Singleton, Sarah – Haus der kalten Herzen, Das

Mercy ist verwirrt. Dass sie Geister sehen kann, ist nichts Neues für sie, doch der Geist der jungen Frau unter dem Eis in dem kleinen Teich begegnet ihr zum ersten Mal. Und sie hat beim Aufwachen ein Schneeglöckchen auf ihrem Kopfkissen gefunden! Als sie schließlich in der Familienkapelle auch noch auf einen jungen Mann trifft, der ihr irgendwie bekannt vorkommt, ist klar: Etwas verändert sich. Und Mercy ist sich keineswegs sicher, ob sie sich darüber freuen soll …

Die Geschichte wird lediglich von einer Handvoll Charaktere getragen:

Zunächst ist da natürlich Mercy. Ein brummiges Mädchen mit überbordender Fantasie, das gerne liest, nicht besonders gut zeichnen kann und das seine Gouvernante nicht besonders mag. Und ein Mädchen mit Mut und Durchsetzungsvermögen, das, nachdem es erst einmal Wind von etwas bekommen hat, keine Ruhe gibt, bis es der Sache auf den Grund gegangen ist.

Charity ist impulsiv und redselig, nicht so neugierig wie ihre große Schwester, doch sie besitzt ebenfalls eine gehörige Portion Mut und einen kindlichen Charme, mit dem sie ihre Gouvernante regelmäßig um den Finger wickelt.

Die Gouvernante Galatea ist eine Verwandte der beiden Mädchen, groß und hager und selbst zu Zeiten, in denen Mercy noch gehorsam und still ist, wirkt sie etwas biestig. Als Mercy beginnt aufzubegehren, wird sie regelrecht zur Furie. Gleichzeitig ist sie dem Herrn des Hauses unendlich treu ergeben und stellt keine einzige seiner Anweisungen jemals in Frage.

Der Herr des Hauses ist Mercys Vater, ein im Grunde freundlicher, aber gebrochener Mann, der sich irgendwo im Haus vergräbt und sich so gut wie nie bei seinen Töchtern blicken lässt. Auch das ändert sich, als Mercy ihren Gehorsam aufkündigt. Plötzlich isst der Vater zusammen mit den Kindern, er beordert Mercy immer wieder zu sich, um ihr ins Gewissen zu reden, doch da er ihr seine Gründe nicht erklären will, sind seine Versuche von wenig Erfolg gekrönt.

Und dann ist da noch Claudius, der junge Mann aus der Kapelle, der Mercy dazu ermutigt, Fragen zu stellen und nach der Wahrheit zu suchen. Von ihm erhält Mercy wesentlich mehr Antworten als von ihrem Vater, aber … meint Claudius es wirklich ehrlich?

Die Charakterzeichnung ist einerseits sehr gut gelungen. Mit Ausnahme von Galatea, die stellenweise ein wenig ins Klischee der Fräulein Rottenmeier abzudriften droht, sind die Figuren erfreulich eigenständig. Leider mangelt es ihnen ein wenig an Tiefe. Außer Mercys wachsendem Freiheitsdrang und Lebenswillen gibt es nichts, was das Mädchen besonders auszeichnen, sie zu einer eigenständigen und unverwechselbaren Persönlichkeit machen würde, sie bleibt austauschbar. Das gilt noch mehr für Charity. Und auch der Vater und Claudius kommen nicht über Nachvollziehbarkeit hinaus, es fehlt ihnen an Intensität.

Das ist sehr schade, denn das Buch lebt von den Charakteren und ihren Beziehungen untereinander. Die Langlebigkeit und die magischen Fähigkeiten von Claudius, Mercy und ihrem Vater sind die einzigen Aspekte, die die Geschichte in den Bereich der Fantasy rücken, ansonsten handelt es sich hier eher um ein Familiendrama. Mercy, angestupst von Claudius, versucht herauszufinden, warum es auf dem Familiensitz Century niemals Frühling wird, warum das Leben der Familie sich nachts abspielt und nicht tagsüber, und was wirklich mit ihrer Mutter geschehen ist. Ihre wachsende Neugier verdrängt bald ihre anfängliche Angst und das Misstrauen gegen Claudius. Dieses Stöbern in der Vergangenheit ist hervorragend gemacht, Schicht für Schicht dringt Mercy immer weiter vor und eine Schlüsselszene nach der anderen enthüllt wie eine sich öffnende Blüte, wie und warum es zu der seltsamen Lebenssituation kam, in der sich Mercy und ihre Familie befinden.

Leider fehlt es der Geschichte trotz der faszinierenden Idee und des sorgfältigen Aufbaus an Flair. Nicht, dass ich das Buch langweilig gefunden hätte, im Gegenteil. Ich war ausgesprochen neugierig darauf, was Mercy auf ihrer Suche wohl herausfinden wird. Nur hat die Autorin ihren ausgesprochen interessanten Inhalt in etwas blasses Papier verpackt. Der Hintergrund der Geschichte, die Familie Verga und ihr Anderssein, sind lediglich grob angerissen, die Geschichte selbst ist recht zügig und straff erzählt und lässt ebenso wenig Raum für Stimmung wie für die Entfaltung und Vertiefung ihrer Charaktere. Hier hätte ich mir anstelle der raschen Entwicklung etwas mehr Verweilen und ein paar zusätzliche Details gewünscht. Das gilt zum Beispiel für Mercys Flucht aus der Dienstbotenkammer, die auf dem Dachboden endet. Leider geht die Autorin auf diesen spannenden Ort weniger genau ein als auf den nicht allzu fesselnden Kaminschlot. Das Augenmerk liegt eindeutig auf dem Fortschreiten der Handlung, nicht auf der Ausstattung. Schade, denn damit hat die Autorin eine Menge Potential verschenkt, obwohl bei nur knapp dreihundert Seiten noch genug Platz gewesen wäre.

Alles in allem empfand ich Sarah Singletons Jugendbuch-Debut als ausgefallene, intelligente Geschichte, die fesselt, aber nicht verzaubert. Dennoch finde ich das Buch empfehlenswert. Es bietet keinen besonderen sprachlichen Schliff, aber ein sorgfältig verborgenes Geheimnis, das angenehm aus den Massen an Fantasy-Einerlei herausfällt und in seiner Entwicklung nicht so vorhersehbar ist. Auch dürfte die Thematik, der Umgang mit Schmerz und Verlust und die Flucht vor sich selbst, gerade für Jugendliche interessant sein, wobei die Umsetzung wohl hauptsächlich Mädchen ansprechen dürfte.

Sarah Singleton hat einen Universitätsabschluss in Literaturwissenschaften und ist nach diversen Reisen durch Europa und Asien sowie diversen Tätigkeiten, unter anderem als Zimmermädchen, beim Journalismus hängen geblieben. Außer ihrem Jugendroman „Das Haus der kalten Herzen“, für das sie mit dem Booktrust Teenage Prize ausgezeichnet wurde, hat sie diverse Kurzgeschichten geschrieben. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Töchtern in Wiltshire.

|Taschenbuch: 288 Seiten
ISBN-13: 978-3570306475
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 12 – 13 Jahre
Originaltitel: Century
Deutsch von Catrin Fischer|
http://www.crowmaiden.plus.com/

Schreibe einen Kommentar