John Scalzi (Hrsg.) – Metatropolis

Dieses Buch ist kein Roman. Das ist an sich schon eine recht seltene Form von in Deutschland veröffentlichter Literatur aus Übersee, finden wir in den Buchhandlungen doch vorwiegend backsteinähnliche Klopper von über 500 Seiten Umfang. Nein, dieses Buch hat zwar immerhin 416 Seiten, doch tummeln sich darauf der Autoren ihrer fünf, die sich den Platz für jeweils eine – Kurzgeschichte? Nein, eher Novelle – teilen.

Eine Anthologie also. Typischerweise versammeln sich in Anthologien die Geschichten einiger Autoren, möglicherweise sogar zu einem Thema, doch meist völlig zusammenhanglos. Auch hier macht „Metatropolis“ einen Unterschied: Das Autorenteam entwarf gemeinsam eine utopische Welt, der sie jeweils eigene Facetten durch ihre eigene, von den anderen unabhängig lesbare Geschichte verliehen. Das Gesamtergebnis ist nicht nur eine Sammlung, sondern ein zusammen gewachsenes Ganzes mit fünf spektakulären Blickwinkeln.

Jay Lake, in Deutschland bis dato nicht weiter bekannt, doch von John Scalzi in gleicher Weise wie die anderen Kollegen hochgelobt, erzählt von einer unsichtbaren Stadt, deren Bewohner „ausgestiegen“ sind und sich weitgehend ohne energetische Hilfsmittel bewegen. So sind sie auch für Satellitenüberwachung unsichtbar, zumal sie ihre Hauptarbeitszeit in den dunklen Stunden der Nacht haben. Es sind die hellen Köpfe, die sich hier versammeln und versuchen, ein „footprint-neutrales“ Leben zu entwickeln, um der Menschheit zu retten, was vor einem endgültigen Kollaps noch zu retten ist. In dieser Stadt, Cascadia, die entlang Amerikas Westküste wie eine Kaskade verläuft, finden sich die meisten der revolutionären Techniken, die zwar OpenSource darstellen, von den Vertretern des Kapitals aber unzugänglich gehalten/gemacht werden sollen. Lake berichtet von der Tragödie, die ein paar unabhängige Agenten des Kapitals nach Cascadia verschlägt, wo sie von ihrem Charme belegt werden oder ihr auch ihr Charisma aufprägen, bis sie miteinander und den Zielen konfrontiert werden.

Mit wenigen Worten streut Lake ein blühendes Bild der entworfenen Gesellschaft wie auch der Landschaft, der „grünen“ Stadt, in die Fantasie des Lesers. Er nutzt den knappen Raum und ergeht sich nie in weitschweifigen Erklärungen oder Darstellungen. Zentrum seiner Geschichte sind zwei Protagonisten und ihr menschliches Umfeld, wobei Lake zu einem Mittel greift, was ihm eine Raffung mancher Geschehnisse erlaubt: Auszüge aus Chroniken und Abhandlungen geben den anderen Abschnitten, in denen die Geschichte live erzählt wird, einen tieferen Hintergrund und bereiten das richtige Verständnis beim Leser vor. Umso erstaunlicher ist, wie menschlich die Charaktere in Erinnerung bleiben, selbst wenn die folgenden vier Geschichten mit ihrem eigenen Flair den ersten Eindruck überpinselt haben.

Lakes Geschichte „In den Wäldern der Nacht“ ist ein wunderschöner Einstieg in diesen Band, auch wenn er sich einem Blickwinkel widmet, der in den folgenden Geschichten nur knappe Erwähnung findet – doch vielleicht macht es ihn gerade deshalb so wichtig und bietet den ersten Hintergrund für alles Kommende.

Tobias S. Buckell hat bereits einige Romanübersetzungen nach Deutschland geschafft (falls es für englischsprachige Literatur als Erfolg gilt, ins Deutsche übersetzt zu werden). Er bringt zwei neue Aspekte in das Gesicht dieses Entwurfs ein: Die vertikalen Farmen und das Insten. In seiner Geschichte erfährt man, dass große Häuser, Wolkenkratzer und Ähnliches, zu teuer und zu energieaufwändig sind in diesen Zeiten der Energieknappheit. Um trotzdem mit den vorhandenen Bauwerken etwas anfangen zu können, sollen sie als „Farmen“, als Ackerland umgestaltet und nutzbar gemacht werden – ein übermenschliches Projekt. Hieraus entsteht das „Raumschiff Detroit“, wie der Titel Buckells Geschichte ist. Das Insten ist eine in alle Belange der Dienstleistung verbreitete Form der Auftragsvergabe, die Buckell an den unterschiedlichsten Beispielen beschreibt – sei es nun, dass man ein Paket an eine Straßenecke legt und jemand mit der gleichen Richtung nimmt es ein Stück mit und wird dafür bezahlt, oder man organisiert Aufstände oder Observationen, ohne dass die Auftragnehmer dafür zu belangen sind, da sie zum Beispiel „einfach nur an einer Kreuzung stehen und immer, wenn ein Streifenwagen vorbei fährt, eine SMS an eine bestimmte Nummer schicken“.

Buckell beschreibt anschaulichst die Möglichkeiten mit geinsteten Armeen oder Aufständischen, wenn ein gutes Organisationstalent alle Fäden in der Hand hält. Doch er macht auch auf die moralischen Probleme aufmerksam, die sich hieraus entwickeln. Die Geschichte selbst ist eine Art Heldengeschichte, denn der Protagonist, obwohl durch widrige Umstände am Ende der Gesellschaftsleiter, ist ein Profi und Genie in dem, was Buckell für ihn vorgesehen hat …

Elizabeth Bear ist die Dritte im Bunde und ebenfalls im deutschen Sprachraum unbekannt. Ihr Beitrag wirft allerdings die Frage auf, wieso das so ist.

Sie schickt die einzige Protagonistin ins Rennen, eine charmante Frau mit Dreadlocks und einem schnellenden Mittelfinger, die flott mit dem Fahrrad unterwegs ist, um ihre Tochter zu retten. Bear entwirft eine urbane Subkultur mit Erkennungsmerkmalen, die sie einander zugehörig machen und unabhängig von der öffentlichen sozialen Schicht je nach Leistungen für das gemeinsame Projekt mit entsprechendem Zugang zu den Mitteln der Gruppierung ausstatten. Es ist eine angenehme Erzählung über die Hoffnung, die Gestaltung einer Kultur, die auf Vertrauen basiert und in der jeder zum Wohl der Allgemeinheit Zeit und Energie investiert, wofür er mit Vertrauenspunkten belohnt wird, die ihn in der Kultur quasi aufsteigen lassen. Ein Utopia findet die Protagonistin, allerdings eines, für das es sich zu kämpfen lohnt, denn „Das Rot am Himmel ist unser Blut“ …

John Scalzi selbst widmet sich als Herausgeber, wie er im Vorwort zu seinem Beitrag schreibt, der Aufgabe, zwischen den einzelnen Beiträgen zu kitten, das heißt, ein Loch zu finden, das es noch gilt zu stopfen. Und so nimmt er sich einer einfachen Szenerie an, die mit dem Start eines normalen Jungen in das Berufsleben einer der abgeschotteten Städte beginnt. Hier geht es um Systeme, um die Vor- und Nachteile des Abriegelns, um die Selbstbestimmung und Freiheit. Der Titel ist, wie er selbst kritisiert, kaum auszusprechen, doch „Utere nihil non extra quiritationem suis“ ist so aussagekräftig und erfasst einen Aspekt der neuen Gesellschaften sehr genau, die mit verbesserten Strukturen den Energiemangel auszugleichen angehalten sind: „Nutze alles außer dem Quieken“ – hier bezogen auf Schweine, die gentechnisch soweit verändert sind, dass sie außerordentlich produktiv sind – in jeglicher Hinsicht, wie der Protagonist schmerzlich erfahren muss.

Scalzi erzählt auch, dass es bei abgeschotteten Systemen immer jemanden gibt, der die Informationen zum Allgemeingut machen will – und ebenso, dass auf dieser Revolte gegen die Exklusivität auch stets solche mitreiten, die aus der Sache persönlichen Nutzen ziehen wollen.

Karl Schroeder schwappt derzeit mit einer Romanserie über den großen Teich, in der er selbst eine grandiose Zukunftsgesellschaft entwirft. Auch für Metatropolis hat er laut Scalzi einen Großteil der Ideen beigesteuert, und Scalzi schwärmt in seinem Vorwort zu dieser abschließenden Geschichte „Ins ferne Cilenia“ von einer Bewusstseinserweiterung, an der Schroeder den Leser teilhaben lässt.

Hier geht es um eine ganz andere Form der Stadtentwicklung: Über ARGs, Alternate Reality Games, bildeten sich nicht nur Städte, sondern gar nationsähnliche Gebilde, deren Mitglieder in der zugehörigen Zukunft sogar die Staatsbürgerschaft ihrer „realen“ Staaten ablehnten, weil sie sich anderen Gemeinschaften, die sich über die Kultur, Sozialität und Wirtschaft von onlineunterstützten Spielwelten definieren, stärker verbunden fühlten. Schroeder entführt den Leser in eine umso fremdartigere Welt, als deren Bewohner zwar in realen Städten wie Stockholm „anwesend“ sind, sich durch Overlaybrillen, die sowohl Gegenständen, Häusern und Personen neue Texturen verleihen, beziehungsweise auch Dinge und Personen einblenden, die vielleicht auf der anderen Seite der Welt weilen, jedoch auf einer anderen Realitätsebene befinden und dort engagieren. Und was wäre eine dieser Welten über der Welt, wenn es nicht noch Unterstufen davon gäbe, die verwirren könnten, wenn nicht ein Karl Schroeder ihnen faszinierendes Leben einhauchen würde?

Allen Geschichten zu eigen ist ein ungewöhnlicher Charme, der den Leser sofort in seinen Bann schlägt und nicht wieder entlässt, bis der nächste Erzähler sich zu Wort meldet und seine eigene Epiphanie verbreitet. Es ist ein dünnes, schnelllesiges und fantastisches Buch, das gerade durch die Gemeinsamkeiten der grundlegenden Dinge gewinnt, ebenso wie durch die verschiedenen Blickwinkel über die verschiedenen Schriftsteller und ihren jeweiligen Stil. Scalzi schreibt, dass es ursprünglich als Hörproduktion verfasst wurde, doch es ist ohne Frage eine Produktion, die auch selbst sehr überzeugend lesbar ist. Projekte dieser Art sind gerade in Deutschland ein seltener Genuss, den man aber jedem Leser warm ans Herz legen muss!

Taschenbuch: 416 Seiten
Originaltitel:
Metatropolis
Deutsch von Bernhard Kempen
ISBN-13: 978-3453526846

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