Peter Straub – Schattenstimmen

Straub Schattenstimmen Cover 2008 kleinSchriftsteller Underhill hat einen Serienkiller verunglimpft, dessen Geist rachsüchtig aus dem Jenseits zurückkehrt; gleichzeitig stellt der Autor fest, dass er einen Riss im kosmischen Gefüge verursacht hat, der Realität und Fiktion bizarr zusammenfließen lässt … – Erneut schreibt Peter Straub vom unmerklichen Einbruch des Phantastischen in den Alltag. Das gelingt ihm vor allem im ersten Teil, doch obwohl der Verfasser dann auf ausgefahrene Horror-Geleise einbiegt, wahrt er seine stilistische Brillanz und ringt dem Plot manche Überraschung ab: Genrefreunde dürfen freudig zugreifen.

Das geschieht:

Nur wenige Monate nach dem rätselhaften Verschwinden seines Neffen in der kleinen Stadt Millhaven (vgl. „Haus der blinden Fenster“) wird Schriftsteller Tim Underhill erneut mit dem Unerklärlichen konfrontiert. Seine vor vielen Jahren ermordete Schwester erscheint ihm als Geist, um ihm offensichtlich eine Warnung mitzuteilen. In seiner Mailbox mehren sich die Nachrichten von Bekannten, die sich als längst tot erweisen. Ein unheimlicher Stalker verfolgt und bedroht ihn.

An anderem Ort fühlt sich die Kinderbuchautorin Willy Bryce Patrick vom Geist der Tochter verfolgt, die vor anderthalb Jahren zusammen mit ihrem Vater einem grausamen Mord zum Opfer fiel. Nach langer Trauer wird Willy bald Mitchell Faber, einen undurchsichtigen ‚Geschäftsmann‘, heiraten. Als sie entdeckt, dass dieser womöglich hinter dem Doppelmord steckt, ergreift sie die Flucht.

Inzwischen musste Underhill erfahren, dass sein Verdruss durch einen fatalen Fehler begründet wird: Sein letzter Roman erzürnte den Geist des darin fälschlich als Kinderschänder geschmähten Serienmörders Joseph Kalendar so sehr, dass dieser in die Welt der Lebenden zurückkehrt und Underhill strafen will. Noch schlimmer: Der Autor hat versehentlich eine Schleuse zwischen Diesseits und Jenseits geöffnet, die zu einer zunehmenden Vermischung von Realität und Fiktion führt.

Das wird nicht ohne große persönliche Opfer geschehen, zumal sich ein leibhaftiger Engel in die Angelegenheit einschaltet. Der hasst es, mit den profanen Problemen der Menschenwelt konfrontiert zu werden, und reagiert ganz und gar nicht engelhaft. In Millhaven treffen alle Parteien aufeinander und entfesseln eine Schlacht, in der sich die Grenzen zwischen Tod und Leben, Wirklichkeit und Vision endgültig verwischen …

Fantasievoller Schrecken de luxe

Die phantastischen Romane des Peter Straub sind seit jeher anspruchsvoller als die Werke der meisten Schriftsteller-Kollegen. Während diese es ihren Lesern (und sich) gern einfach machen und klar zwischen dem Hier & Jetzt und den Ausgeburten diverser Höllen und sonstiger Fremdgefilde unterscheiden, setzt Straub auf die literarisch verstärkte Verunsicherung seines Publikums. Nie dürfen sich seine Leser sicher sein, ob das, was ihnen der Autor gerade beschreibt, ‚tatsächlich‘ geschieht oder eine Vision, ein Traumbild ist. Der Schrecken bezieht bei Straub seine Kraft aus der Schwierigkeit ihn zu erkennen und sich ihm stellen zu können.

Dabei ergeht es den Lesern keineswegs besser als den fiktiven Protagonisten. Straub setzt seine beachtlichen schriftstellerischen Fähigkeit ein, wechselt die Erzählperspektiven und die Tempi, schildert Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln und nutzt überhaupt jedes Mittel (und jeden Trick), um das Fremde, Seltsame in das zunächst alltägliche Geschehen einsickern zu lassen. Der Übergang ist fließend, und den verunsicherten Figuren bleibt in der Regel keine Chance es zu verhindern; sie können nur reagieren.

Das Phantastische wirkt, wenn es sich endlich enttarnt, nicht banal, was verwundert, da sich Straub durchaus bekannter Klischees bedient. Wenn ein Geist namens Cyrax das Leben nach dem Tod beschreibt, ist das ihm zu Grunde gelegte Prinzip keineswegs originell, sondern vor allem pragmatisch. Nun mag von einer höheren Warte aus betrachtet die Welt auch dort, wo die bekannten Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind, primär funktionell konstruiert, das Jenseits womöglich integraler Bestandteil der Evolution sein. Straub maßt sich da kein Urteil an, er postuliert eine Tatsache. Dass er Cyrax als Sprachrohr einsetzt, ist ein kluger Einfall: Der Schreiber aus dem byzantinischen Reich des Mittelalters ‚übersetzt‘ für Underhill (und uns) das Jenseits in Bilder, die auch ein sterblicher i. S. von nicht gestorbener Mensch begreifen kann. Da ist also viel mehr, aber Straub lässt es klug im Dunkel; es ist für die Handlung auch ohne Belang.

(Ein) Jedermann im Griff des Seltsamen

Im ersten Drittel von „Schattenstimmen“ stellt Straub die Weichen, positioniert seine Figuren, setzt sie in Bewegung und produziert Rätsel. Dann lässt er Cyrax sprechen (bzw. mailen) und die Story eine neue Richtung einschlagen, mit der wir Leser nicht gerechnet haben. Die Verzahnung zwischen Realität und schriftstellerischer Fiktion wäre den meisten Autoren Plot genug für ein Buch. Straub kann mehr und lässt die Geschichte jetzt erst richtig in Gang kommen. Sie erreicht schließlich Millhaven und knüpft an die Ereignisse aus „Haus der blinden Fenster“ an, wobei die Vorgeschichte freilich in ganz neuem Licht erscheint.

Diese Vorgeschichte ist Teil der faszinierenden Biografie des Tim Underhill. Seit 1988 schildert Straub seine Odyssee durch ein von unerklärlichen Einflüssen geprägtes Leben. Nie lieferte Straub seinem Helden und seinen Lesern mehr als Zipfel der ganzen Wahrheit. Dabei ist er geblieben. Erschwerend kommt hinzu, dass man der Underhill-Chronik (deren Kenntnis der Entschlüsselung mancher Randbemerkungen in „Schattenstimmen“ dienlich ist), nur bedingt trauen kann. Im vorliegenden Roman enthüllen uns Straub & Underhill, dass sie uns mit „Haus der blinden Fenster“ eine nur teilweise ‚wahre‘ Geschichte erzählten, die von Underhill verändert und mit einem tröstlichen Finale versehen wurde, weil er das Verschwinden seines Neffen so besser verarbeiten konnte. Somit ist „Schattenstimmen“ keine Fortsetzung, sondern eine (unerwartete und geglückte) Neuinterpretation des „Haus“-Plots. Viele bekannte Figuren treten erneut auf, wirken jedoch nicht vertraut, weil wir wissen, dass wir sie durch Underhill, den nicht allwissenden aber besser als wir informierten Erzähler gefiltert erleben.

Kleine Stadt im Zentrum kosmischer Ereignisse

Grandios umschifft Straub die Untiefen, die eine Fortsetzung in der Regel zur Variation des Originals degenerieren lassen. Deshalb sind wir gespannt, als die Handlung wieder einmal Millhaven (das Spiegelbild Milwaukees im US-Staat Wisconsin, der realen Heimatstadt Straubs) erreicht, die kleine Stadt, die unfreiwillig zum Zentrum kosmischer Ereignisse wird, weil – dieses Geheimnis klärt sich nun – der junge Tim Underhill hier einen ersten und folgenreichen Blick hinter den Schleier werfen konnte, den wir Realität nennen, und später ungewollt einen Übergang öffnete, den seither mancher ungebetene Gast aus fernen Dimensionen passierte.

Dort herrschen eigene Gesetze, die auf der Erde unverständlich und wenig plausibel wirken. Unwissentlich hat Underhill einen Fehler begangen, doch er wird zur Verantwortung gezogen. Als strafender Bote tritt ein gar nicht lieblicher Engel auf, der an die grimmige Welt des Alten Testaments erinnert, in der die geflügelten Lichtgestalten als rücksichtsfreie Krieger ihres nicht besonders nachsichtigen Herrn auftraten. Die andere Seite des Dreiecks, dessen Spitze Underhill und Willy bilden, besetzt Joseph Kalendar, der nicht nur bösartig und verrückt ist, sondern diverse Kräfte besitzt, die er im großen Finale gegen Underhill einsetzt. So etwas wie Gerechtigkeit gibt es nicht – im Himmel, auf Erden & in der Hölle – oder sie ist kein Teil der Struktur, die den Gesamtkosmos formt. Das klingt reichlich kompliziert, wird aber von Straub nachvollziehbar entwickelt und gibt dem Chor der „Schattenstimmen“ den letzten Schliff.

Autor

Peter Francis Straub wurde am 2. März 1943 in Milwaukee im US-Staat Wisconsin geboren. Der Schulzeit folgte ein Studium der Anglistik an der „University of Wisconsin“, das Straub an der Columbia University fortsetzte und abschloss. Er heiratete, arbeitete als Englischlehrer, begann Gedichte zu schreiben. 1969 ging Straub nach Dublin in Irland, wo er einerseits an seiner Doktorarbeit schrieb und sich andererseits als ‚ernsthafter‘ Schriftsteller versuchte. Während die Dissertation misslang, etablierte sich Straub als Dichter. Geldnot veranlasste ihn 1972 zur Niederschrift eines ersten Romans („Marriages“; dt. „Die fremde Frau“), den er (mit Recht) als „nicht gut“ bezeichnet.

1979 kehrte Straub in die USA zurück. Zunächst in Westport, Connecticut, ansässig, zog er mit der inzwischen gegründeten die Familie nach New York. Ein Verleger riet Straub, es mit Unterhaltungsliteratur zu versuchen. Straub schrieb „Ghost Story“ (1979; dt. „Geisterstunde“), seine Interpretation einer klassischen Rache aus dem Reich der Toten. Der Erfolg dieses Buches (das auch verfilmt wurde), brachte Straub den Durchbruch. Mit „Shadowland“ (1980; dt. „Schattenland“) und „Floating Dragon“ (1983; dt. „Der Hauch des Drachens“) festigte er seinen Ruf – und erregte die Aufmerksamkeit von Stephen King, mit dem er sich bald anfreundete. Die beiden Schriftsteller verfassten 1984 gemeinsam den Bestseller „The Talisman“ (dt. „Der Talisman“), dem sie 2001 mit „Black House“ (dt. „Das schwarze Haus“) eine ebenso erfolgreiche Fortsetzung folgen ließen.

Straubs Werke wurden vielfach preisgekrönt; akademisch penibel zählt der Autor seine Meriten auf www.peterstraub.net auf. Diese Website ist ebenso informativ wie kurios und verrät einen intellektuellen Geist, der über einen gesunden Sinn für hintergründigen Humor verfügt.

Taschenbuch: 400 Seiten
Originaltitel: In the Night Room (New York : Random House, Inc. 2003)
Übersetzung: Christine Roth-Drabusenigg
http://www.randomhouse.de/heyne

eBook: 863 KB
ISBN-13: 978-3-641-02338-6
http://www.randomhouse.de/heyne

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