Angerhuber, Eddie M. / Koch, Boris (Hgg.) – Allem Fleisch ein Greuel

_Inhalt:_

„Allem Fleisch ein Greuel“ enthält sieben phantastische Erzählungen von Thomas Wagner, Kathleen Weise, John B. Ford, Michael Siefener, Quentin S. Crisp, Jörg Bartscher-Kleudgen und Matt Cardin. Sie erzählen von der Wahrheit, die unter dem Schleier der Realität liegt, oder etwas, das im Wahn für Wahrheit gehalten wird. Von der Wahrnehmung von mehr als der sichtbaren Wirklichkeit. Es geht um die Wahrheit hinter der Lüge oder um ein verbotenes Geheimnis in einer verschlossenen Kammer. Es geht um das Gesicht unter der Clownsschminke, um Masken und Träume oder das Aufbrechen der Realität mittels Drogen und Worten, oder dem Beginn einer neuen Zeit, die wirkt wie eine Halluzination. Es ist Phantastik ohne Monster.

_Leseprobe:_

|Er trat aus dem Flur in das Wohnzimmer. Eine Aureole gelben Lichts umfloß ihn und alle Spinnen dieser Welt.
Dies war nicht mehr die Zeit der Spinnen.
Leere Flaschen, Scherben und zerschlagene Möbel formten im Sonnenlicht eine Wiese der Zerstörung, einen Abgesang auf den menschlichen Verstand; auf dem Boden verstreute Lebensmittel verdarben wie im Zeitraffer, um die Brutstätte neuen Lebens zu bilden, das sich bereits in ihnen regte.
Das Bildnis eines Dackels hing in schiefem Winkel an der Wand und glotzte grotesk schielend auf das Bild der Verwüstung.
Auf der Tapete tanzte ein Blumenmuster unbeholfene Kapriolen im Sonnenlicht, nur einige merkwürdig asymmetrische Blüten feucht-roter Farbe beteiligten sich nicht an diesem surrealen Reigen. Ihre Blätter erstreckten sich, Farbspritzern gleich, scheinbar ziellos und fordernd über das Muster, um sich an ihren Spitzen auf eine gemeinsame, senkrecht verlaufende Richtung zu einigen.
Aus einer Steckdose ragte ein ineinander verschlungenes Kabel, das sich wie ein Kriechtier abwärts und über den Teppich wand. Einige Fliegen krabbelten im Gänsemarsch über die rotverschmierte Isolierummantelung.
Am Boden lag – auf dem Bauch hingestreckt und mit angewinkelten Gliedmaßen, gleichsam eingefroren in einer letzten aufbäumenden Bewegung – der leblose Körper eines Mannes; bekleidet nur mit einer fleckigen Unterhose, die halb über das bleiche Gesäß herabgerutscht war.
Im Schädel – oder vielmehr in einer unkenntlichen Masse aus Blut und Haar – steckte, einer absurden, lärmenden Krone gleich, ein angeschaltetes Transistorradio.|

aus: Thomas Wagner: „Die gelbe Zeit“

_Rezension:_

Die Mischung nationalen und internationalen AutorInnen macht den Reiz dieser Anthologie aus, in der besonders drei Geschichten |on top| für sich in Anspruch nehmen können: allen voran die von Thomas Wagner (Von dem Mann müsste es viel mehr zu lesen geben! Das würde das Genre erheblich beleben.) Daneben waren für mich die weiteren Highlights: Michael Siefener, Jörg Bartscher-Kleudgen und Matt Cardin, von dem auch die Titelstory stammt. Aber auch die anderen Storys halten ein souveränes Niveau. Das spiegelt sich besonders in den eher subtil düsteren Handlungsbögen wider.

„Allem Fleisch ein Greuel“ ist eine interessante Komposition der Stile und Plots und stellt somit eine dankenswerte Abwechslung zu den vielen Themen-Anthologien dar. Es ist sicher schön, Projekte anzubieten, die thematisch einen „roten Faden“ haben, aber das sollte immer weniger zur ungeschriebenen „Pflicht“ werden. Diese Anthologie ist der beste Beweis dafür, dass es dem Leser zugute kommt.

Die erste Novelle ist „Die gelbe Zeit“ von Thomas Wagner. Nicht nur die erste auch |the very best| mit dem Prädikat „erzählerisch wertvoll“. Eine sprachgewaltige, teilweise bizarre, aber dennoch feine Erzählform die den alltäglichen Horror auf sehr atmosphärische Weise rüberbringt. Ich habe es schon in anderen Anthologien feststellen können, und das Bild rundet sich immer mehr: Thomas Wagner ist ein Autor der Kurzgeschichte! Die Ausbeute derer, die Shortstorys beherrschen, ist gering, aber Thomas Wagner gehört eindeutig dazu. Ein Satz der Geschichte sprach mir besonders aus der Seele: „Der Sommer widerte ihn an, diese durch und durch ordinäre Jahreszeit mir ihren plumpen Farben …“

Michael Siefeners „Die steinernen Träume“ im typisch feinen, unheimlichen Siefener-Stil handelt von einem Protagonisten, der nach einem persönlichen Verlust von Kummer gezeichnet die Begegnung mit einer Heiligen des Ortes, an dem sein verstorbener Vater gelebt hat, macht, deren Reliquien einen verhängnisvollen Einfluss ausüben

In „Die dreizehnte Kammer“ von Jörg Bartscher-Kleudgen rettet ein Walfangkapitän eine Schiffbrüchige, und es entwickelt sich zwischen ihnen eine filigrane Beziehung, die durch das Geheimnis des sonderbaren Mannes, das er in der dreizehnten Kammer verbirgt, in Gefahr gerät. Der Stil des Autors ist wie immer atmosphärisch und eher feingeistig düster. Genau die Prise, die das Besondere ausmacht, und der Handlungsbogen wird durch einen geschickten Perspektivenwechsel erfreulich hoch gehalten.

Matt Cardin setzt sich in „Allem Fleisch ein Greuel“ erzählerisch mit der Auslegung der Bibel auseinander – in einem sehr interessantem Party-Gesprächs-Plot.

Überhaupt zeichnet das die Anthologie aus. Sie lebt von der Bandbreite der Stile und Handlungen, die nicht so sehr dem Klischee entspringen, wie es oft der Fall ist. Aus diesem Grund unterscheidet sie sich dadurch von der breiten Masse und ist ein weiterer Bausteine dafür, dass Kurzgeschichtensammlungen verschiedener Autoren wieder mehr Raum haben sollten als die einzelner Autoren.

Was auch besonders gelungen ist: dass die Herausgeber die Autoren nicht anhand einer herkömmlichen Vita vorstellen, sondern schildern, welchen Bezug sie zu dem jeweiligen Autor haben und diesen dem Leser auf sehr persönliche Weise vorstellen und näher bringen.

Für mich ist der einzige kleine Negativpunkt, dass die Anthologie nicht in eine einheitliche Rechtschreibung gesetzt wurde. Aber das trübt in keiner Weise den Lesegenuss. Was mir ebenso ein wenig fehlt, ist zu jeder Story eine Illustration. Das hätte den Band auch optisch abgerundet.
Ansonsten ist die Aufmachung wie immer bei MEDUSENBLUT gewohnt gut: Covermotiv, Papier, Druck, alles eins-a!

Fazit: Eine lesenswerte Kurzgeschichtensammlung, die einen interessanten Kontrast zwischen nationalen und internationalen Autoren bietet und von sieben Geschichten drei sehr gute plus ein Highlight bietet. Daher kann ich „Allem Fleisch ein Greuel“ nur wärmstens empfehlen!

http://www.medusenblut.de/

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