Charlotte Winheller (Hg.) – Saturn im Morgenlicht [The Magazine of Fantasy and Science Fiction 1]

Zum ersten Mal werden deutschen Lesern (elf) Storys aus dem „Magazine of Fantasy and Science Fiction” vorgestellt; klassische SF-Themen (Kontakt mit Außerirdischen, Zeitreisen, zukünftige Supertechnik) mischen sich mit Erzählungen, die das Seltsame, Unerwartete in eine ‚normale‘ Gegenwart einbrechen lassen. Auch sonst ist das ‚überraschende‘ Ende, das der Handlung womöglich erst im letzten Satz eine gänzlich neue Wendung gibt, den meisten Autoren wichtig, wobei Jahrzehnte nach dem Ersterscheinen viele Storys altmodisch verstaubt wirken – und sind: SF als nostalgischer Rückblick.

Inhalt:

– Rick Rubin: Der letzte Appell (Final Muster, 1961), S. 7-37: In ferner Zukunft herrscht weltweit Frieden, was ein Heer in kriegerischen Zeiten eingefrorener Soldaten nicht akzeptieren wollen.

– Charles V. De Vet: Zeitkorrektur (Return Journey, 1961), S. 38-48: Als die Siedler von der Erde lästig werden, schaffen die fremdplanetaren Ureinwohner sie sich mit Hilfe ihrer besonderen Fähigkeit vom Hals.

– Henry Slesar: Die seltsamen Geschäfte des Salvatore Ross (The Self-Improvement of Salvadore Ross, 1961), S. 49-62: Mr. Ross kann körperliche Fähigkeiten und Lebensjahre mit Mitmenschen tauschen, was er trickreich nutzt, um zu Reichtum und einer schönen Braut zu kommen.

– Theodore L. Thomas: Der Test (Test, 1962), S. 63-67: Die Führerscheinprüfung dieser Zukunft enthüllt folgenschwer rücksichtsloses Verkehrsverhalten, noch bevor es sich ereignen kann.

– Will Stanton: Du bist dabei! (You Are with It!, 1962), S. 68-77: Die neue Fernsehshow ist so spannend, dass die Teilnehmer buchstäblich in ihr aufgehen und keine Lust verspüren, in die langweilige Realität zurückzukehren.

– J. T. McIntosh: Aus eins mach zwei (One in Two, 1962), S. 78-95: Für den perfekten Mord verdoppelt er sich mit Hilfe eines Materietransmitters, muss jedoch feststellen, dass er sich selbst nicht trauen kann.

– C. Brian Kelly: Der Tunnel (The Tunnel, 1961), S. 96-99: Seit der Wissenschaftler bei einem Experiment seine Gattin umgebracht hat, brütet der dabei intelligent gewordene Küchenschaben-Witwer über einem Racheplan.

– John Wyndham: Experiment mit kleinen Fehlern (A Stitch in Time, 1961), S. 100-115: Vor fünf Jahrzehnten verschwand ihr Bräutigam spurlos; erst als alte Frau erfährt sie, wo bzw. was damals bzw. heute geschehen ist.

– Isaac Asimov: Die Maschine, die den Krieg gewann (The Machine That Won the War, 1961), S. 116-122: Dank des leistungsstarken Computers wurden die feindlichen Außerirdischen geschlagen, obwohl seine Entscheidungen auf dem denkbar simpelsten Prinzip basierten.

– Gordon R. Dickson: Die Unvollkommenen (Rehabilitated, 1961), S. 123-141: Weil die Klügsten und Fähigsten die Erde verlassen, schlägt die Stunde jener weniger Begabten, die spezielle Talente zum Einsatz bringen können.

– Arthur C. Clarke: Saturn im Morgenlicht (Saturn Rising, 1961), S. 142-155: Ein Mann verfolgt konsequent seinen Traum vom Hotel mit Blick auf die Ringe des Planeten Saturn.

Erster Blick in eine literarische Wundertüte

Seit 1949 erscheint das US-amerikanische „Magazine of Fantasy and Science Fiction“. Es präsentiert/e nicht nur klassische Science-Fiction-, sondern auch (zeitgenössische) Fantasy-Stories und gewann aufgrund der Qualität seines Inhalts rasch den Zuspruch der Kritik und ein zahlreiches Publikum. Hier erschienen Geschichten, die zu den besten ihrer Genres gehör(t)en, was dieses Magazin in eine wahre Schatztruhe verwandelte, die 1963 auch in Deutschland geöffnet wurde. „Saturn im Morgenlicht“ hieß die erste Sammlung, die aus MF&SF-Bänden der Jahre 1961/62 zusammengestellt wurde. Der Auswahlband war erfolgreich; ihm folgten bis 2000 100 weitere Ausgaben, bevor die Reihe mit Nr. 101 („Die Roosevelt-Depeschen“) eingestellt wurde.

Aller Anfang ist bekanntlich schwer. Aus heutiger Sicht kann „Saturn im Morgenlicht“ in erster Linie als nostalgischer Blick in die Vergangenheit der Zukunft unterhalten. Ungeachtet des Ruhms, den das MF&SF zu Recht genießt, erschienen dort auch Geschichten, denen die Zeit schlecht bekommen ist. Manche waren schon zum Zeitpunkt ihres Ersterscheinens keine Meisterwerke, andere sind inhaltlich völlig veraltet und/oder mit einer ‚originellen‘ Finalwendung geschlagen, die heute, da „Unterhaltung“ oft anders definiert wird als Anfang der 1960er Jahre, spurlos verpufft.

Nicht einmal Größen wie Isaac Asimov (1920-1992) sind dagegen gefeit. Während die Idee eines nur vorgetäuschten Super-Computers recht plausibel präsentiert wird, wirkt die Zuspitzung auf das ultimative Zufallsprinzip nicht (mehr) witzig. Auch Henry Slesar (1927-2002) findet für eine durchaus kurzweilige Story nur eine grobschlächtige Auflösung: Hier schrieb ein Autor für Geld und beschränkte sich auf schriftstellerisches Handwerk.

Rosinen und Brosamen

So sollte man auch die Beiträge von Charles Vincent de Vet (1911-1997), J. T. McIntosh (= James Murdoch MacGregor, 1925-2008) und Charles Brian Kelly (geb. 1935) beurteilen, wobei letzterer immerhin eine Küchenschabe erzählen lässt, was zuverlässig das Interesse des Lesers weckt. Der Idee folgt jedoch ein eher abrupter als origineller Höhepunkt.

Science-Fiction ist immer auch Spiegel der Gegenwart, was „Saturn im Morgenlicht“ für die Welt um 1960 belegt. Der Globus war politisch in zwei gegnerische Machtblöcke geteilt, die sich in einem ‚kalten‘ Krieg misstrauisch und wachsam gegenüberstanden. Die „Kommunisten“ (Sowjetrussland und China und ihre mehr oder weniger freiwilligen Verbündeten) und der „freie Westen“ sorgten für ein Klima, in dem die Angstvorstellung stets über den Startknöpfen unzähliger Atomraketen schwebender Finger präsent und real war.

Der Gedanke an einen dritten, dieses Mal globalen und atomaren, d. h. alles zerstörenden Weltkrieg schlug sich auch in der (trivialen) Unterhaltung nieder. Allegorisch beschäftigt sich Rick Rubin (1932-?) mit den Folgen einer Aufrüstung, die ihre ‚Opfer‘ – die Soldaten – so (ver-) formt, dass sie vom Krieg nicht mehr lassen können und wollen, Diese Mahnung wird recht plump vorgetragen, und eine plausible Lösung ist dem Verfasser – wen wundert’s? – nicht eingefallen. Theodore L. Thomas (1920-2005) fürchtet im Geiste George Orwells (aber ohne dessen Talent) einen zukünftigen Überwachungsstaat, der die Privatsphäre seiner Bürger dem obskuren Wohl einer behaupteten Allgemeinheit opfert. In eine ähnliche Kerbe zielt William Frank Stanton (1918-1996), der sich der (nicht nur) zeitgenössischen Sorge über ein gerade seinen Siegeszug antretenden Massenmedium – das Fernsehen – widmet, das sein Publikum allzu erfolgreich in parallele ‚Realitäten‘ zu entführen schien.

Ohne erhobenen Zeigefinger

Vergleichsweise zeit-, aber auch ein wenig zahnlos wirken die Erzählungen von John Wyndham (= John Wyndham Parkes Lucas Beynon Harris, 1903-1969), Gordon R. Dickson: (1923-2001) und Arthur C. Clarke (1917-2007). Sie knüpfen an Ideen an, die außerhalb des Genres bereits existierten und eigentlich immer funktionieren, weil sie sich um grundsätzlich Menschliches drehen. Wyndham greift dafür auf die klassische Zeitreise zurück. Die Begegnung des jung gebliebenen Liebhabers mit der gealterten Braut und damit die Konfrontation mit einer verlorenen, nur verdrängten, aber nie verarbeiteten Liebe war 1960 ganz sich nicht neu. Zudem ist der Autor niemand, der über emotionales Feingefühl verfügt. Dennoch blieb seine Story lesbar, weil Wyndham ihr keine ‚Moral‘ aufzwingt, die zuverlässig jede (Unterhaltungs-) Literatur altern lässt.

Dickson präsentiert ein interessantes Gedankenspiel, dessen Auflösung sogar überraschen kann. Er platziert es im „inner space“ des (zukünftigen) Menschen, der ungeachtet großartiger technischer Neuerungen Mensch bleiben wird und versuchen muss, mit dem selbst in Gang gesetzten Fortschritt (gesellschaftlich und moralisch) Schritt zu halten – eine Herausforderung, die Dickson als solche erkennt, obwohl er seine Story zu einer Zeit und in einem Land schrieb, in der bzw. in dem technischer Fortschritt und menschliche Evolution gern gleichgesetzt wurden.

Ein wenig sentimental wird ausgerechnet Arthur C. Clarke, was freilich zu einer Erzählung passt, die sich des technischen Fortschritts der Zukunft bedient, um daran zu erinnern, dass menschliche Träume einen wichtigen Katalysator für den naturwissenschaftlichen Fortschritt bilden. Den enormen, nüchtern-technischen Aufwand, den es kostet, einen fremden Planeten zu erreichen, erwähnt Clarke dagegen quasi nebenbei. Die Kraft der Vision ist eine auch heute gültige Quelle – eine Erkenntnis, die „Saturn im Morgenlicht“ abschließend abrundet und aufwertet.

Herausgeberin

Charlotte Winheller wurde am 27. November 1935 in Mohrungen, Ostpreußen, geboren, studierte Englische Literatur am University College London, ließ sich in München zur Dolmetscherin ausbilden und arbeitete später als Übersetzerin. Sie übertrug vor allem Science-Fiction-Romane und -Storys ins Deutsche und gab 1963/64 die ersten neun Bände einer im Heyne-Verlag herausgegebenen Serie, die auf Erzählungen aus dem US-amerikanischen „Magazine of Fantasy & Science Fiction“ zurückgriff.

Als Charlotte Franke – sie war einige Jahre mit dem deutschen (SF-) Schriftsteller Herbert W. Franke verheiratet – schrieb Winheller in den 1970er Jahren einen SF-Jugendroman und einige Kurzgeschichten. Im Mai 1995 ist Charlotte Winheller in München gestorben.

Taschenbuch: 155 Seiten
Originalausgabe = dt. Erstausgabe (Auswahl aus The Magazine of Fantasy and Science-Fiction, Jg. 1961 u. 1962)
Übersetzung: Charlotte Winheller
http://www.randomhouse.de/heyne

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