden. Eigentlich. Was natürlich zu grotesken Widerstandsszenen führt.

Ich habe diese kurzweilige Geschichte in wenigen Stunden verschlungen. Nicht immer gelingt es dem Autor, einen tragfähigen Plot auf die Beine zu stellen, der genügend Konflikte und Entwicklung in sich birgt, um die Story über eine längere Strecke zu tragen. Das Gegenbeispiel liefert der Roman „Im Jenseits ist die Hölle los“, der allerdings 17 Jahre vor „Vorstandssitzung“ geschrieben wurde.

Dennoch ist „Vorstandssitzung im Paradies“ keine große Sache, denn eine Charakterisierung der Figuren findet – mit Ausnahme von Janne und Frau Sigurd – kaum statt, so dass auch keine intensive Anteilnahme an ihrem Schicksal entstehen kann. Und daher liest sich „Vorstandssitzung“ wie eine unterhaltsam ausgeführte Versuchsanordnung, ohne jemals die Intensität und Bedeutungstiefe von „The Beach“ zu erreichen. Leichte Lektüre für zwischendurch.

Taschenbuch: 176 Seiten
Originaltitel: Paratiisisaaren vangit
www.luebbe.de