Liza Marklund – Prime Time (Lesung)

Die bekannteste Fernsehmoderatorin Schwedens wird erschossen in ihrem Sende-Übertragungswagen aufgefunden. Der Kreis der Tatverdächtigen ist groß: fast alle Teilnehmer ihrer letzten Talkshow. Die Stockholmer Journalistin Annika Bengtzon ermittelt in der Medienszene und stößt in ein Schlangennest, in dem keiner dem anderen etwas gönnt.

_Die Autorin_

Liza Marklund, geboren 1963, studierte Journalismus und arbeitete bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Mehrere Jahre war sie Nachrichtenchefin des schwedischen Privatsenders „TV 4“. Diesen Traumjob kündigte sie, um Romane zu schreiben. Für ihren Debütroman „Olympisches Feuer“ (dt. 2000) erhielt sie bedeutende Literaturpreise. Auch die Nachfolgeromane „Studio 6“ und „Paradies“ wurden offenbar erfolgreiche Krimis. Marklund lebt in Stockholm. (Verlagsinfo)

_Die Sprecherin_

Judy Winters Karriere am Theater begann 1962. Die 1944 Geborene wurde von Peter Zadek ans Bremer Theater engagiert und feierte in Musicals wie „My Fair Lady“ oder „Hello Dolly“ große Erfolge. Es folgten zahlreiche TV-Filme, u.a. Simmel-Verfilmungen und der Kult-Tatort „Reifezeugnis“. Mit dem Programm „Marlene“ hat Judy Winter einen Meilenstein ihrer Kunst gesetzt. Damit ging sie im Sommer 2001 auf Japan-Tournee. Sie hat bereits Marklunds Romane „Studio 6“ und „Paradies“ gelesen.

Winter liest die von Gisela Mathiak gekürzte Fassung.

_Handlung_

Annika Bengtzon ist Journalistin bei der Stockholmer Boulevardzeitung „Abendblatt“. Sie will gerade mit Lebensgefährte Thomas und ihren zwei Kindern Ellen und Kalle in einen Kurzurlaub zu Thomas‘ Eltern auf dem Land aufbrechen, als ihr Chef anruft. Da sie Bereitschaftsdienst hat, muss sie seinem Ruf folgen, so Leid es ihr auch tut. Thomas droht: „Das werd‘ ich dir nie verzeihn.“ Sie geht dennoch, denn an diesem Wochenende ist kein anderer Reporter verfügbar. Vielmehr ist der Kollege Karl Wennagren selbst unakömmlich – am Tatort.

Der Grund für den dringenden Einsatz draußen an der Küste ist der Mord an Schwedens erfolgreichster Fernsehmoderatorin Michelle Carlsson. Dort hatte sie auf Schloss Ixterholm einige Sendungen für die Reihen „Sommerschloss“ und „Frauen-Couch“ aufgenommen und drehte parallel dazu einen Dokumentarfilm über sich selbst. Als Annika eintrifft, sind die Medien schon da, können aber nicht in das Schloss, weil die Polizei unter Kommissar Kuh alles abgesperrt hat.

Von ihrer Freundin Anne Snaphane, die sich im Schloss befindet, erfährt Annika, dass der Kommissar rund ein Dutzend Leute festhalten lässt, die als Zeugen angesehen werden. Sie und andere, die schon abgereist sind, waren in der vorhergegangenen Mordnacht im Schloss, als nach der letzten Sendung Radau und Streit ausbrachen. Michelle und ein Rockstar hatten danach in einem abgelegenen Kämmerchen Sex miteinander.

Eine „Neonazi-Tante“, Hannah Persson, hatte die Tatwaffe, einen Revolver, mit in die Sendung gebracht und damit gegenüber den feministischen Anarchistinnen angegeben, die natürlich sofort mit Prügel drohten. Annika erkennt schnell, dass praktisch jeder der zwölf verbliebenen Zeugen ein Motiv hatte, Michelle umzubringen. Folglich muss sie versuchen, mit jedem zu sprechen, um den Täter, den die Polizei nicht findet, aufzuspüren.

Fotos, die Annikas Kollege Karl Wennagren gemacht hat, und eine klammheimlich mitgeschnittene Tonaufnahme aus dem Übertragungswagen, wo man die Leiche fand, spielen eine entscheidende Rolle beim Aufspüren des Täters.

Während ihrer Ermittlungen spitzt sich Annikas Beziehungskrise mit Thomas zu. Doch er muss erst einmal lernen, mit den hohen Ansprüchen seiner Mutter fertig zu werden und innerlich von seiner Exfrau Eleonor, einer Bankdirektorin, Abschied zu nehmen. Zudem befürchtet er, demnächst arbeitslos zu werden, was ja bekanntlich nie gut fürs männliche Ego ist, und muss auch den Haushalt managen.

In diesem Szenengeflecht fällt es kaum auf, dass sich Annika von ihrem Redaktionschef Schümann dazu benutzen lässt, den unfähigen Chefredakteur und Herausgeber des „Abendblatts“, Torstensen, mit einer raffinierten Intrige auszubooten. Ob sie damit den Untergang ihres Blattes abwenden kann?

_Mein Eindruck_

In einer großen deutschen Tageszeitung war ein Porträt von Liza Marklund zu lesen. Darin bekennt sie, dass „Prime Time“ geschrieben wurde, als die Autorin unter dem Einfluss der Ereignisse nach der Ermordung der beliebten schwedischen Ministerin Anna Lindh stand, die sie selbst gut gekannt hatte. Zunächst wollte die Polizei, die unter dem Fahndungsdruck der Medien arbeitete, einen anderen als den wahren Mörder verhaften, musste ihn aber wieder laufen lassen, als die Verdachtsmomente nicht ausreichten.

In „Prime Time“ stellt die ehemalige Reporterin die Fähigkeit der Medien in Frage, überhaupt konstruktiv zur Ermittlung von Tatverdächtigen fähig zu sein. Sie stellt sogar in Frage, dass es ihnen überhaupt um die Wahrheit, um den wahren Täter gehe. Ob ihnen nicht die Quote, die Verkaufszahlen viel wichtiger seien. Und ob es nicht einige unfähige und korrupte Leute zu viel in den Reihen der Medien gebe. Das sind wichtige Fragen, die uns alle angehen.

Andererseits kann sich Marklund nicht hinstellen und mit dem Finger auf bestimmte Leute zeigen. Stattdessen lässt sie ihre Heldin Bengtzon nicht so sehr den Täter ermitteln, sondern vielmehr die Umstände, die zu der Mordtat geführt haben. Sie bezieht das gesamte Umfeld mit ein: Biografie, Psychologie, berufliche Laufbahn, wirtschaftliches Umfeld, personelle Hierarchien – und schließlich auch die Wahrheit des eigentlichen Tathergangs, den zu ermitteln die Polizei offenbar unfähig ist, obwohl Annika Bengtzon und Anna Snaphane das gleiche Material auswerten: Fotos, Tonaufnahmen, Videos.

Die Ermittlerin von eigenen Gnaden Bengtzon erscheint aber nicht als Heilige, die sich zur Richterin aufschwingt, sondern als normale (ziemlich gestresste) Frau, die sich auch um Kinder und einen Lebensgefährten zu kümmern hat. Zu ihrem gelinden Entsetzen merkt sie, dass sie Thomas genau so behandelt wie ihren ersten Mann, den sie in Notwehr tötete. (An einer Stelle heißt es, sie sei auf Bewährung frei.) Sie hat also nichts dazugelernt? Sie merkt es gerade noch rechtzeitig, um das Richtige zu tun.

Sie ist also eine Ermittlerin, die sich stets bemüht, doch mitunter wird auch das missverstanden – oder sogar missbraucht. Denn die Autorin zeigt nicht nur das Fernsehen als Schlangennest, in dem keine der anderen etwas könnt – und das wusste M. Carlsson am besten -, sondern auch Bengtzons eigene Redaktion: Ihr eigener Redaktionschef Schümann schickt sie auf Recherche gegen seinen Chef. Torstensen hat wohl Insidergeschäfte getätigt, aber das muss man ihm erstmal nachweisen. Es ist schon eine vielsagende Szene, wenn Schümann seine „Munition“ herausholt und sich überlegt, welche Unterlagen – die meisten illegal kopiert – er verwenden soll, um Torstensen „abzuschießen“. Gottlob, nur für einen guten Zweck: Um das Revolverblatt, das sich mit jeder Ausgabe eine Verleumdungsklage einhandelt, wieder auf anständigen Kurs zu bringen. Doch es ist sicher kein Zufall, wenn Torstensens Missetat in einem Fernsehinterview enthüllt wird, das Anne Snaphanes Lebensgefährte beim Fernsehen führt. Und Anne ist Annikas beste Freundin. Gelobt sei die Seilschaft!

_Spannung gefällig? Ja, bitte!_

Spannung darf in einem Krimi wie diesem nicht fehlen. Und doch ging sie über längere Strecken hinweg flöten. Das liegt nicht an fehlender Brisanz des Themas – die ist ja gegeben -, sondern an dem dramaturgischen Problem, dass die Heldin knapp ein Dutzend Verdächtige zu beackern hat. Es dauert eine ganze Weile, bis Verdachtsmomente aufgedeckt und geprüft sind. Selbst am Schluss der langwierigen Ermittlungsarbeit bedarf Bengtzon der mutigen Tat ihrer Freundin Anne, um die wahre Täterin zu einem Geständnis zu veranlassen.

Dass dies mit einer Bandaufnahme gelingt, die von der Polizei geprüft wurde, spricht ja nicht gerade für die Qualität der Polizeiarbeit, wie schon die ganze Geschichte hindurch Bengtzon dem Kommissar ihre hilfreichen Tipps geben muss, damit überhaupt etwas vorankommt. Der Inhalt des Bandes wird uns nur häppchenweise mitgeteilt, auch eine clevere Methode, Spannung aufzubauen.

_Sex, massenhaft_

Müssen schwedische Romane immer Sexszenen enthalten? Nicht immer, aber ganz bestimmt, wenn sie die Medien aufs Korn nehmen. Daher finden saftige Fotos ihren Weg in die Redaktion von Annikas Revolverblatt – und der Fotograf würde sie am liebsten auf Seite 1 bringen: Michelle Carlssen beim Sex mit Rockstar John Essex – wow, was für ein Knüller! („Oder wenigstens auf der Homepage, Chef? Bitte!“)

Auch besagte Bandaufnahme dreht sich um Michelles sexuelle Gymnastik, diesmal im Ü-Wagen. Und unter Einsatz eines Schießeisens… Und dass auch Anne Snaphane einen Unterleib hat, belegt ebenfalls eine entsprechende Szene. Als ob wir das nicht schon irgendwie geahnt hätten. Aber die Szene verrät auch ein wenig Humor, wenn Anne und Mehmet von Annes Kind gestört werden. Ansonsten ist der Humor eher grimmiger Art, mit einer gehörigen Portion Zynismus.

_Die Sprecherin _

Judy Winter verfügt über einen unglaublichen Stimmumfang, möglicherweise geschult durch ihre Musicalkarriere. Die Stimme reicht vom maskulinen Bass bis in die Höhen von Kinderstimmchen und Zickengekreisch. Deswegen fällt es ihr auch nicht schwer, Vertreter beider Geschlechter ebenso glaubwürdig zu sprechen wie etwa ein Kind. Und die Hauptfigur des Romans, Annika Bengtzon, hat ja gleich zwei davon. Vereinzelt kommen auch elektronische Verzerrungen hinzu, da ja in der Medienlandschaft laufend Stimmen über irgendwelche Endgeräte verfremdet ausgegeben werden.

Die Wirkung von Judy Winters Vortrag ist durchaus fesselnd. An spannenden Stellen liest sie langsam, an actionreichen natürlich schneller. Dennoch gehört die Mehrheit der Stimmen weiblichen Figuren, und da könnte die Charakterisierung durch unterschiedliche Stimm- oder Tonlagen größer sein, um die jeweilige Figur besser unterscheidbar zu machen – eines der Hauptprobleme bei einem Hörbuchvortrag. Bei einer Handlung mit über einem Dutzend Figuren ist dies umso notwendiger.

Beeindruckend ist Winters Beherrschung des Englischen und Schwedischen, die sie gleichermaßen korrekt aussprechen kann. Mittendrin rezitiert sie eine längere englische Passage, ein Briefzitat. Für den des Englischen nicht Mächtigen ist das vielleicht langweilig, aber ich fand Winters Aussprache einwandfrei. Ihre Aussprache des Schwedischen stellt sicher ähnliche Ansprüche, und wie im Englischen und Deutschen entspricht das geschriebene Wort nicht immer dem gesprochenen. Das kann besonders bei den zahlreichen Namen des Romans Verwirrung stiften, insbesondere dann, falls die Aussprache schwankt. Aber bei Personennamen wie Persson oder Carlssen kann man nicht viel falsch machen, oder?

_Unterm Strich_

„Prime Time“ – der englische Begriff steht für die „Hauptsendezeit“ am frühen Abend zwischen 19 und 21 Uhr. Zu dieser Stunde sind die Quotenjäger unterwegs. Doch einige davon leben recht gefährlich, wie der Mord an der TV-Moderatorin zeigt. Die Geschichte der Aufklärung dieses Mordes ist durchaus spannend mitzuverfolgen, und die Autorin stützt die Authentizität des geschilderten möderischen Medienmilieus mit den Beobachtungen aus ihrer Tätigkeit bei Fernsehen und Zeitung.

Allerdings fragt man sich bisweilen, was das nun werden soll, so ziellos erscheint die Fragerei der Hauptfigur im Kreis der Verdächtigen. Das soll wohl nur verschleiern, dass sich Mosaikstein zu Mosaikstein fügt, bis endlich – beinahe – das Bild komplett ist. In diesem Irrgarten aus Motiven und Tätern erscheint plötzlich selbst die engste Freundin Bengtzons, Anne, als mögliche Täterin: Jeder hatte ein Motiv, Michelle das Lebenslicht auszublasen. Und diese war offensichtlich auch nicht gerade ein Sonnenscheinchen.

Ist also Marklund ein weiblicher Mankell? Das politische und moralische Anliegen hätte sie ja schon mal. Das erzählerische Vermögen geht ihr ebenfalls nicht ab, ganz im Gegenteil. In „Studio 6“ nahm sie die Korruption von Politikern aufs Korn, nun die in einem Medienkonzern und beim Fernsehen.

Eines steht fest: Man kann nach Marklund ebenso süchtig werden wie nach Mankell. Und unweigerlich dürfte sich das ZDF bereits um die Verfilmung dieser Romane bemühen. Nordlandkrimis sind ja in.

Das Hörbuch „Prime Time“ ist zwar auf die wichtigsten Vorgänge gekürzt, mir aber trotzdem immer noch zu lang: Vier CDs statt der 366 Minuten auf fünf CDs hätten auch gereicht. Judy Winter zuzuhören, ist ein Genuss und ein Erlebnis. Sie lässt das Geschehen erst lebendig werden und sorgt für spannende und bewegende Highlights.

_Michael Matzer_ © 2004ff