Tom Standage – Die Akte Neptun. Die abenteuerliche Geschichte der Entdeckung des 8. Planeten

Die Suche nach dem profitablen Gral

Am 13. März 1781 entdeckt der Musiklehrer (!) und Hobby-Astronom Friedrich Wilhelm Herschel in seinem selbst gebauten Teleskop am nächtlichen Sternenhimmel über England ein mysteriöses Objekt, das er zunächst als Kometen identifiziert. Wenig später stellt sich heraus, dass ihm ein neuer Planet vor die (selbst geschliffene) Linse geraten ist: Uranus, die Nummer 7 im heimischen Sonnensystem, ist entdeckt.

Ruhm und Ehre prasseln auf Herschel nieder, dazu kommt ein schönes Gehalt, das ihm sein König, selbst ein Anhänger der Himmelskunde, zahlt. Herschel steigt zum Hofastronomen auf und macht sein Hobby zum Beruf. Kein Wunder, dass der wissenschaftliche Nachwuchs Europas neidvoll auf ihn blickt – und auf eine Idee kommt: Wo sich sieben Planeten drehen, gibt es weiter draußen im All womöglich noch mehr!

Aber die Konkurrenz späht lange vergebens. Die Teleskope des 18. und frühen 19. Jahrhunderts versagen auf die gewaltige Distanz. Erst 1841 findet John Couch Adams, ein junger englischer Mathematiker, eine neue Herangehensweise: Er versucht die astronomischen Daten der bekannten Himmelskörper auszuwerten, um so die potenzielle Bahn eines achten Planeten zu errechnen, der auf der Basis dieser Daten irgendwann (hoffentlich) an vorausgesagter Position zum Vorschein kommt.

Der Streit um des Kaisers Bart

Auf dieser Welt gibt es nur eine beschränkte Anzahl revolutionärer Ideen; meist kommen sie gleichzeitig auf. Da Wissenschaftler auch nur Menschen sind, entsteht dann in der Regel Streit. So ergeht es auch Adams, denn ihm erwächst ein Widersacher. Urbain Jean-Joseph Le Verrier ist ausgerechnet Franzose, d. h. Bürger eines Landes, das mit den Briten regelmäßig Krieg führt.

Die beiden Forscher wissen nichts voneinander. Redlich arbeiten sie unermüdlich an und mit ihren Formeln. Sie gehen ganz unterschiedlich an das Problem heran und kommen doch zum selben Ergebnis: Uranus ‚eiert‘ auf seinem Weg um die Sonne, was auf Störungen durch einen Planeten jenseits seiner Bahn hindeutet.

Gesichtet wird Neptun schließlich 1846 – von einem Deutschen: Johann Gottfried Galle, Mitarbeiter der Berliner Sternwarte. Doch wer hat den achten Planeten nun eigentlich aufgespürt? Auf dem Papier kannte man ihn ja schon. Sofort bricht in der wissenschaftlichen Welt ein Streit aus. Wer Neptuns Fund für sich beanspruchen kann, wird akademische und berufliche Vorteile daraus ziehen. Hinzu kommen starke nationalistische Gefühle, Neid und Missgunst, aber auch Verleumdung und Vertuschung. Peinlicherweise haben andere Forscher schon früher Neptun im Visier gehabt, ohne jedoch zu bemerken, was sie dort sahen. Es schadet dem Ruf, einen solchen Bock geschossen zu haben, wie so mancher nicht nur aufgrund seines Fachgebietes weltfremde Astronom leidvoll erleben muss.

Die Entdeckung Neptuns entwickelt sich zum Kriminalfall mit allen dafür typischen Verwirrungen. Jahrzehnte wird gestritten und während die „Akte Neptun“ immer dicker wird, gerät die wahre Geschichte immer tiefer in Vergessenheit.

Der Sache auf den Grund gehen

Gut, dass es Menschen wie Sir George Biddell Airy (1801-1892) gibt. Der exzentrische englische Astronom war zwischen 1835 und 1881 – d. h. in der ‚heißen‘ Phase des Neptun-Krieges – Leiter der Königlichen Sternwarte. Der zwanghafte Systematiker (der sich ansonsten in dieser Sache ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckerte) sammelte alle Briefe, Zeitungsausschnitte und andere Dokumente, die ihm in Sachen Neptun in die Finger gerieten. So entstand eine echte „Akte Neptun“, die lange Zeit im Archiv besagter Sternwarte aufbewahrt wurde, bis sie verschwand und als verschollen galt, um 1999 ausgerechnet in Chile wieder aufzutauchen.

Dort konnte Wissenschaftsredakteur Tom Standage auf die wertvollen Original-Unterlagen zurückgreifen, als er daran ging, die Geschichte von der Entdeckung des Planeten Neptun nachzuzeichnen. Weil Forschung an sich nie langweilig ist, sondern höchstens langweilig vermittelt werden kann, schrieb er ein Sachbuch mit Kriminalroman-Qualitäten, das sich nicht nur an Astronomen bzw. Fachleute wendet, sondern vor allem an die berühmte, allzu oft vernachlässigte Allgemeinheit, die sich durchaus für Naturwissenschaft und Geschichte interessiert, wenn man sie ein wenig an die Hand nimmt und führt.

Standage bezog weitere zeitgenössische Quellen ein, wenn er – wiederum im Dienst des wissenschaftlichen Laien – weit ausholt, um gewisse historische und astronomische Grundkenntnisse zu vermitteln. Forscher standen (und stehen) nicht isoliert in der Welt, sondern sind ein Teil von ihr. Deshalb werden sie von den politischen, philosophischen oder religiösen Vorstellungen ihrer Zeit geprägt, die selbstverständlich auch in ihren Arbeitsalltag eindringen, der doch eigentlich der objektiven Suche nach neuen Einsichten geweiht ist. Dass dem in der Realität ganz und gar nicht so ist, weiß Standage fesselnd deutlich zu machen. Dies bedingte Fehler und Sackgassen, gehört aber zum Prozess der Wissensfindung.

Auf den Schultern der Vorfahren

„Die Akte Neptun“ schließt mit einem Ausblick auf die spätere Geschichte der astronomischen Planetensuche. Mit den aus Diskussion und Streit destillierten Erkenntnissen gelang es, 1930 einen weiteren Planeten – Pluto – zu entdecken. (2006 wurde er zum „Zwergplaneten“ degradiert.) Auch heute geht die Suche weiter. Zwar gibt es draußen in unserem Sonnensystem wohl keine planetaren Überraschungen mehr, aber Couch, Le Verrier & Co. haben die Grundlagen gelegt, auf denen die seither mächtig fortgeschrittene Astronomie sogar Planeten in anderen Systemen feststellen kann.

Die Einwände gegen „Die Akte Neptun“ halten sich in Grenzen. Ein bisschen mehr Aufwand würde man sich bei den Abbildungen wünschen. Sie können mit der Qualität des Textes nicht mithalten. Die Fotos sind klein und verschwommen, die Zeichnungen und Diagramme (zu) einfach. Das intellektuelle Vergnügen (dies soll kein Schimpfwort sein) am vorliegenden Buch mindert das jedoch nur marginal.

Taschenbuch: 282 Seiten
Originaltitel: The Neptune File (London : Walker & Company 2000)
Übersetzung: Sonja Schuhmacher u. Thomas Wollermann
http://www.berlinverlag.de

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