John Brunner – Von diesem Tage an. Erzählungen

Science-Fiction-Erzählungen: einfallsreich und bissig

Dieser Story-Band versammelt John Brunners Erzählungen aus der Zeit von 1955 bis 1972. Sie belegen seine Vielseitigkeit und seinen Einfallsreichtum in den Genres Science Fiction, Fantasy, Phantastik und Lyrik.
Die Anthologie eignet sich einerseits für Leser, die gute phantastische Erzählungen suchen, andererseits für Leser, die Science Fiction und John Brunner aus dem Effeff kennen und ihre Kenntnisse vertiefen wollen.

„Alle diese Geschichten handeln von Menschen – Individuen oder Gruppen-, die sich plötzlich mit der Zukunft konfrontiert sehen, die sie packt wie der Stahlbügel einer Falle… oder einen Weg vor ihnen aufzeigt, dem sie folgen, bis es zu spät ist, ihn zu verlassen… oder ihnen lediglich ein Leben entwirft, das von hoffnungsloser Resignation gefärbt ist. Die Zukunft lauert im Hinterhalt. Und wo befindet sich dieser Hinterhalt? Welche Frage! – In der Gegenwart. “ John Brunner (zit. nach Amazon.de)

Der Autor

John Kilian Houston Brunner wurde 1934 in Südengland geboren und am Cheltenham College erzogen. Dort interessierte er sich schon früh „brennend“ für Science Fiction, wie er in seiner Selbstdarstellung „The Development of a Science Fiction Writer“ schreibt. Schon am College, mit 17, verfasste er seinen ersten SF-Roman, eine Abenteuergeschichte, „die heute glücklicherweise vergessen ist“, wie er sagte.

Nach der Ableistung seines Militärdienstes bei der Royal Air Force, der ihn zu einer pazifistisch-antimilitaristischen Grundhaltung bewog, nahm er verschiedene Arbeiten an, um sich „über Wasser zu halten“, wie man so sagt. Darunter war auch eine Stelle in einem Verlag. Schon bald schien sich seine Absicht, Schriftsteller zu werden, zu verwirklichen. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in bekannten SF-Magazinen der USA und verkaufte 1958 dort seinen ersten Roman, war aber von der geringen Bezahlung auf diesem Gebiet enttäuscht. Bald erkannte er, daß sich nur Geschichten sicher und lukrativ verkaufen ließen, die vor Abenteuern, Klischees und Heldenbildern nur so strotzten.

Diese nach dem Verlag „Ace Doubles“ genannten Billigromane, in erster Linie „Space Operas“ im Stil der vierziger Jahre, sah Brunner nicht gerne erwähnt. Dennoch stand er zu dieser Art und Weise, sein Geld verdient zu haben, verhalf ihm doch die schriftstellerische Massenproduktion zu einer handwerklichen Fertigkeit auf vielen Gebieten des Schreibens, die er nicht mehr missen wollte.

Brunner veröffentlichte „The Whole Man“ 1958/59 im SF-Magazin „Science Fantasy“. Es war der erste Roman, das Brunners Image als kompetenter Verfasser von Space Operas und Agentenromanen ablöste – der Outer Space wird hier durch Inner Space ersetzt, die konventionelle Erzählweise durch auch typographisch deutlich innovativeres Erzählen von einem subjektiven Standpunkt aus.

Fortan machte Brunner durch menschliche und sozialpolitische Anliegen von sich reden, was 1968 in dem ehrgeizigen Weltpanorama „Morgenwelt“ („Stand On Zanzibar“) gipfelte, der die komplexe Welt des Jahres 2010 literarisch mit Hilfe der Darstellungstechnik des Mediums Film porträtierte. Er bediente sich der Technik von John Dos Passos in dessen Amerika-Trilogie. Das hat ihm von SF-Herausgeber und –Autor James Gunn den Vorwurf den Beinahe-Plagiats eingetragen.

Es dauerte zwei Jahre, bis 1969 ein weiterer großer sozialkritischer SF-Roman erscheinen konnte: „The Jagged Orbit“ (deutsch 1982 unter dem Titel „Das Gottschalk-Komplott“ bei Moewig und 1993 in einer überarbeiteten Übersetzung als „Ein irrer Orbit“ auch bei Heyne erschienen). Bildeten in „Morgenwelt“ die Folgen der Überbevölkerung wie etwa Eugenik-Gesetze und weitverbreitete Aggression das handlungsbestimmende Problem, so ist die thematische Basis von „The Jagged Orbit“ die Übermacht der Medien und Großkonzerne sowie psychologische Konflikte, die sich in Rassenhass und vor allem in Paranoia äußern. Die Lektüre dieses Romans wäre heute dringender als je zuvor anzuempfehlen.

Diesen Erfolg bei der Kritik konnte er 1972 mit dem schockierenden Buch „Schafe blicken auf“ wiederholen. Allerdings fanden es die US-Leser nicht so witzig, dass Brunner darin die Vereinigten Staaten abbrennen ließ und boykottierten ihn quasi – was sich verheerend auf seine Finanzlage auswirkte. Gezwungenermaßen kehrte Brunner wieder zu gehobener Massenware zurück.

Nach dem Tod seiner Frau Marjorie 1986 kam Brunner nicht wieder so recht auf die Beine, da ihm in ihr eine große Stütze fehlte. Er heiratete zwar noch eine junge Chinesin und veröffentlichte den satirischen Roman „Muddle Earth“ (der von Heyne als „Chaos Erde“ veröffentlicht wurde), doch zur Fertigstellung seines letzten großen Romanprojekts ist es nicht mehr gekommen. Er starb 1995 auf einem Science-Fiction-Kongress, vielleicht an dem besten für ihn vorstellbaren Ort.

Die Erzählungen

1) Das größte Wild (The biggest game, 1955)

Royston ist ein Gigolo, Witwentröster und wäre am liebsten ein Heiratsschwindler. Einsame Frauen findet er wie Sand am Meer, und er hat eine spezielle Technik ausgefeilt, um sie zu erbeuten. Meist gehören dazu Erzählungen von seinen „Heldentaten“ als Großwildjäger. Regelmäßig revanchieren sie sich für seine Aufmerksamkeiten mit Geschenken – und ihrer Gunst.

Doch in letzter Zeit fallen ihm die schwarzen Männer auf. Sie starren ihn an, als wäre er die Beute und nicht er der Jäger. Doch mit Mrs. Arnheim scheint er wieder lohnendes Wild gefunden zu haben. Alles klappt wie am Schnürchen – bis sich ein mann in Schwarz an den Nebentisch setzt und mechanisch zu essen beginnt. Noch störender findet Royston, dass auch Mrs. Arnheim dies tut.

Abends bei ihr muss er beunruhigt feststellen, dass diese Übereinstimmung keineswegs aein Zufall ist. Diesmal ist er die Beute, und seine eigene Jagdmethode wird gegen ihn verwendet. Doch die Jäger stammen nicht von dieser Welt…

Mein Eindruck

Der Autor dreht einfach den Spieß und wendet das Prinzip des Jägers, dem Royston folgt, auf ihn selbst an. Heute wären die „Men in Black“, als die sich die Aliens verkleiden, viel zu auffällig: Jeder würde sie für Regierungsagenten halten – oder Filmschauspieler, die vor einer versteckten Kamera agieren.

2) Das Leid, das ich sehe (The trouble I see, 1959)

Joe Munday hat die besondere Gabe, Ärger und Unheil voraussehen zu können. Während andere in ihr Unglück rennen, warnt ihn eine innere Stimme rechtzeitig davor. Aber er hat noch eine zweite Gabe: eine günstige Gelegenheit zu erkennen und sie zu ergreifen. Weil seine erste Gabe grünes Licht gibt, kommt er mit Diebstählen usw. ungeschoren davon. Er verliert jede Angst.

Auch sich das Vertrauen des todkranken Multimillionärs Samner zu erschleichen, erweist sich als nicht allzu schwierig, und dessen schnuckelige Tochter Julie gerät in Reichweite. Nach dessen Tod ist Joe fast Alleinerbe, nur Julie bekommt ihren Pflichtteil. Doch eines Tages erwacht Joe mit klappernden Zähnen. Etwas Schreckliches wird passieren, ahnt er. Doch was kann es sein?

Mein Eindruck

Diese Erzählung endet mit der ironischen Wendung, dass Joe zwar einen Kriegsausbruch vorherzusehen vermag, doch nicht seinen eigenen Tod. Das Allgemeine wird dem Privaten gegenübergestellt. Was nützt es, das große Ganze zu sehen, wenn man für die eigenen Unzulänglichkeiten blind ist, scheint der Autor zu fragen. Merke: Weltverbesserer sollten bei sich selbst anfangen.

3) Ein Elixier für den Imperator (An Elixir for the Emperor, 1964)

Metellus ist ein erfolgreicher römischer General, der sein Pfründe in Ost-Gallien erworben hat. Nach seinem Triumphzug veranstaltet er im Circus Maximus blutige Spiele. Doch der geliebte Imperator Cinatus begnadigt den für die germanischen Wölfe als Opfer ausgewählten Gotteslästerer Apodorius aus Nubien. Dieser Cinatus muss weg, denn er ist viel zu friedliebend, findet Metellus. Sein Berater Marcus Placidus pflichtet ihm bei und spinnt eine ausgeklügelte Intrige, die einen kranken Imperator, ein heilendes Elixier und einen bestochenen Lieblingssklaven beinhaltet.

Monate später ist der General Imperator anstelle des Imperators, und lässt den Gotteslästerer Apodorius erneut zu sich kommen, um ihn schließlich doch noch fertigmachen zu können. Doch Apodorius hat ein verjüngendes Elixier angefertigt, das dem Imperator Unsterblichkeit verleihen soll. Metellus ahnt den Anschlag und lässt Apodorius sein eigenes Elixier komplett schlucken. Dass der alte Nubier sofort bewusstlos zusammenbricht, wertet Metellus als Beweis, richtig gehandelt zu haben.

Doch Apodorius stirbt keineswegs. Vielmehr wirkt sein Elixier tatsächlich, er wird gesund, jünger und unsterblich. Und er hat noch eine Rechnung mit Metellus und Marcus offen…

Mein Eindruck

Der Autor legt in dieser ausgezeichneten und ausgefeilten Erzählung ein umfassendes und detailreiches Wissen über das alte Rom an den Tag, das man in sonstigen Brunner-Stories vergeblich sucht. Da ist genau von den verschiedenen militärischen und bürokratischen Rängen die Rede, die Gepflogenheiten im Circus sind ebenso korrekt wiedergegeben wie der Umgang mit Sklaven und Rivalen.

Zwar spielt die Geschichte in einer erfundenen Epoche der Kaiserzeit, so dass der spannende Bürgerkrieg zwischen Julius Caesar und Pompeius längst der Vergangenheit angehört, doch dafür umfasst das Imperium Romanum viel mehr interessante Völker. So etwa den Nubier Apodorius, über den man doch etwas mehr erfahren hätte. Ist er ein koptischer Christ? Das wird nur angedeutet, als er verneint, der Imperator sei ein Gott. Dennoch funktioniert die ironische Geschichte um das Elixier ausgezeichnet.

4) Verschwendet für die Jungen (Wasted on the Young, 1965)

Hal Page hat die 30 Jahre Zeitkredit, die ihm die moderne Gesellschaft als Zeitkredit zugestand, um mehr als zwei Jahre überzogen und statt der geforderten Erwachsenenarbeit lieber den Vergnügungen des Jungseins gefrönt. Jetzt hat er die Benachrichtigung erhalten, dass seine Zeit am nächsten Tag ablaufe. Doch sein Abgang soll nicht mit einem Wimmern erfolgen, schwört er sich als Berufsjugendlicher, sondern mit Glanz und Gloria.

Doch bevor die exklusive Party und Massenorgie losgehen kann, klopft ein schwarz gekleideter Professor an seine Tür. Dobson mahnt ihn eindringlich, von seinem Irrweg abzulassen. Und ja, er kennt die Page zugeschickte Benachrichtigung. Dobson verteidigt die Gründe der Gesellschaft, den Zeitschuldner zur Rechenschaft zu ziehen. Der Partywütige wirft ihn mehr oder weniger hinaus.

Die Party wird ein voller Erfolg, und Hal Page vögelt drei Mädels durch, bevor er sich ins Badezimmer schleppen muss. Sie werden ihn nicht kriegen, schwört er sich, und hat bereits seinen Schweber darauf programmiert, aus 10.000 Metern Höhe aufs Meer zu stürzen. Da wird ihm schwarz vor Augen. Er erwacht in einem Operationsraum, und Dobson erklärt ihm, was mit ihm los ist. Demzufolge wird Page 300 Jahre lang als Kundschafter zum Stern Rigel und zurück fliegen. Aber ohne seinen überflüssigen Körper…

Mein Eindruck

Unter Berufung auf George Bernard Shaw wendet der Autor das Schuldprinzip gnadenlos an, wonach die Jugend dem Alter Leistung schuldet, während das Alter der Jugend Weisheit zukommen lassen muss. Diesen Generationenvertrag hat Page nicht nur missachtet, sondern mit Füßen getreten. Die Strafe folgt auf dem Fuß, allerdings auf radikale Weise: Als wäre er ein Rädchen in einem kommunistischen System, wird er zwangsverpflichtet, seine Zeit abzuleisten.

Abgesehen von den langen und langweiligen Dialogen ist das Problem dieser Erzählung, dass die Zeitberechnung der Gesellschaft nicht genau dargelegt wird. Dobson drückt sich m.E. nicht klar genug aus. Diese Zeitberechnung ist nicht das Zeitkonto, das etwa im SF-Film „In time“ mit Justin Timberlake die Grundlage des Plots bildet.

5) Gleiche Chance (Even Chance, 1965)

Das Hochland von Burma war im 2. Weltkrieg Schauplatz von schweren Gefechten zwischen den nach Indien vorrückenden Japanern und den verteidigenden Briten (plus Hilfstruppen aus allen Ländern des British Commonwealth). Im Hochland lebt der Stamm der Kalang. Als ein Flugzeug der Briten abstürzt, retten sich Pilot und Navigator per Fallschirm. Aufgrund dieser Ankunftsweise lässt der kalang-Häuptling die Fremden ehren. Als der Suchtrupp sie noch am Leben findet, ehrt er die Kalang mit wertvollen Geschenken, darunter Stahl.

Zwei Generationen vergehen. Weil er ebensolche Geschenke für seinen hungernden Stamm erhofft, begibt sich der junge Tambah in die Außenwelt. Das Metallstück, das er ihnen bringt, soll belohnt werden. Doch als er auf die Lichtung wankt, bricht er zusammen. Jan Bailey, der als einziger der WHO-Impfexpedition im Lager geblieben ist, fällt der blutende Mund des jungen Wilden auf. Dann fällt diesem auch büschelweise Haar aus. Ein finsterer Verdacht findet seine Bestätigung, als Jan den Geigerzähler einsetzt: Das Ding dreht fast durch, so verseucht der Junge. Und sein Stück Metall erst recht.

Die Spekulationen über eine abgestürzte Atomrakete finden ihr erschreckendes Ende, als endlich ein Offizier der burmesischen Luftwaffe mit einem Helikoptergeschwader eintrifft. Was junge Wilde erzählt hat, stimmt tatsächlich: Ein Pilot ist mit seinem Fluggerät abgestürzt. Nur dass letzteres radioaktiv und von Kanonen zerfetzt war und der Pilot keineswegs ein Mensch war…

Mein Eindruck

Der britische SF-Autor Brian W. Aldiss erzählte von diesen Weltkriegsschlachten um Mandalay, an denen er selbst teilnehmen musste. Brunner greift das Szenario auf, wendet es aber in einer möglichen Zukunft gegen die Erde selbst: Im Weltraum über Erde tobt eine Raumschlacht zwischen Aliens, und da kann es schon mal zu Abstürzen kommen.

Die Pointe des Textes besteht darin, dass der Anfang wiederholt zu werden scheint. Doch diesmal wird das gastfreundliche Verhalten der Eingeborenen bestraft – wegen Kollaboration mit dem Feind… Wieder wird wie in „Das größte Wild“ der Mensch aus dem Zentrum des Universums herausgeworfen, denn nun sind die Aliens eingetroffen und geben ihm seine eigene Kost zu schmecken.

6) Auf dem Planeten (Planetfall, 1965, erschienen in ANALOG)

Am Raumflughafen vor den Toren ihrer Stadt trifft die 18 Jahre junge Lucy den gleichaltrigen Valeryk. Schmuck sieht er aus in seinem Raumanzug, findet sie, denn Valeryk lebt eigentlich in einer Stadt im Himmel, in einer großen Raumstation. Dort starten die Schiffe in die Weiten des Weltalls. Das kommt Lucy sehr romantisch vor. Valeryks Worte jedoch kurieren sie von jeder Romantik.

Alles sei dort, ob, wo er geboren wurde, reglementiert und begrenzt, selbst die Atemluft. Schon im Alter von fünf Jahren wurde er dazu bestimmt, einmal als Ökologe zu arbeiten. Er hatte im Gegensatz zur immer noch den Sinn des Lebens suchenden Lucy nie die Wahl. Sie hingegen beneidet ihn um das Wissen seiner Bestimmung.

Nach einer Weile gehen sie in die Stadt, gehen essen und trinnken, beobachten eine Prügelei, bis die Polizei kommt – und gehen wieder zurück zur Parkbank, um sich voneinander zu verabschieden. Werden sie einander wiedersehen, fragt sich Lucy insgeheim und würde Valeryk, mit dem sie fast den ganzen Tag verbracht hat, am liebsten in die Arme nehmen. Doch der sieht das nicht so. Ein Bussi auf die Wange und weg isser.

Mein Eindruck

Der Leser von 1965, der sein ANALOG-Magazin für naturwissenschaftlich orientierte Science-Fiction aufschlug, muss wohl sich wohl über diese Erzählung eines Briten sehr gewundert haben. Wo er nämlich die zehnmillionste Geschichte von der Erkundung, wenn nicht sogar Eroberung eines fremden Planeten erwartet hat, findet er das genaue Gegenteil: nämlich die Landung eines Menschen auf einer Erde, die dem Leser äußerst vertraut vorkommen dürfte. Und noch dazu das alte Klischee einer „Boy meets girl“-Story als Handlungsgrundlage! Das schlägt dem Fass die Krone ins Gesicht.

Und doch ist Brunners Erzählung eine vollgültige SF-Story. Nur folgt er neuen Regeln. Die erste lautet, frei nach J.G. Ballard: „Earth is the alien planet“ (siehe meinen Bericht über Ballards Sammelband „Zeit endet“). Die zweite Regel lautet: Nicht mehr Naturwissenschaft ist gefragt (die ist in der SF seit den fünfziger Jahren eh ausgelutscht), sondern die weichen Wissenschaften Psychologie, Soziologie und sogar – ganz was Neues! – Ökologie.

Auch wenn der Text vor allem aus einem an Platon gemahnenden sokratischen Dialog besteht, so entsteht daraus doch das Bild einer zukünftigen zwiegespaltenen Gesellschaft: die Erdbewohner da unten und die Himnelsbewohner in ihrer Raumstation. Als beide zusammenkommen, herrscht erst einmal Unverständnis und Dissens, doch nach einer Weile des Gedanken- und Meinungsaustauschs könnte sich Lucy sogar vorstellen, im Himmel zu wohnen.

Valeryk hingegen lobt den Arten- und Farbenreichtum der Parkumgebung, die Lucy völlig banal vorkommt, und findet alles irdische fremdartig und gewöhnungsbedürftig. Genau an diesem Punkt wird die Story zur Science-Fiction und verhilft dem Leser auf unerwartete Weise zur Erkenntnis, was es bedeuten könnte, wenn Menschen künftig nicht mehr auf der Erde, sondern im Weltraum aufwachsen und leben. Doch unsere „zwei Königskinder“ können niemals zueinander kommen, denn, wie es im Lied heißt, „das Wasser war viel zu tief“.

7) Judas (Judas, 1967)

Wieder einmal wird ein Gottesdienst abgehalten und der Stahl Gottes gepriesen. Nur ein Mann singt nicht mit. Vielmehr hat Karimov anderes im Sinn, als er mit einem der Messdiener in die Sakristei geht. Den dort wartenden Priester schlägt er einfach K.O. und dringt ins Allerheiligste vor, zum Gott selbst. Der erkennt ihn sofort: Karimov ist einer seiner Erbauer.

Denn Gott ist ein ins Riesenhafte und Göttliche erhobener Roboter, ein Android – eine Blasphemie, die beseitigt werden muss. Der Besucher Karimov zieht eine Laserpistole und brennt ein Loch in die Seite des Roboters, bevor ihn Messdiener überwältigen können. Doch richtet sich der stählerne Gott wieder auf – genau wie es geschrieben steht, wird er am dritten Tag wiederkehren. Doch den Judas erwartet ein anderes Schicksal…

Mein Eindruck

Dieser Erzählung aus Harlans Ellisons berühmter Anthologie „Dangerous Visions“ (1967) gehört zu jenen religionskritischen Texten, für die besonders europäische SF-Autoren bekannt waren (nicht nur britische). Sie steht gleichberechtigt neben „Die Häresien des riesigen Gottes“ von Brian W. Aldiss (1966, dt. in „Titan-23“, 1985).

Die besondere Ironie der Handlung besteht nicht darin, dass der Gott von Menschen geschaffen wurde, dies aber inzwischen in Vergessenheit geraten ist. Nein, vielmehr ist es gerade Judas und sein Anschlag, der den Mythos des Gottes – die Prophezeiung – erfüllt, indem er diesen nach drei Tagen wiederauferstehen lässt. So sieht die bitterste Niederlage für den Bilderstürmer aus. Fazit: Der vom Menschen geschaffene Mythos ist stärker als er selbst und wird ihn überleben.

Karimov ist mühelos als eine Umschreibung von „Asimov“ zu erkennen. Und Asimov war bekanntlich einer der wichtigsten (keineswegs der erste!) Autoren, die über Roboter schrieben. Nun wird Asimovs Euphorie ad absurdum geführt – und doch darf der Roboter fortbestehen, als Jesus-Inkarnation. Und das wiederum ist ketzerisch.

8) Die Vitanulen (The Vitanuls, 1964)

An seinem letzten Arbeitstag bemerkt der 83-jährige Kinderarzt Dr. Kotiwala beim letzten Baby, das er in der indischen Klinik zur Welt bringt, etwas Merkwürdiges. Doch weder er noch sein Kollege noch der Mr. Chance, der Experte von der Weltgesundheitsorganisation WHO können herausfinden, was es ist, das dem Baby fehlt. Körperlich ist alles in Ordnung. Also macht Dr. Kotiwala Feierabend und begibt sich auf eine neue Existenzebene – als Sannyasin, als Erleuchteter, zieht er über die Dörfer, um den Ärmsten in medizinischen Belangen zu helfen.

Zwei Jahre später landet Mr. Chance von der WHO per Helikopter in dem Bergdorf, wo sich der ehemalige Dr. Kotiwala gerade befindet. Er ist erfüllt von Wut und Panik: 80 Prozent aller Neugeborenen kommen als „Vitanulen“ zur Welt! Sie sind von Geburt an schwachsinnig! Was meint Dr. Kotiwala dazu? Der hat zumindest einen Verdacht: Den Gehirnen der Babys fehlen die Alpha- und Thetawellen? Chance bestätigt. Ihnen fehlt es also nicht an Verstand, sondern an Seele. Das erklärt Chance für Aberglauben.

Als Dr. Kotiwala hakt nach: Hat nicht das vor zwei Jahren freigegebene Medikament gegen Senilität, die sogenannte Anti-Tod-Arznei, zu einem erheblichen Rückgang der Sterberate geführt. Mr. Chance bestätigt. Aber was hat das mit den Babys zu tun? Alles, entgegnet Dr. Kotiwala und wird daraufhin sehr indisch: Die Zahl der auf der Erde existierenden Menschen habe erstmals die Zahl aller jemals zuvor gelebt habenden Menschen überschritten. Folglich standen und stehen keine Seelen mehr zur Verfügung, die auf die neuen Menschen übergehen können.

Mr. Chance gerät in noch mehr Wut: Seelen in einem Lagerhaus, auf gefälligen Abruf! Der Sannyasin lässt ihn in seiner westlich denkenden Frustration stehen. Er weiß, was er nun zu tun hat: Sterben gehen, um seine Seele freizusetzen – auf den Gipfeln der Berge, die ihn zu sich rufen…

Mein Eindruck

Diese nur teilweise ernstzunehmende Geschichte verleiht der Angst vor der Bevölkerungsexplosion, die spätestens 1967 aufkam, einen neuen Dreh. Was würde passieren, wenn im 21. Jahrhundert, in dem die Handlung spielt, der Tod endgültig besiegt werden könnte? Wäre das gut für die Erde, würde so mancher Autor fragen und die Antwort schon wissen. Brunner fragt jedoch: Wäre das gut für die Menschen, die noch geboren werden wollen und sollen? Und da sieht es dann ganz anders aus.

Die Vitanulen, deren Name sich von „vita = Leben“ und „nullus = kein“ ableitet, sind eine Metapher. Sie stehen für geistiges Leben, das seiner Grundlage beraubt worden ist. Darüber, worin diese Grundlage besteht, lässt sich streiten. Dr. Kotiwala nennt den Seelenvorrat als Faktor, westliche Menschen könnten eher den Vorrat an intelligenzfördernden Nährstoffen und an Bildungseinrichtungen nennen – was aufs Gleiche hinausläuft. In jedem Fall ist dies eine makaber und ironisch anmutende Warnung an die Generationen, nicht auf Kosten künftiger Generationen zu wirtschaften.

9) Datenblatt Sechs (Factsheet Six, 1968)

Mervyn Grey von Grey Enterprises ist ein britischer Senkrechtstarter in der Wirtschaftswelt. Seine Methode ist einfach: Warum teuer und sicher produzieren, wenn es doch auch billig geht, solange der Verbraucher das Risiko trägt? Als ihm sein karibischer Statthalter Casson, ein Mann vom alten Schlag, berichtet, dass ein merkwürdiges „Datenblatt“ aufgetaucht sei, dessen Verbraucherwarnungen die Aktien der Konkurrenz ins Bodenlose fallen ließen, wird Grey hellhörig.

Er selbst hat von diesem „Datenblatt Fünf“ allerdings nichts zu befürchten, wie es scheint. Aber was wäre es doch für ein toller Marketing-Coup, wenn man den realen Urheber dieser Datenblätter ausfindig machen und für die eigenen Zwecke einspannen könnte! Also gibt er in verschiedenen Blättern wie der „Financial Times“ Anzeigen auf. Eine Antwort erfolgt umgehend. Der Einladung folgend düst Mervyn Grey mit seinem Superschlitten los – bis er mitten in der tiefsten englischen Pampa landet. In dem Kaff muss er bis zur letzten Sackgasse und dem letzten Haus fahren, bevor er die Adresse ausfindig gemacht hat. Ihm öffnet ein Rollstuhlfahrer. „George Handling?“ Genau der.

George ist Opfer eines Unfalls geworden, der von einem defekten Grey-Reifen verursacht wurde. Da fuhr er seine Frau zum Krankenhaus, die von einem weiteren Grey-Produkt verletzt worden war. Nun schreibt George gerade an „Datenblatt Sechs“, und dreimal darf man raten, wen er diesmal aufs Korn genommen hat. Doch George verfügt über eine nahezu hellseherische Fähigkeit, die seine Recherchefähigkeiten ergänzt. Er hat seinen Tod vorausgesehen – den Tod, den Mervyn Grey ihm nun bereitet – und Vorkehrungen getroffen, die Greys Wirtschaftsimperium den Garaus bereiten werden…

Mein Eindruck

Der Verbraucher schlägt zurück – so ließe sich die Pointe der Geschichte auf einen kurzen Nenner bringen. Die Geschichte entstand in jener Zeit, als Brunner hyper-realistische Romane wie „Morgenwelt“ und „Das Gottschalk-Komplott / Ein irrer Orbit“ veröffentlichte und diese Reihe 1972 mit „Schafe blicken auf“ abschloss. Diese Dytopien brachten ihm dauerhafte Wirkung ein (siehe oben), denn sie rüttelten seine Leser wach. Vielleicht wollte er auch neue Leserkreise erschließen.

Wesentlich lustiger als diese Romane sind seine Satiren in „Der galaktische Verbaucherservice“ (siehe meinen Bericht) – in die Geschichte von George Handling passt genau hinein. Es ist, als hätte man einem Report der „Stiftung Warentest“ einen makabren Science-Fiction-Touch verliehen und diese Idee bis zur letzten Konsequenz durchgespielt. Bis zuletzt ahnt der Leser nicht, was auf ihn zukommt, denn wir verfolgen das Geschehen aus dem Blickwinkel Mervyn Greys. Und so bleibt die Spannung bis zum Schluss erhalten.

10) Das fünfte Gebot (Fifth Commandment, 1970)

„Ich bin nicht alt“, behauptet Philip Grumman. Doch dieser Satz stellt sich zunehmend als im Widerspruch zu den Tatsachen stehend heraus. Grumman lebt in einer Reservat für alte Menschen, das nach einem verheerenden Krieg in Kanada eingerichtet worden ist. Der idyllische See dient als Tummelplatz für ältere Paaren und Einzelgänger. Doch warum, so fragt sich Grumman nach einer „Anregung“, hat kein einziges Mitglied dieses exklusiven Klubs auch nur ein einziges Kind?

Nur seinem Doktor erzählt Grumman von seinen Sorgen. Und ihn befällt die Neugier, sich mal jenseits des begrenzten Talkessels dieses schönen See-Reservats umzusehen. Doch oben auf dem Hügelkamm hat er einen Blick auf etwas, das er nicht erwartet hat: einen Raumhafen. Jetzt kann er gut ein paar Erklärungen gebrauchen.

Mein Eindruck

Dies ist eine Selbstentdeckungsgeschichte, wie sie für Brunner typisch ist. Wie viele von Brunners Figuren hegt die Hauptfigur eine liebgewordene Illusion: nicht alt, kerngesund, gerecht und gütig usw. Doch die Wirklichkeit sieht nach den ebenfalls typischen langen Dialogen bald ganz anders aus. Grumman lebt in einem Reservat für die Alten. Doch wo sind die Jungen? Sind überhaupt noch welche übrig? Die Geschichte nimmt zum Schluss eine unerwartet positive Wendung.

Das fünfte Gebot bezieht – gemäß der Zählung der Anglikaner – auf folgende Anweisung: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.“ (Wikipedia) Wie sich im Lauf der Geschichte herausstellt, stimmt fast nichts davon so, wie es sich ollen Israeliten einst (vgl. Exodus, Deuteronomium) ausdachten.

11) Im Land der Piskies (Fairy Tale, 1970)

Der Ich-Erzähler schreibt an seinen Freund, einen Atomphysiker an der Universität von Cambridge, dass er vor sieben Jahren, also 1964, beim Zelten im einsamen Dartmoor das verborgene Volk der Piskies kennengelernt habe. Erst sieben Jahre und drei Monate später sei er wieder aus deren Land zurückgekehrt. Ein klassischer Fall von Rip Van Winkle also? Nicht ganz.

Ein Pisky sei von einer Schale Milch, die er vors Zelt gestellt hatte, betrunken geworden. Ein zweiter Pisky sei aufgetaucht, um den Erdling über sein frevelhaftes Tun aufzuklären und seinem Volksgenossen zu helfen. Dieser zweite Pisky beherrsche die englische Sprache ausgezeichnet und kenne sogar Wörter wie „atrophiert“. Diese Bezeichnung traf nämlich auf seine durchsichtigen Flügel zu. Die insektenähnlichen Piskies können nämlich nicht mehr fliegen, doch reagieren sie allergisch gegen Rost – und nicht etwa auf Eisen, wie es die Legende behauptet.

Piskies habe es bereits vor dem Erscheinen des Menschen in Britannien gegeben – ungefähr seit 30 bis 40 Millionen Jahren. Barnaby Gregg, der Erzähler, ist geschockt. Das lässt den homo sapiens in ganz anderem Licht erscheinen. Der erste Pisky ist von seiner Betrunkenheit durch die Erste Hilfe seines Kollegen wieder geheilt und trollt sich – nach einer Unterhaltung im Ultraschallbereich.

Nun jedoch enthüllt Toby, wie Barnaby seinen klugen Gesprächspartner nennt, eine erstaunliche Entdeckung: dass nämlich die Sterne und Planeten Informationen aussenden und ein Eigenleben besitzen! Selbst die Erde verspüre Eifersucht auf die anderen, größeren Planeten und wolle ihnen zeigen, wer die größte Sternenexplosion zustandebringe – sie bereite sich durch Ansammeln von spaltbarem Material in der Kruste darauf vor, sich selbst in die Luft zu sprengen…

Mein Eindruck

Natürlich ist die FORM dieses als „Märchen“ deklarierten Textes die einer „tall story“, wie sie Angelsachsen seit jeher so lieben, ganz besonders die Amerikaner. Immerhin gibt es jedoch jede Menge Legenden und Sagen über Leute, die Jahre im „Feenreich“ verbracht haben wollen – und dies nicht erst seit Tolkien, sondern bereits im Mittelalter, so etwa in der Ballade über Thomas, den Reimer.

Die AUSSAGE hingegen ist völlig modern. Die Piskies, so hobbitmäßig sie auch anmuten mögen, stammen nicht von unserer Welt und sie werden sie auch schnleunigst wieder verlassen. Dennoch werden sie von den Menschen gesehen, missverstanden und sogar ausgebeutet, wie es eben bei jedem unterjochten Volk seit jeher gemacht wird.

Soweit die Aliens. Ihre BOTSCHAFT belegt jedoch ebenfalls eine moderne Sorge, nämlich die vor der nuklearen Selbstvernichtung des Menschen. An dieser Stelle trifft sich Brunner mit seiner Kollegie Alice Sheldon, die unter dem nom de plume „James Tiptree jr.“ die Erde sich unzählige Male selbst vernichten ließ.

Beide Aussagen sind trotz des nicht ganz ernstgemeinten Hintergrundes absolut ernstzunehmende Warnungen des Autors an seine Leserschaft. Und seine Sorge kommt von Herzen.

12) Der Beginn der Epoche von Mrs. Bedonebyasyoudid (The Inception of the Epoch of Mrs. Bedonebyasyoudid, 1971)

Es ist ein kalter Januarmorgen in New York City, als drei Anschläge passieren. Die von den Viet Cong verübten Anschläge richten sich gegen reiche Bankangestellte, gegen Waffenlieferanten, aber auch gegen die Zivilbevölkerung. Die Folgen bestehen nicht nur in zahlreichen unschuldigen Opfern, sondern auch in dem Ausrücken der US-Armee gegen die unsichtbare Gefahr in den Straßen der Stadt. Der Ausnahmezustand kann nicht weit entfernt sein. Der Zweck ist erreicht.

Mein Eindruck

Diese Geschichte wurde nicht etwa 1994 geschrieben, als der erste Anschlag auf das World Trade Center verübt wurde, sondern fast ein Vierteljahrhundert davor. Jede Vorbereitung eines Anschlags wird minutiös geschildert, auch die Probleme und unvorhergesehenen Hindernisse.

Vor allem aber geht es um die Motive der nordvietnamesischen Täter, die nunmehr zurückschlagen. Sie üben Vergeltung für das, was die Vereinigten Staaten ihnen und ihrem Land im Verlauf des Vietnamkrieges (1965 bis 1973) angetan haben. In dieser Hinsicht wird deutlich, dass sich die Motivationen von Terroristen seitdem nicht geändert haben. Es sind Vergeltungsmaßnahmen in einem asymmetrischen Kampf.

Dieser findet nicht unter bezahlten Kämpfern, also Soldaten, statt, sondern zwischen Kämpfern, die Schrecken unter der Zivilbevölkerung verbreiten. Im vorliegenden Fall richtet sich die Vergeltung auch gegen Nutznießer des Vietnamkrieges. Das ist ein Bonus, der sich heutigen Anschlägen nur noch selten findet.

13) Der älteste Spiegel (The Oldest Glass, 1972)

Dass der älteste Spiegel keineswegs aus ägyptischer Bronze oder venezianischem Spiegelglas gemacht wurde, belegt dieses Prosagedicht. Der gemeinte Spiegel ist die Wasseroberfläche. Besonders Männer seien davon so fasziniert, dass viele diese Magie ihr Leben lang bekämpften. Außer zweien: zwei alte, abgerissene Philosophen auf einem alten, abgetakelten Kahn, die ihn See stachen. Wenn sie zurückkehrten, so die Legende, wollten sie sich erneut in See stechen sehen.

Mein Eindruck

Der Autor stützt sich auf antike Quellen wie Ausonius, Platon und Aristoteles. Mehr als die Stringenz des phantastischen Grundgedankens belegt das Prosagedicht eher die stilistische Bandbreite des Autors John Brunner.

Die Übersetzung

Die meisten Texte sind, bis auf die üblichen Druckfehler, einwandfrei übersetzt. Gegen Schluss fielen mir jedoch ein paar stilistische Zweifelsfälle auf.

Auf S. 204 und 206 wird das ursprüngliche „dear“ verwendet, also im Sinne von „mein Lieber, meine Liebe“. Doch der Übersetzer ließ das Original lieber stehen. Man fragt sich nach dem Grund.

Auf S. 234 wird die Ballade „The Rime of True Thomas“ so übersetzt: „Der Reim des wahren Thomas“. Das ist natürlich Käse. Noch Ende des 18. Jahrhundert (1798) schrieb Samuel T. Coleridge „The Rime of the Ancient Mariner“ = Die Ballade des alten Seefahrers (Vgl. dazu die Wikipedia). Und die Bedeutung von „true“ hat sich ebenfalls gewandelt. Statt „wahr“ gilt in den Mittelalter-Balladen noch die alte Bedeutung „treu“.

„The Rime of True Thomas“ bedeutet also korrekt „Die Ballade vom treuen Thomas“ – weil er nämlich nach sieben Jahren im Feenreich, die für ihn nur Tage waren, zu seiner Liebsten zurückkehrte – doch die ist entweder schon wieder vergeben oder hat das Zeitliche gesegnet. Diese schottische Ballade von Thomas the Rhymer kannte bereits Washington Irving, der Erfinder von „Sleepy Hollow“ und Autor der Geschichte von Rip Van Winkle. Die Autorin Esther Kushner hat 1990 über Thomas the Rhymer einen gleichnamigen Fantasy-Roman (dt. als ISBN 978-3-404-20208-9,) veröffentlicht, den ich sehr mochte, als ich ihn las.

Unterm Strich

John Brunner schrieb zunächst einfallsreiche Abenteuergeschichten für den amerikanischen Markt von SF-Magazinen. Doch in den sechziger Jahren änderte sich die britische SF-Szene radikal, und er musste sich darauf einstellen. Auch der amerikanische Herausgeber Harlan Ellison verlangte nun rebellische Texte, die nicht mehr klischeekonform waren. Nun entstanden Brunners beste Erzählungen, nämlich „Judas“, „Gleiche Chance“ und „Die Vitanulen“.

Danach wurde er noch kritischer und griff aggressiv die Fehlentwicklungen der westlichen Gesellschaft an, so etwa in „Datenblatt sechs“. Um die Tiefe und Berechtigung seiner Attacken richtig würdigen zu können, sollte man jedoch seine Romane „Morgenwelt“ und „Schafe blicken auf“ lesen. Besonderes letzterer wirkt heute visionär, und in „Der Schockwellenreiter“ erfand Brunner den ersten Hacker, der das System mit dessen eigenen Computer-Waffen schlägt.

Für wen sich das Buch eignet

Die Anthologie eignet sich einerseits für Leser, die gute phantastische Erzählungen suchen, andererseits für Leser, die Science-Fiction und John Brunner aus dem Effeff kennen und ihre Kenntnisse vertiefen wollen. Schade, dass dem Einsteiger kein Vor- oder Nachwort hilf- und kenntnisreich zur Seite steht. Das hätte diesen Band noch wertvoller gemacht. Wer mehr SF-Storys von Brunner sucht, wird in „Durchstieg ins Irgendwann“ und „Fremde Konstellationen“ fündig (siehe meine Berichte dazu).

Taschenbuch: 250 Seiten
Originaltitel: From This Day Forward, 1972
Aus dem Englischen von Hans Maeter
ISBN-13: 978-3453310957

www.heyne.de

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