Jean-Christophe Grangé – Das Imperium der Wölfe

Die Morde an drei türkischen Frauen erschüttern das Pariser Türkenviertel. Die Kripo traut sich nur mit unorthodoxen Methoden, in dieser Schattenwelt zu ermitteln. War es ein Serienmörder? Keineswegs: Eine Frau wird von den Killern der türkischen Mafia gesucht, eine Verräterin. Doch sie suchen anhand des falschen Bildes …

_Der Autor_

Jean-Christophe Grangé ist der Franzose, der die literarische Vorlage zu dem Thriller [„Die purpurnen Flüsse“ 936 geliefert hat. Weitere Romane sind „Der Flug der Störche“ und das packende Buch „Der steinerne Kreis“.

Sein besonderes Markenzeichen ist das jeweils sehr spannend verarbeitete außergewöhnliche Thema. In „Purpurne Flüsse“ war es die Elite-Uni, die als genetisches Experimentierfeld und Zuchtanstalt missbraucht wurde. In [„Der steinerne Kreis“ 1349 ging es unter anderem um geheime russische Atomanlagen. Auch in „Imperium der Wölfe“ geht es um eine furchterregende Geheimorganisation, die sich aus nationalistischen Großmachtträumen speist.

Und praktisch immer bei Grangé geht es um Identität und Anonymität. In „Purpurne Flüsse“ treten Zwillinge auf. In „Imperium der Wölfe“ ist das nicht mehr nötig: ein einzelner Mensch kann zwei Identitäten oder mehr besitzen. Und nicht nur an der Oberfläche …

_Handlung_

Anna Heymes hat sich bislang für eine kultivierte Pariserin gehalten und sah auch so aus: äußerst schlank, blasse Haut, schwarzes Haar, große Augen und modische Kleidung. Ihr Mann Laurent ist ein hohes Tier bei der Polizei und lädt Anna gerne zu den Herrenrunden der Oberbullen ein, die Philippe Charlier, der Chef der Anti-Terror-Einheiten, veranstaltet. Anna besteht darauf, einer Arbeit nachzugehen: Sie arbeitet Teilzeit in einem Schoko-Laden an einem schicken Boulevard.

In letzter Zeit plagen Anna ein wiederkehrender Albtraum und seltsame Erinnerungslücken. Sie kann sich nicht mehr an Gesichter erinnern, die sie noch kurz zuvor gesehen hat. Selbst ihr eigener Mann bereitet ihr Angstzustände, wenn unvermittelt sein Gesicht auftaucht. Der besorgte Polizist schickt sie zu einem Neurologen in einer Militärklinik. Eric Ackermann durchleuchtet ihr Gehirn, findet aber nichts Ungewöhnliches. Doch als er eine Gewebeprobe von ihrem Hirn nehmen möchte, rastet Anna beinahe aus.

Sie vertraut sich einer Psychiaterin an: Die geschiedene Mathilde Wilcrau ist zwar schon ein älteres Semester, doch körperlich total fit. Und sie kennt sowohl Eric Ackermann als auch die Uni, wo er studiert hat. Das lässt sie das Schlimmste befürchten. Dass Ackermann Anna in einer Militärklinik untersucht hat, macht sie stutzig. Und tatsächlich bringt es ein Anruf bei Mathildes Exmann ans Licht: Jede Frage nach Annas Geheimnis ist wie der Schritt in ein Minenfeld. Was sie herausfindet, ist schrecklich:

Laurent ist nicht Annas Mann.
‚Anna Heymes‘ ist nicht Annas wahrer Name.
Dies ist nicht Annas Gesicht.
Dies ist nicht Annas Leben.
Wer ist Anna dann? —

Im Pariser Türkenviertel, wo eingeschmuggelte Arbeitskräfte unter unmenschlichen Bedingungen in „sweatshops“ schuften, geschehen drei schreckliche Morde. Die Opfer: junge türkische Frauen, alle rothaarig, von gleicher Gesichtsform – und natürlich nicht gemeldet. Allen wurde das Gesicht zerstört, der Körper weist Spuren einer grausamen Folter auf. Jemand hat Informationen gesucht, aber welche? Und warum gleich dreimal?

Paul Nerteux ist eigentlich ein engagierter Polizist und er hält sich für erfahren. Doch nicht erfahren genug, um es mit der abgeschotteten Schattenwelt der Pariser Klein-Türkei aufzunehmen. Also spannt er einen alten Experten ein: Jean-Louis Schiffer. Der bullige Ex-Bulle, der jetzt im Altenheim wohnt, trägt zwei Spitznamen. Nerteux will, wie alle Polizisten, das „Eisen“, doch was er bekommt, ist lediglich „Chiffre“. Mit einem Wort: Man kann Schiffer nicht trauen.

Doch Chiffres unorthodoxe Methoden führen schnell zu Erfolg: Schon bald sind die drei Toten identifiziert und mit Wohnort und Foto versehen. Eine hat beim ungekrönten König der Klein-Türkei gearbeitet, mit dem Schiffer sehr vorsichtig redet, eine andere hat mit Schiffers Ex-Frau, einer türkischen Unternehmerin, zu tun gehabt. Alle Zeugen kriegen es mit der Angst und warnen Schiffer: Sie schützen die Täter.

Bis endlich einer redet: „Boskurt“, die „Grauen Wölfe“. Schiffer gefriert das Blut in den Adern. Die Terroreinheit der türkischen Mafia in Paris? Kein Wunder, dass alle Angst haben! Und diese skrupellosen Killer suchen eine ganz bestimmte Frau. Eine Frau, die etwas mit Drogenschmuggel zu tun hat, Verrat beging und zu viel weiß.

Eine Frau wie Anna Heymes?

_Mein Eindruck_ [Vorsicht, Spoiler!]

Zwischen Paris und Istanbul, zwischen Gehirnmanipulation und türkischer Mafia bewegt sich Grangés neuester Thriller. Die Zutaten sind so ungewöhnlich und doch in ihrem Zusammenspiel so wirkungsvoll, dass es mir schwer fallen würde, den Autor nicht dafür zu bewundern, wie er das wieder hingekriegt hat. Schon in „Purpurne Flüsse“ entwickelte er das verblüffende Szenario aus zwei völlig verschiedenen Richtungen, die erst dann zusammen einen Sinn ergaben, wenn man die einzige Lösung akzeptierte, die noch logisch erscheint, und sei sie auch noch so exotisch.

Genauso verfährt Grangé auch diesmal. Doch statt sein bekanntes Rezept selbst zu kopieren, nämlich nach drei Morden einen Serientäter zu präsentieren, geht er diesmal ganz anders vor. Das Ergebnis ist aber genauso furchteinflößend und beklemmend wie „Purpurne Flüsse“, wenn auch schwer zu glauben. Totale Gedächtniskontrolle, das Ersetzen einer Identität – was bislang nur der Science-Fiction vorbehalten war, ist in Grangés Thriller in der militärischen Forschung bereits Wirklichkeit. Der Autor nimmt sich die Freiheit des Poeten, das Mögliche weiterzuspinnen. Bis zur letzten schrecklichen Konsequenz.

|Fundament aus Fakten|

Das Mögliche muss jedoch stets auf bekannten Fakten aufgebaut sein, sonst hängt es als Fantasie in der Luft. Und was der Autor alles über die türkische Mafia zu berichten weiß, kann auf keinen Fall an den Haaren herbeigezogen sein, sondern dürfte ziemlich genau der Realität entsprechen.

Es geht weniger um die Organisation selbst, als vielmehr um die terroristische Einheit, die als „Graue Wölfe“ in der zweiten Romanhälfte die Hauptrolle spielt. Ursprünglich waren sie lediglich die „Idealisten“ und kämpfen für die nationalistischen Konservativen unter Arpaslan Türkes. Nach dem Militärputsch 1980 spannte Türkes seine alten Helfer nicht als Parteischlägertruppe ein, sondern als Ausführungsgehilfen bei politischen Morden, an Kurden und Armeniern etwa. Und da er zwecks Geldbeschaffung die türkische Drogenindustrie aufbaute, setzte er die „Grauen Wölfe“ als Schmuggler und Agenten ein, die Heroin etc. nach Westeuropa schmuggelten.

So wie alle drei getöteten Frauen aus Anatolien kamen, so stammen auch die meisten „Grauen Wölfe“ aus der kargen, extrem konservativen Osttürkei. Und einer von ihnen ließ sich von einem der „Paten“, die hier „Babas“ heißen, einfangen, trainieren und strategisch einsetzen. Dumm nur, dass er zu viel Geschmack am Töten fand. Folgerichtig führt am Ende die Spur zurück nach Anatolien, wo der letzte einer ganzen Reihe von Showdowns stattfindet.

|Auch Humor gibt’s hier|

Doch ist nicht alles grimmig hier: Paul Nerteux, der Otto Normal in diesem verrückten Plot, wirkt in seiner Hilflosigkeit komisch und sympathisch. Er wirkt umso sympathischer, als er von seiner kleinen Tochter Céline getrennt lebt und doch gerne alles für sie tun würde. Er wirkt auf mich wie Kerkorian (gespielt von Vincent Cassel) neben Kommissar Niémans (Jean Reno) in „Die purpurnen Flüsse“, sozusagen der Sidekick des Helden.

|Die Übersetzung|

Bei der Beurteilung der Übersetzung von Christiane Landgrebe schwanke ich zwischen „gewöhnungsbedürftig“ und „ein Ärgernis“. Einige Fehler sind eindeutige Sachfehler. So schreibt sie beispielsweise „überirdisch“ statt „oberirdisch“, wenn es um simple Stadtbahnen geht. Sie schreibt „Explosionsmotor“ statt „Verbrennungsmotor“ (200) und „Fell-“ statt „Pelzhändlerin“ (213) sowie „übersah“ statt „überschaute“ (218).

In einem anderen Fall kann man sich über den korrekten Terminus streiten. Niemand in Deutschland außer einem totalen Experten würde wohl „Ästhetische Chirurgie“ statt „Plastische Chirurgie“ sagen (286 ff). Aber Ersteres ist offenbar der gängige Ausdruck im Französischen, um Gesichtschirurgie zu bezeichnen – Französisch ist ja so viel feiner in der Ausdrucksweise, nicht wahr?

_Unterm Strich_

Ebenso wie in [„Die purpurnen Flüsse“ 936 erzeugt Grangé auch diesmal eine beklemmende Atmosphäre der Paranoia, die sich erst allmählich aufbaut, um sich dann – besonders im zweiten Handlungsstrang – explosiv in brutaler Action zu entladen.

Es ist faszinierend, wie sich diese beiden Elemente gegenseitig ergänzen und verstärken. Dennoch wirken sie nicht als Show, sondern stehen auf einem soliden Fundament an bekannten Fakten. Es gibt lediglich eine Stelle, an der mein Unglauben nicht aufgehoben wurde: die Sache mit der Gehirnmanipulation. Gestern noch Science-Fiction, heute schon Wirklichkeit? Da müsste man die Experten fragen.

Kaum eine der Hauptfiguren erreicht die Ziellinie, und doch ist ihr Kampf nicht vergebens. Es bleiben keine losen Enden übrig, und der Leser kann das Buch getrost beiseite legen: Gerechtigkeit, die gibt es auch hier. Ein spannendes, beklemmendes und sehr zufriedenstellendes Buch, finde ich. Aber nichts für zarte Gemüter, so viel steht fest.

Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 446 Seiten
Originaltitel: L’empire des loups, 2003
Aus dem Französischen übersetzt von Christiane Landgrebe