John Brunner – Probe für die Zukunft

Big Brother lässt grüßen: Schauspieler als Marionetten der Zukunft

Murray Douglas war ein berühmter Schauspieler, ehe er dem Alkohol verfiel. Nach der Entziehungskur versuchte er, wieder Anschluss zu finden. Aber sein Comeback wurde ganz anders, als er sich das vorgestellt hatte. Was war das für eine seltsame Truppe, die in einem hermetisch abgeriegelten Haus das ungeschriebene Stück eines geheimnisvollen Autors probte? (Verlagsinfo)

Die Goldmann-Ausgabe „Probe für die Zukunft“ (1978) basiert auf John Brunners Original „The Productions of Time“, also dem gleichen Roman, auf dem die gekürzte Heyne-Übersetzung „Der Spion aus der Zukunft“ (1970) basiert. Doch der Autor hat den Roman 1977 restauriert, so dass die in meiner Rezension der Heyne-Fassung bedauerten Kürzungen hier hoffentlich behoben wurden.

Handlung

Murray Douglas ist ein englischer Schauspieler, dessen glanzvolle Karriere weit hinter ihm liegt, nachdem er sich in eine Trinkerheilanstalt begeben hat. Als er nun wieder herauskommt, sieht er mit 32 Jahren aus wie fünfzig. Aber er bekommt seinen vornehmen Daimler-Sportwagen immer noch und beschließt, in einem französischen Theaterrestaurant in London zu essen. Ein Fehler, denn sofort hört er zwei Theaterkritiker den neuesten Klatsch durchhecheln – und ihn in die Pfanne hauen. Nachdem er einem der beiden Kritiker einen Kinnhaken verpasst hat, macht er einen Abgang.

Neues Engagement

Aber er hat etwas Interessantes aufgeschnappt und ruft sofort seinen Agenten an: Ja, der Produzent Sam Blizzard stellt eine Schauspielertruppe für ein Improvisationsstück von Manuel Delgado zusammen. Obwohl Delgado den Ruf eines enfant terrible hat, lässt sich Murray sofort von Blizzard engagieren und fährt aufs Land zu einer abgelegenen Villa, wo man ihn einquartiert.

Er ist als erster der Schauspielertruppe angekommen und schaut sich in dem ehemaligen Landklub um. Der schwarzgekleidete Butler Valentine kommt ihm ein wenig unheimlich vor: Er hat seine Schritte nicht gehört. Murray bekommt Zimmer 14, gleich neben 13, das wie üblich niemand beziehen will. Die Villa ist nicht nur groß, sondern luxuriös eingerichtet, findet Murray bei einem Spaziergang im Park. Als er ins Zimmer zurückkehrt, entdeckt er die Alkoholflaschen und lässt sie erbost sofort von Valentine entfernen. Will man ihn hier umbringen? Ein Schluck, und er könnte sich gleich Zyankali geben!

Die Mitspieler

Die anderen treffen ein und beim Abendessen begutachtet Murray die traurige Bagage. Da wäre Ida, die lesbische Diva, komplett mit neuer Geliebter, einem Mädchen namens Heather; dann Gerry, der heroinabhängige Bühnenbildner; Constant, der Pornoliebhaber, und Adrian mit den päderastischen Neigungen zu kleinen Jungs – und zwei junge Männer, die sich offensichtlich zueinander hingezogen fühlen. Sie sind wie Murray alle am Ende der Fahnenstange angekommen, mit einer Ausnahme: Heather, die gerade erst von der Schauspielschule kommt. Was soll sie hier? Schließlich treffen Sam Blizzard und Manuel Delgado, das Genie, ein.

Dunkle Vergangenheit

Sein Agent hat Murray vor Delgado gewarnt. Der Autor und Regisseur aus Südamerika, der von einem argentinischen Milliardär gesponsert wird, hat in Paris eine Strecke von Opfern hinterlassen. Der junge Star des zusammengewürfelten Ensembles beging Selbstmord, eine Schauspielerin wollte ihre Tochter umbringen und eine zweite wurde in die Nervenheilanstalt eingewiesen. Na, prächtig! Aber wie konnte es dazu nur kommen? Delgado ist Murray mit seinem lidlosen Reptilienblick unheimlich und sofort unsympathisch.

Als Murray auf sein Zimmer zurückkehrt, findet er schon wieder Alkohol, sogar in seiner Reisetasche. Erbost stellt er Valentine zur Rede und beschwert sich bei Blizzard – zwecklos. Dann taucht auch Gerry bei ihm auf. Der junge Mann bittet ihn schüchtern, ein ganzes Glas pures Heroin in Verwahrung zu nehmen, das er auf seinem Zimmer gefunden hat. Sollte sich Gerry damit umbringen? Sobald Gerry gegangen ist, sucht Murray in seinem Zimmer ein gutes Versteck, denn selbst wenn Gerry jetzt clean ist, könnte er doch der Versuchung nicht widerstehen, an das Heroin heranzukommen.

Seltsame Zimmereinrichtung

Bei dieser Suche stößt Murray auf eine ziemlich merkwürdige Ausstattung seines Zimmers und holt den Beleuchter Lester, um dessen Meinung zu erfahren. Tja, also der 20 Meter lange Draht in der Matratze könnte vielleicht eine Antenne sein. Aber wo ist deren Anschluss? Den Draht dazu hat Murray aus Versehen abgerissen. Und was ist mit dem Tonband unter der Matratze? Tonband? Lester schaut nach – tatsächlich. Dessen Zweck muss Murray später von Delgado erfragen, denn es fehlen die dazugehörigen Lautsprecher und Mikrofone.

Und was ist mit dem Fernseher, fragt er. Autsch! Lester hat eine gewischt bekommen – das Mistding steht ja unter Strom! Und es lässt sich weder ausschalten noch ausstecken. Als Murray am Stromkabel, das direkt aus der Wand kommt, zerrt, rumpelt es nebenan in Zimmer 13. Merkwürdig. Und an der Zimmerdecke hat er ein Mikro entdeckt, das er sofort rausgerissen hat. Sein Zimmer wird offenbar überwacht. Aber wozu und von wem?

Heather

Delgado behauptet am anderen Tag, dass das Tonband dem Zweck der Hypnopädie diene, also der Unterrichtung während des Schlafs. Als Murray fragt, was ihm denn da nächtens eingetrichtert werden solle, weicht Delgado aus und regt sich auf. Ein Gespräch mit Blizzard, dem Produzenten, erbringt nichts.

Alles bleibt ominös, aber Heather, die zwanzigjährige Frau, die Murray bei Ida gesehen hat, vertraut sich Murray an. Er lässt durchblicken, dass er sie für Idas Geliebte halte, aber das versteht sie nicht. Offenbar ist sie noch völlig unschuldig, aber nach ein paar Tagen fragt sie ihn, warum sie keine Rolle im Stück bekomme, wo sie doch eine gute Ausbildung habe. Das wundert ihn auch, und sie steigt in seiner Achtung. Er zeigt ihr die Drähte, das Tonband und den Fernseher. Sie machen dieses Zeug bei ihr unschädlich, selbst wenn die Dienerschaft die Geräte jeden Tag wieder ersetzt.

Der Bruch

Als es nach einer Woche intensiver Arbeit zum Streit über das Stück kommt, steht Murray auf der einen Seite und der Rest der Truppe auf Delgados Seite, mit einer Ausnahme: Ida. Entsetzt sehen alle zu, wie Delgado mit übermenschlicher Kraftanstrengung den 100-Seiten-Stapel des Manuskripts zerreißt! Ihm sei das Stück inzwischen völlig gleichgültig, posaunt er hinaus. Murray ist klar, dass der nächste Tag die Entscheidung bringen wird.

Als Murray am nächsten Morgen umgeben von Gingeruch aufwacht, erfüllt ihn Entsetzen: Hat er sich derartig betrunken, dass er nichts mehr davon weiß? Nachdem er Valentine gezwungen hat, das Tor zur Straße zu öffnen, fährt er zu einem Dorfarzt, um einen Alkoholtest machen zu lassen. Negativ – Gottseidank! Mit der Arztbescheinigung geht Murray zu Blizzard und konfrontiert ihn mit den alkoholischen Mordversuchen. Delgado verleumdet Murray ebenso wie Valentine es tut. Nur Blizzard gelingt es, Delgado zur Räson zu bringen und ihn zum Weitermachen zu bewegen.

Invasionen

Heather kommt in höchst besorgtem Zustand abends in sein Zimmer. Offenbar ist Ida scharf auf sie und hat einen Vorstoß gewagt, der Heather verunsichert hat. Soll sie abreisen? Da Murray sicher ist, dass er keinen Alkohol mehr im Zimmer hat, sondern nur Fruchtsaft, den Valentine ihm brachte, gibt er ihr davon zu trinken. Den Fernseher hat er zur Wand gedreht, die Drähte, die ständig erneuert werden, rausgerissen. Er fühlt sich sicher. Doch als Heather auf einmal wie betrunken zusammenbricht, geht ihm ein Licht auf: Der Saft war mit Alkohol versetzt. Und der war für ihn bestimmt!

Als er Geräusche nebenan hört, belauscht er Delgado und Valentine im Zimmer nebenan. Sie benutzen unbekannte Wörter und wollen einen Angriff auf Murray, den Störenfried im Ensemble, starten! Sofort legt er sich zur schlafenden Heather ins Bett und wartet ab, was da kommen soll. Als Delgado und Valentine in sein Zimmer eindringen, bemerkt er die Nachtsichtgeräte auf ihren Gesichtern. Aber was wollen sie eigentlich bei ihm? Sie haben keinerlei Waffen oder Spritzen, aber dafür unbekannte Geräte dabei. Er macht das Licht an…

Mein Eindruck

Bestimmt war das ungekürzte Original eine Art Inner-space-Thriller, in dem der Held fortwährend an seinem Verstand zweifelt, wenn er nicht gleich verzweifelt aus dem Fenster springt. Die Kurzversion lässt diesen Ansatz noch durchschimmern, ist jedoch viel mehr auf die Konfrontationen, Entdeckungen und vor allem auf das explosive Finale ausgerichtet. Daher konnte ich das Buch auch locker in drei Stunden auslesen. Es ist spannend, ohne an irgendeiner Stelle zu langweilen.

Aber auch der gekürzte Text enthält noch genügend interessante Ansatzpunkte, um sich vorstellen zu können, worauf der Autor hinauswollte. Brunner befand sich 1967 bereits in seiner sozialkritischen Phase und nahm bereits Auswüchse der modernen Nachkriegsgesellschaft aufs Korn. So auch hier, wie mir scheint, und das Ziel sind diesmal die Medien und ihre Macher, aber auch die Überwacher in der Regierung.

Missbrauch durch Medien

Der Originaltitel lautet nicht umsonst „The Productions of Time“. Bei diesen „Produktionen“ handelt es sich nicht etwa um Autoteile, sondern um Schauspiele. Liegt ja auch nahe, wenn Schauspieler darin auftreten. Nur spielen diese Schauspieler nicht ein einstudiertes Stück, sondern sich selbst, allerdings in einer verfänglichen Situation. So sollte nach dem Willen Delgados die junge Heather zur lesbischen Geliebten von Ida werden und Murray wahrscheinlich den großen Absturz eines Trinkers hinlegen. Beide machen Delgado einen Strich durch die Rechnung. Die große Frage bleibt jedoch: Wer sitzt im Publikum? Delgado, der Besucher aus dem 25. Jahrhundert, verrät es uns kurz vor seinem Abgang.

Die Marionetten

Interessant sind die Methoden Delgados. Sein Argument mit der Hypnopädie, dem Schlaf-Lernen, ist barer Unsinn, wie Murray schnell herausbekommt. Aber dafür setzt Delgado mit seinen geheimnisvollen Gerätschaften Hypnose und posthypnotische Befehle ein. Das ist gar nicht mal so weit entfernt von der Hypnopädie, nur dass die „Subjekte“ nichts von den Instruktionen mitbekommen und sich auch nicht dagegen wehren können. Sie sind Marionetten an unsichtbaren Fäden.

Vorsicht, SPOILER!

Die Gerätschaften für diese menschenverachtende Spezialbehandlung – man kann von einer Gehirnwäsche sprechen – hat Delgado allerdings nicht selbst hergestellt, sondern von Valentine und seinen zwei muskulösen Gehilfen. Valentine & Co. kommen nicht aus unserer Zeit, sondern aus dem Jahr 2450. Das erklärt auch das besondere Interesse des Publikums. Während bei uns Lesbierinnen, Pädophile und Trinker selbst im Jahr 1967, als alles noch etwas prüder zuging, kaum einen öffentlichen Aufschrei verursacht hätten, sind die Zuschauer des Jahres 2450 doch schon solcher Gefühlserlebnisse entwöhnt und deshalb bereit, einen Haufen Geld dafür zu bezahlen. Denn Zeitreisen sind in keinem Fall billig.

Big Brother

Es geht also um Surrogate für „Erlebnisse“, die einer blasierten Öffentlichkeit zu einem Nervenkitzel verhelfen sollen. Das klingt ja geradezu nach „Big Brother“, wo ja genau wie in diesem Buch mehrere Menschen – nicht unbedingt Schauspieler – in ein Haus gesperrt werden, um aufeinander loszugehen. Man erinnere sich an jene krebskranke junge Engländerin, die mitten in der Sendung von ihrer Diagnose erfuhr, dann erhebliche Publicity erhielt und zu einer nationalen Berühmtheit wurde – zumindest bis zu ihrem Tod. Die Sensationsmedien leckten jede Emotion auf, als wäre es Herzblut, um es meistbietend an ihre Leser und Zuschauer zu verhökern.

Happenings à la carte

Dass die Sensationsgier auch schon 1967 groß gewesen sein muss, kann man sich leicht vorstellen. Schließlich wurden die Aussteiger und Avantgardisten wie der Dunstkreis von Pink Floyd gierig beobachtet und sofort als neueste Mode vereinnahmt (nachzulesen in Nick Masons toller Pink-Floyd-Biografie „Inside Out“). Der nächste, logische Schritt bestand darin, das Happening nicht mehr zu registrieren, sondern selbst zu inszenieren, in einem dritten Schritt auch mit Profis.

Spielverderber

Dass eben diese Profis Schauspieler sind, liegt nahe. Doch das Vorgehen der Medien – hier angeblich derjenigen des Jahres 2450 – degradiert die Thespisjünger zu bloßen Ausführungsgehilfen für die schmutzigen Phantasien des Publikums. Die Produzenten – gemeint ist nicht Sam Blizzard, sondern Valentine & Delgado – nehmen dabei keinerlei Rücksicht auf die Körper der manipulierten Schauspieler, geschweige denn auf deren Gefühle. Sie nehmen Murrays Tod durch Alkoholvergiftung billigend in Kauf, ebenso den von Gerry durch einen Goldenen Schuss. Dass sie Heather als Lesbierin missbrauchen wollen, kommt bei ihr ebenfalls nicht gut an. Kein Wunder also, wenn Heather und Murray die Chance ergreifen, Valentine und Delgado gehörig die Suppe zu versalzen.


Die Übersetzung

Tony Westermayr stützt sich wie der Heyne-Übersetzung Wulf H. Bergner auf die Ausgabe von 1967 statt auf die restaurierte Textfassung von 1977. Der Textumfang ist ungefähr der gleiche: 156 vs. 158 Seiten. Aber dennoch ergeben sich bei näherem Hinsehen deutliche Unterschiede. So wird Sam Blizzard bei Bergner als Produzent bezeichnet, bei Westermayr aber als Regisseur. Letzteres ergibt wenig Sinn, wenn Delgado doch die Regie führt.

Ansonsten gibt es das für Taschenbuchausgaben dieser Zeit übliche Quantum an Druckfehlern.

Unterm Strich

Zunächst liest sich das Buch wie ein Psychothriller, bei dem der Held an seinem eigenen Verstand zweifelt. Dann wird daraus eine Ermittlung, als es dem Helden gelingt, seinen Verstand zu behalten und ein Arztattest für Nüchternheit zu bekommen. Seine Schnüffelei geht den Drahtziehern schon bald gewaltig gegen den Strich, weshalb sie ihn schon bald aus dem schmutzigen Spiel nehmen wollen.

Aber sie haben nicht mit seiner Entschlossenheit und dem Zufall gerechnet, der seltsamerweise stets auf seiner Seite ist. In einem Showdown brennt denn auch gleich der Schauplatz ab. Zum Glück kann Murray auch Delgado retten, der daraufhin jede Menge interessante Sachen aus dem 25. Jahrhundert zu erzählen hat. Und natürlich bekommt der Junge das Mädchen.

So weit, so schön und unterhaltsam. Man merkt dem Autor an, dass er sich fürs Theaterspielen begeistern kann. Echtes Theater hat nichts mit TV-Produktionen zu tun, deutet er an. Und schon gar nicht mit dem Marionettentheater, das Valentine abzieht. Brunner kennt sich auch mit den Theater-Autoren aus, erwähnt Arthur Miller und Jean Genet. Und er könnte selbst einmal Theater gespielt haben, denn die Arbeitsweise eines solchen Akteurs beschreibt er wie ein Kenner.

Schwächen

Aber die Handlung weist auch Schwächen auf. Vom Schlaflernen konnte man schon in Aldous Huxleys „Brave New World“ aus dem Jahr 1928 erfahren. Brunner erwähnt dies sogar selbst. Von Gehirnwäsche wissen wir seit dem Koreakrieg. Von Hypnose zur Gehirnwäsche ist es nur ein kleiner Schritt. Alles, was man braucht, sind entweder ein fähiger Hypnotiseur oder jene futuristischen Geräte, auf die Murray stößt. Die Fernsteuerung von Menschen ist nur im Genre der SF ernstzunehmen.

Relevanter ist da schon die Anspielung auf Medien, die „Erlebnisse“ in der Vergangenheit inszenieren, um ihr Publikum zu zufriedenzustellen. Klingt nach „Big Brother“ ohne Zeitreise, oder? Leider erzählt uns Delgado nicht genau, für wen Valentine & Co. genau arbeiten und warum sie diesen Job angenommen haben. Indirekt warnt Brunner hier vor den Überwachern in der Regierung, ein Thema, das er in „Der Schockwellenreiter“ auf die Computertechnik übertrug.

Tabubrüche

Für seine Zeit schneidet Brunner einige Tabus an, über die man erst zu raunen begann. Da sind Lesben wie die abgetakelte Ida, der die junge Heather gefügig gemacht werden soll. Heather hat ebenfalls eine sexy Szene mit Murray und läuft den Rest der Handlung nur mit einem Morgenmantel bekleidet in der Gegend herum – ein kalkulierter Nervenkitzel für den männlichen Leser.

Eher unangenehm berührt sein dürfte ebendieser Leser von Adrians sexuellem Interesse an „Jüngelchen“, wie Gerry so abschätzig ausdrückt. Und dass Constant an klassischen Pornos Gefallen findet, durfte man auch nicht in jeder Tageszeitung gedruckt lesen. Immerhin jedoch wurde in den späten Sechzigern oder frühen Siebzigern der britische PLAYBOY mitsamt Klubs gegründet. Nach Deutschland kam das Männermagazin erst 1972 und hob dort das Erotikniveau.

Man sieht also, dass der unscheinbare, schmale Roman einiges Potential an Sozialkritik aufweist. Das Motiv der abgelegenen Institution, des Wahnsinns und des Besuchs aus der Zukunft griff Brunner im gleichen Jahr 1967 mit seinem Roman „Treibsand“ erneut auf.

Der Autor

John Kilian Houston Brunner wurde 1934 in Südengland geboren und am Cheltenham College erzogen. Dort interessierte er sich schon früh „brennend“ für Science Fiction, wie er in seiner Selbstdarstellung „The Development of a Science Fiction Writer“ schreibt. Schon am College, mit 17, verfasste er seinen ersten SF-Roman, eine Abenteuergeschichte, „die heute glücklicherweise vergessen ist“, wie er sagte.

Nach der Ableistung seines Militärdienstes bei der Royal Air Force, der ihn zu einer pazifistisch-antimilitaristischen Grundhaltung bewog, nahm er verschiedene Arbeiten an, um sich „über Wasser zu halten“, wie man so sagt. Darunter war auch eine Stelle in einem Verlag. Schon bald schien sich seine Absicht, Schriftsteller zu werden, zu verwirklichen. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in bekannten SF-Magazinen der USA und verkaufte 1958 dort seinen ersten Roman, war aber von der geringen Bezahlung auf diesem Gebiet enttäuscht. Bald erkannte er, daß sich nur Geschichten sicher und lukrativ verkaufen ließen, die vor Abenteuern, Klischees und Heldenbildern nur so strotzten.

Diese nach dem Verlag „Ace Doubles“ genannten Billigromane, in erster Linie „Space Operas“ im Stil der vierziger Jahre, sah Brunner nicht gerne erwähnt. Dennoch stand er zu dieser Art und Weise, sein Geld verdient zu haben, verhalf ihm doch die schriftstellerische Massenproduktion zu einer handwerklichen Fertigkeit auf vielen Gebieten des Schreibens, die er nicht mehr missen wollte.

Brunner veröffentlichte „The Whole Man“ 1958/59 im SF-Magazin „Science Fantasy“. Es war der erste Roman, das Brunners Image als kompetenter Verfasser von Space Operas und Agentenromanen ablöste – der Outer Space wird hier durch Inner Space ersetzt, die konventionelle Erzählweise durch auch typographisch deutlich innovativeres Erzählen von einem subjektiven Standpunkt aus.

Fortan machte Brunner durch menschliche und sozialpolitische Anliegen von sich reden, was 1968 in dem ehrgeizigen Weltpanorama „Morgenwelt“ gipfelte, der die komplexe Welt des Jahres 2010 literarisch mit Hilfe der Darstellungstechnik des Mediums Film porträtierte. Er bediente sich der Technik von John Dos Passos in dessen Amerika-Trilogie. Das hat ihm von SF-Herausgeber und –Autor James Gunn den Vorwurf den Beinahe-Plagiats eingetragen.

Es dauerte zwei Jahre, bis 1969 ein weiterer großer sozialkritischer SF-Roman erscheinen konnte: „The Jagged Orbit“ (deutsch 1982 unter dem Titel „Das Gottschalk-Komplott“ bei Moewig und 1993 in einer überarbeiteten Übersetzung als „Ein irrer Orbit“ auch bei Heyne erschienen). Bildeten in „Stand On Zanzibar“ die Folgen der Überbevölkerung wie etwa Eugenik-Gesetze und weitverbreitete Aggression das handlungsbestimmende Problem, so ist die thematische Basis von „The Jagged Orbit“ die Übermacht der Medien und Großkonzerne sowie psychologische Konflikte, die sich in Rassenhass und vor allem in Paranoia äußern. Die Lektüre dieses Romans wäre heute dringender als je zuvor anzuempfehlen.

Diesen Erfolg bei der Kritik konnte er 1972 mit dem schockierenden Buch „Schafe blicken auf“ wiederholen. Allerdings fanden es die US-Leser nicht so witzig, dass Brunner darin die Vereinigten Staaten abbrennen ließ und boykottierten ihn quasi – was sich verheerend auf seine Finanzlage auswirkte. Gezwungenermaßen kehrte Brunner wieder zu gehobener Massenware zurück.

Nach dem Tod seiner Frau Marjorie 1986 kam Brunner nicht wieder so recht auf die Beine, da ihm in ihr eine große Stütze fehlte. Er heiratete zwar noch eine junge Chinesin und veröffentlichte den satirischen Roman „Muddle Earth“ (der von Heyne als „Chaos Erde“ veröffentlicht wurde), doch zur Fertigstellung seines letzten großen Romanprojekts ist es nicht mehr gekommen Er starb 1995 auf einem Science-Fiction-Kongress, vielleicht an dem besten für ihn vorstellbaren Ort.

Taschenbuch: 156 Seiten
Originaltitel: The productions of time, 1967, Text restauriert 1977;
Aus dem Englischen von Tony Westermayr
ISBN-13: 978-3442232413

www.goldmann-verlag.de

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