John Brunner – Schnittstelle. Phantastischer Roman

Im Provinzkaff ist der Teufel los – oder was anderes?_
In den Provinzstädtchen Weyharrow ist der Teufel los – buchstäblich, wie manche meinen. Die Menschen sind von ungehemmter Aggressivität und begehen Gewalttaten. Selbstmorde und Forderungen nach Todesstrafe sind an der Tagesordnung. Reporter der nationalen Presse schnüffeln schon bald nach dem Grund dieses seltsamen Verhaltens, auch Hippies und Neoheiden lassen sich im Ort unweit von Stonehenge nieder.

Dr. Steven Gloze, ein junger Arzt, und Jenny Severance, eine Lokalreporterin, glauben, dass hinter den Ereignissen nichts Übernatürliches steckt, wie manche gern glauben möchten, sondern ein merkwürdiger Nebel, der einige Nächte vorher über dem Fluss lag. Könnte dieser Nebel die Ursache für die Verhaltensstörungen sein?

Der Autor

John Kilian Houston Brunner wurde 1934 in Südengland geboren und am Cheltenham College erzogen. Dort interessierte er sich schon früh „brennend“ für Science-Fiction, wie er in seiner Selbstdarstellung „The Development of a Science Fiction Writer“ schreibt. Schon am College, mit 17, verfasste er seinen ersten SF-Roman, eine Abenteuergeschichte, „die heute glücklicherweise vergessen ist“, wie er sagte.

Nach der Ableistung seines Militärdienstes bei der Royal Air Force, der ihn zu einer pazifistisch-antimilitaristischen Grundhaltung bewog, nahm er verschiedene Arbeiten an, um sich „über Wasser zu halten“, wie man so sagt. Darunter war auch eine Stelle in einem Verlag. Schon bald schien sich seine Absicht, Schriftsteller zu werden, zu verwirklichen. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in bekannten SF-Magazinen der USA und verkaufte 1958 dort seinen ersten Roman, war aber von der geringen Bezahlung auf diesem Gebiet enttäuscht. Bald erkannte er, dass sich nur Geschichten sicher und lukrativ verkaufen ließen, die vor Abenteuern, Klischees und Heldenbildern nur so strotzten.

Diese nach dem Verlag „Ace Doubles“ genannten Billigromane, in erster Linie „Space Operas“ im Stil der vierziger Jahre, sah Brunner nicht gerne erwähnt. Dennoch stand er zu dieser Art und Weise, sein Geld verdient zu haben, verhalf ihm doch die schriftstellerische Massenproduktion zu einer handwerklichen Fertigkeit auf vielen Gebieten des Schreibens, die er nicht mehr missen wollte.

Brunner veröffentlichte „The Whole Man“ 1958/59 im SF-Magazin „Science Fantasy“. Es war der erste Roman, das Brunners Image als kompetenter Verfasser von Space Operas und Agentenromanen ablöste – der Outer Space wird hier durch Inner Space ersetzt, die konventionelle Erzählweise durch auch typographisch deutlich innovativeres Erzählen von einem subjektiven Standpunkt aus.

Fortan machte Brunner durch menschliche und sozialpolitische Anliegen von sich reden, was 1968 in dem ehrgeizigen Weltpanorama „Morgenwelt“ gipfelte, der die komplexe Welt des Jahres 2010 literarisch mit Hilfe der Darstellungstechnik des Mediums Film porträtierte. Er bediente sich der Technik von John Dos Passos in dessen Amerika-Trilogie. Das hat ihm von SF-Herausgeber und -Autor James Gunn den Vorwurf den Beinahe-Plagiats eingetragen.

Es dauerte zwei Jahre, bis 1969 ein weiterer großer sozialkritischer SF-Roman erscheinen konnte: „The Jagged Orbit“ (deutsch 1982 unter dem Titel „Das Gottschalk-Komplott“ bei Moewig und 1993 in einer überarbeiteten Übersetzung auch bei Heyne erschienen). Bildeten in „Stand On Zanzibar“ die Folgen der Überbevölkerung wie etwa Eugenik-Gesetze und weitverbreitete Aggression das handlungsbestimmende Problem, so ist die thematische Basis von „The Jagged Orbit“ die Übermacht der Medien und Großkonzerne sowie psychologische Konflikte, die sich in Rassenhass und vor allem in Paranoia äußern. Die Lektüre dieses Romans wäre heute dringender als je zuvor zu empfehlen.

Diesen Erfolg bei der Kritik konnte er 1972 mit dem schockierenden Buch „Schafe blicken auf“ wiederholen. Allerdings fanden es die US-Leser nicht so witzig, dass Brunner darin die Vereinigten Staaten abbrennen ließ und boykottierten ihn quasi – was sich verheerend auf seine Finanzlage auswirkte. Gezwungenermaßen kehrte Brunner wieder zu gehobener Massenware zurück.

Nach dem Tod seiner Frau Marjorie 1986 kam Brunner nicht wieder so recht auf die Beine, da ihm in ihr eine große Stütze fehlte. Er heiratete zwar noch eine junge Chinesin und veröffentlichte den satirischen Roman „Muddle Earth“ (der von Heyne als „Chaos Erde“ veröffentlicht wurde), doch zur Fertigstellung seines letzten großen Romanprojekts ist es nicht mehr gekommen Er starb 1995 auf einem Science-Fiction-Kongress, vielleicht an dem besten für ihn vorstellbaren Ort.

Handlung

Das West Country von England ist nicht bekannt für Sensationen, und so beginnt dieser seltsame Freitag im Provinzkaff Weyharrow Goodsir recht unspektakulär. Das soll sich rasch ändern. Der Dorfchronist verspürt einen kreativen Schub und schreibt einen anspielungsreichen Artikel über die Geschichte seines Dorfes, wonach bereits im Namen die Rede von Teufeln und Heiden die Rede sei. Doch als er abspeichern will, meldet ihm die Maschine: „Text erfolgreich getilgt“!

Ausrutscher?

Simon, der Gemeindegärtner, bereitet das Frühstück für die Kinder seiner neuen Freundin Sheila zu: die kleine Hilary und der Junge Sam. Da kommt ihm in den Sinn, dass es gestern noch zwei Jungs gewesen sein könnten, oder? Steve ist sich nicht sicher. Das Cannabis, das er heimlich zieht, ist ein ganz schön starkes Kraut, wow!

Reverend Patrick Phibson begrüßt seine sieben Kopf starke Kirchengemeinde zum morgendlichen Gottesdienst mit der Aufforderung, sie mögen alle einander küssen. Als sich Entsetzen auf den Gesichtern seiner Schäflein ausbreitet, legt er noch einen drauf. Die Bekenntnis, selbst ebenfalls einen Unterleib zu besitzen, löst denn doch Abscheu aus.

Wenig später berichtet ein Bauer seiner stutzenden Frau, wie er seine Viehherde in das Rübenfeld seines Nachbarn getrieben habe. Und dem Hund, der ihn davon abhalten wollte, habe er eine verpasst. Ha! Seine Frau zweifelt an seinem Verstand: Die Nachbarn besitzen und wirtschaften das Rübenfeld seit vorigem Jahr. Was hat seine Viehherde da zu suchen? Und schon klingelt das Telefon. Der Bauer gerät ins Schwitzen und zweifelt an seinem Verstand.

Steven und der Teufel

Das passiert auch Dr. Steven Gloze, dem jungen Vertretungsarzt, der von eben jenem unglückseligen Bauern gleich einen Besuch wegen diverser Blessuren erhalten wird. Da ruft der Apotheker an, Mr. Ratch. Das Rezept eines frisch geschlachteten Huhns könne ja wohl nur ein geschmackloser Witz sein! Als Steve die empfohlene Behandlungsmethode für Arthritis nachschlägt, kann er sie in den Fachbüchern nirgends finden. Wie konnte ihm das Rezept mit dem Huhn bloß in den Sinn kommen, fragt er sich zweifelnd.

Doch als er den Pfarrer abends darauf anspricht, fängt dieser plötzlich an, etwas davon zu reden, dass Weyharrow, wie ja schon der heidnische Name implizieren, vom Bösen Feind, dem Teufel, besessen sei. Steven ist baff, versucht aber, Phibson zu beschwichtigen. Dieser wettert jedoch in seiner Abendpredigt, wie verlottert das Dorf sei, eine leichte Beute für den Widersacher …

Jennys Problem

Jenny Severance, Lokalreporterin beim „Chapminster Chronicle“, macht sich zitternd auf den Weg nach Weyharrow. Soeben ist sie um Haaresbreite einer beruflichen Katastrophe entgangen. In einem Anfall geistiger Umnachtung schrieb sie einen Artikel, demzufolge ein bisheriger Aktivist der Friedensbewegung auf einer Kundgebung zum Atomkrieg aufgerufen habe. Aber hallo! In letzter Sekunde vor Abgabe des Manuskript bemerkte sie ihren Irrtum – und der Chef bemerkte ihre Panik.

Jenny hat noch eine Chance, die Scharte auszuwetzen und begibt sich ins Gerichtsgebäude, wo der Gutsherr Sir Basil Goodsir – seine Familie ist im Dorfnamen verewigt – als Richter des Magistralgerichts über einen Fall von Schafdiebstahl zu entscheiden hat. Jenny traut ihren Ohren nicht, als der Richter plötzlich von seinem Sitz aufspringt und wettert, alle Schafdiebe gehörten am Galgen aufgehängt, wie es schon seit Jahrhunderten der Brauch sei. Es gebe ja nichts Schändlicheres als ein Schaf zu stehlen. Jenny glotzt wie gelähmt und verpennt es vor Unglauben, diesen aufsehenerregenden Vorfall ihrem Chef zu melden. Dafür bekommt sie einen gehörigen Anpfiff.

In ihrer Not will sie abends entweder den Arzt oder den Pfarrer sprechen. Dr. Steven Gloze läuft ihr zuerst über den Weg, warnt sie vorm Pfarrer und lädt sie zu einem Drink im Pub ein. Dort ereignet sich eine denkwürdige Szene, in dem die Frau des einen Bauern sowohl über ihren Mann Harry herzieht, als auch über Ken, Harrys Gegner mit dem Rübenacker, eine echte Show! Endlich hat Jenny nun eine tolle Story und hängt sich sofort ans Telefon. Inzwischen sind sich Polizei, Arzt, Pfarrer und jede Menge Bürger darin einig, dass es in Weyharrow nicht mehr mit rechten Dingen zugeht. Aber warum? Ist wirklich der Teufel los?

Der Augenblick der Wahrheit

Am Abend einer Gemeindeversammlung sprechen erst der Erzdiakon und dann Steven Gloze, um die Wogen zu glätten. Keine gute Idee, denn die Wahrheit muss ans Licht, fordern die Einwohner Weyharrows. Da steht einer der erfahrenen Journalisten auf und zückt sein Notizbuch, um daraus vorzulesen. Es war an jenem Mittwochabend, als sich das Verhängnis über das Dorf legte, vom Fluss aus. Und weil den Journalist, Don Prosher vom angesehenen „Sunday Globe“, auch mit dem Direktor des flussaufwärts gelegenen Pharmawerks gesprochen hat, kann er den Leuten nun mitteilen, welcher Kampfstoff sich im Nebel über dem Fluss ausgebreitet hat – ein Stoff, der die Grenze zwischen Traum und Erinnerung auflöst …

_Mein Eindruck_

John Brunner war ein vielseitiger Autor, der nicht nur Zukunftsromane schrieb, sondern auch Fantasy, Detektivkrimis und Gedichtbände, von seiner Friedensaktivistenprosa ganz zu schweigen. Von diesem Oeuvre ist bis heute meines Wissens nur die Phantastik bei uns veröffentlicht worden. Seine Essays muss man in der englischsprachigen Fachliteratur zusammensuchen. Dieses zweifelhafte Vergnügen hatte ich, als ich meine Magisterarbeit über ihn schrieb. Das war wohl anno 1986/87. Ich bekam eine Eins minus dafür, auch nicht schlecht.

Katastrophe mit Folgen

In „Schnittstelle“ geht es also im Grunde um einen Chemieunfall mit nachfolgender Verseuchung der Bevölkerung, etwa wie in Seveso und Bhopal, nur nicht so verheerend. Brunner war sicher nicht der erste SF-Autor der sich an diesem Thema versuchte (die Amis kamen ihm zuvor), aber es kommt eben darauf an, was man daraus macht. In diesem Roman krepieren keine Schafe, und tote Fische treiben den Fluss Chap auch nicht hinab. Tatsächlich gibt es keinerlei äußerlichen Anzeichen für einen Chemieunfall – wenn da nur nicht die rätselhaften Ausraster und Fehlleistungen in der Bevölkerung von Weyharrow wären.

Neuartige Ermittler

Dadurch wird die Geschichte zu einer Art psychologischem Rätsel, und die Detektive sind in diesem Fall nicht die Inspektoren, Bobbys und Kommissare, sondern ganz gewöhnliche Leute, nämlich ein Vertretungsarzt und eine Journalistin. Sie sind aber genauso wenig gegen die Auswirkungen des Giftgases gefeit wie die ortsansässigen Einwohner. Deren Problem ist das eines jedes Kaffs: Jeder kennt jeden und zerreißt sich das Maul darüber, sobald etwas ungewöhnlich ist. Und als Phyllis Knabbe ins Bett ihrer Untermieterin Moira steigt, ist das ein gefundenes Fressen: „Lesbierinnen in der Stadt des Satans!“ Man kann die Schlagzeilen förmlich in den Augen der Kneipenbesucher lesen.

Gesellschaftsporträt

Um aber die psychologischen Auswirkungen des Gases als etwas Ungewöhnliches bemerkbar zu machen, ist der Erzähler gezwungen, ein detailliertes Panorama der menschlichen Gesellschaft Weyharrows in all ihren Verästelungen darzustellen. Anders geht es nicht, will er nicht summarisch verurteilen und sich damit auf eine Stufe mit dem Pastor stellen, der von der Kanzel wettern darf. Nein, der Autor muss unparteiisch bleiben und es dem Leser überlassen, sich sein Urteil selbst zu bilden. Ist Weyharrow wirklich vom Teufel besessen? Die Antwort lautet ja, falls mit „Teufel“ die Regierung gemeint ist, die den Kampfstoff mit Steuergeldern herstellen, und die Chemiefabrik, die das Gas hat entweichen lassen.

Das facettenreiche Gesellschaftsporträt vom Lande erinnert an nichts so sehr wie an jene wunderbaren viktorianischen Romane, die hierzulande fast nur noch an den Unis gelesen werden. Wer liest heute noch Thomas Hardy, der „Tess of the d’Urbervilles“ schrieb, das Roman Polanski so trefflich verfilmte? Oder wer kennt heute noch Anthony Trollope mit seiner Saga oder gar George Eliot, eine couragierte britische Erzählerin, die in voluminösen Romanen wie „Middlemarch“ oder „Mill on the Floss“ die Rolle der Frau in ihrer Zeit untersuchte?

Zeitenwechsel

In „Schnittstelle“ treffen zwei Epochen aufeinander, nämlich die alte ständisch organisierte Vergangenheit des 19. Jahrhunderts und die moderne demokratische des 20. Jahrhunderts. Im Verlauf der Handlung wird das uralte Bündnis zwischen Pfarrei und Landjunker, die „Parish Manor Opera“, einem totalen Bankrott ihrer Werte zugeführt. Nur dieser Pfarrer, natürlich unter dem Einfluss des Kampfstoffs, kann vom Teufel als althergebrachten Erklärungsmuster faseln. Doch basil Goodsir, der Friedensrichter, ist nicht weniger schlimm, wenn er den Tod durch den Strang fordert. Beides sind Rückfälle ins finstere Mittelalter, in den diese Gesellschaftsordnung entstand.

Ironischerweise sind es gerade die konservativen Hippies der Neuzeit, vertreten durch Chris Pilgrim, die die vorchristlichen Werte wiedererwecken wollen, die sich aber als die wirklich fortschrittlichen Geister erweisen. Chris hält auf der denkwürdigen Gemeindeversammlung eine flammende Rede, mit der er den Einwohnern ins Gewissen redet. Er ist Brunners archetypischer „weiser Mann“ und posaunt die Wahrheit hinaus, die der Autor verkündet hören möchte. Allerdings ist Chris‘ Figur ironisch gebrochen, so dass es leicht fällt, ihn nicht ganz ernstzunehmen.

SF? Welche SF?

Da reibt sich der Leser die Augen, wenn er auf das Etikett blickt, das den Buchrücken ziert: „SF“ steht da drauf. Wo ist sie geblieben, die Zukunftsperspektive? Der Leser muss sich während der Ermittlungen gedulden, bis endlich ab Seite 240 die Wahrheit über die Vorfälle im Dorf ausposaunt wird. Denn es geht nicht um irgendeinen Kampfstoff wie etwa Senfgas oder Sarin, sondern um einen eigens vom Autor erfundenen namens „Oneirin“.

Heimtückisch

„Oneirin“, so die Erklärung im Buch, ist vom griechischen Wort für „Traum“ abgeleitet und löst nach dem Willen seiner perfiden militärischen Erfinder die Grenze zwischen Erinnerung und Traum auf. Folglich gelangen Wünsche aus dem Unterbewussten in den Bereich der Erinnerung und umgekehrt. Ungewöhnliches, als anstößig wahrgenommenes Verhalten ist die Folge. Am Schluss jedoch trifft die Einwohner selbst die Schuld: Sie setzen Chemie bedenkenlos auf ihren Äckern ein und scheren sich nicht darum, was sich an Chemie in ihren Nahrungsmitteln befindet. Auch hierbei legen die Neoheiden und Hippies um Chris ein ökologisches Bewusstsein an den Tag, das als Vorbild dienen kann – und das wir heute längst übernommen haben (*klopf auf Holz*).

Aber die Freisetzung von regierungseigenen Stoffen wie Oneirin sind natürlich nicht die Ausnahme, sondern die Regeln, suggeriert Brunner. Ganz am Rande ist die Rede von vergifteten Bächen in Cumbria und leukämiekranken Kinder rund um das Atomkraftwerk bzw. die Wiederaufbereitungsanlage Sellafield. Solche Dreckschleudern existieren noch massenhaft in Merry Old England – höchste Zeit, sich darum zu kümmern. Brunner erweist sich als erster Grüner seines Landes, der dies auch in seinen Büchern umsetzt.

Humor

Meist hält sich der Autor zurück in seinem Humor, indem er als Erzähler nur leiser Ironie voll Sympathie und Verständnis für die Figuren anklingen lässt. Die richtigen humoristischen Kracher lässt er seine Figuren bringen. Das passiert meist dann, wenn zwei der englischen Gesellschaftsklassen aufeinandertreffen. Ein typischer Fall ist auf Seite 127 zu finden, als Chris, der Hippie-Pilger, mit Cedric, dem Sohn und Alleinerben des Landjunkers Basil Goodsir, telefoniert.

Cedric fragt zaghaft: „Wer ist denn dort?“
„Shit, Mann, ich bin’s, Chris-der-Pilger! Du selber hast mir MEINEN Namen gegeben, Mann – und ich hab dich dafür meine Alte, die Rhoda, bumsen lassen!“
„Oh, wow“, sagte Cedric leise. Jetzt erinnerte er sich allmählich wieder …

Aber der Roman ist keine Klamaukshow. Humorstellen wie diese finden ihren Ausgleich durch den tragischen Selbstmord von Phyllis Knabbe und die ebenso traurige Erstarrung von Ursula Ellerford, die sie durch Autosuggestion herbeigeführt hat. Diese Autosuggestion, ausgelöst durch einen Panikanfall, ist wahrscheinlich ebenfalls durch das Kampfgas hervorgerufen worden.

Der Autor macht nur ein einziges, kleines Zugeständnis an die Konventionen des Happy Ends aus dem viktorianischen Roman, wie ihn Charles Dickens prägte. Einer der Söhne Ursula Ellerfords ist nicht von ihrem angetrauten und inzwischen verstorbenen Mann, sondern von Don Prosher, dem gereiften und erfahrenen Journalisten aus London. Er erinnert sich an eine Liebschaft in Hongkong. Diese Affäre, wenn auch nicht unmöglich, ist doch zu unwahrscheinlich, um sehr plausibel zu klingen. Sei’s drum, Hauptsache Happy End.

_Die Übersetzung_

Die Übersetzung hat mir diesmal außerordentlich gut gefallen. Im Unterschied zu dem anspruchslosen Hans Maeter und dem manchmal übergenauen Horst Pukallus ist Roland Fleissner in der Lage, den humorvollen Umgangston und Erzählstil des Originals in ein Deutsch zu übertragen, das sich echt und glaubwürdig anhört. Hier hört man geradezu, wie den Leuten in der englischen Provinz der Schnabel gewachsen ist. Dieser Ton gehört ganz wesentlich zum Eindruck, den die Geschichte auf den Leser machen soll, dazu. Und der Erzähler ist meist mit ein wenig Ironie zu vernehmen.

Da fallen die wenigen Fehler, die ich fand, kaum ins Gewicht. Es ist Fleisner nicht durchweg gelungen, die Namen von Bridge Hotel und dem Pub Hochzeit zu Kana konsistent zu halten, so dass mal das deutsche „Brückenhotel“, mal das englische Wort „Marriage“ gebraucht wird. Hauptsache, der Leser weiß, was jeweils gemeint ist.

Auf Seite 170 unterlief Fleissner der berüchtigte Standardfehler aller Übersetzer: Er verwechselte die Figuren. Statt Colin muss es an einer Stelle wohl Cedric heißen, sonst ergibt eine Erwiderung wenig Sinn. Auch der Korrektor scheint zugeschlagen zu haben und verlängerte ein Wort bis zur Sinnlosigkeit. So wurde auf Seite 247 aus dem Wort „krümmten“ die Verballhornung „kümmerten“, die überhaupt keinen Sinn ergibt.

Auf Seite 266 fehlt ein kleines Wörtchen in dem Satz: „Moira, ich weiß nicht, [was] soll ich sagen, es tut mir leid …“. Auf Seite 290 findet sich einer der allseits unbeliebten Buchstabendreher, so dass aus einer „Jeans“ eine „Jenas“ wurde. Auf Seite 293 schlug wohl der Zensor zu: “ …an einem Ort wie hier ereignen kann, am …Absatz der Welt“. Im Umgangsdeutsch würde man wohl „am Arsch der Welt“ sagen. Aber das geht natürlich nicht, oder?

_Unterm Strich_

Obwohl es herzlich wenig Action gibt und nur den Hauch einer Ermittlung, fesselte mich doch das fein verästelte Geflecht der Bevölkerung von Weyharrow, derart, dass ich den zweiten Teil des Romans an einem Abend verschlag. Ich wollte einfach wissen, worauf der Autor hinauswollte. Handelt es sich, wie der Pfarrer behauptet, um einen Fall von Teufelsbesessenheit in dem Provinzkaff oder gibt es, wie der Arzt glaubt, um eine rational-wissenschaftlich erklärbare Ursache?

Zwei Methoden, Weltanschauungen, Zeiten und Gesellschaftsordnungen treffen aufeinander, und daran macht der Autor eine Zeitenwende kenntlich. Seine Erzählmethode hat er Viktorianern wie Charles Dickens entliehen, ohne sich jedoch zu weitschweifigen Beschreibungen hinreißen zu lassen. Beruhigend wirkt auf mich, dass die skurril und suspekt wirkenden Ökofreaks, hier „Hippies“ genannt, heute die dominante Geisteshaltung der aufgeschlosseneren (= nichtkapitalistischen) westlichen Welt darstellen. Ist das nicht toll? (Man muss ja nicht gleich das Eheweib mit anderen teilen, wie Chris es mit Rhoda bei Cedric tat, siehe oben.)

Natürlich schlägt die Aussage in die gleiche Kerbe wie etwa G. Pausewangs Roman „Die Wolke“ oder jede andere Anklage eines Chemie- oder Atomkraft-Unfalls. Aber diesmal liegt der Fall etwas anders: Das fiktive Oneirin ist ein Kampfstoff, den die Regierung in Auftrag gegeben hat. Besonders perfide sind die psychologischen Folgen, die sogar an Philip K. Dicks Unterhöhlung der Realität erinnern: Wie zurechnungsfähig sind Menschen, wenn Traum und Erinnerung eins werden? Das ist eine reizvolle Vorstellung, und Brunner exerziert die Folgen mit allem gebotenem Ernst eines Realisten durch.

Taschenbuch: 303 Seiten
Originaltitel: The Shift Key (1987)
Aus dem Englischen von Roland Fleissner
ISBN-13: 978-3453039322
www.heyne.de