Stephen Jones (Hg.) – Schatten über Innsmouth

In 17 Storys geraten die Leser in den Bann des unheimlichen Küstenstädtchens Innsmouth, dessen Einwohner nach Auskunft seines Schöpfers H. P. Lovecraft (1890-1937) allzu enge Beziehungen zu bösartigen Kreaturen aus Raum & Zeit pflegen; manchmal (zu) dicht am Original, dann wieder erfreulich eigenständig und einfallsreich arbeiten die Verfasser das Thema aus: eine gruselig unterhaltsame, uneingeschränkt empfehlenswerte Sammlung!

Inhalt:

– Stephen Jones: Einleitung – Die Brut aus der Tiefe (Introducion: Spawn of the Deep Ones, 1994/2013), S. 9-11

– H. P. Lovecraft: Der Schatten über Innsmouth (The Shadow Over Innsmouth, 1936), S. 13-98: Einen Reisenden verschlägt es ins neuenglische Hafenstädtchen Innsmouth. Dort gerät er grausigen Mischwesen auf die Schliche, die eine uralte, böse Macht aus dem Meer und über die Menschen bringen wollen, wird dabei bemerkt und muss um sein Leben kämpfen.

– Basil Copper: Das Geheimnis von Innsmouth (Beyond the Reef, 1994), S. 99-178): Zwar wurde das Teufelsriff vor der Küste von US-Marine bombardiert, doch schon wenige Jahre darauf beginnt sich Cthulhus Brut nicht nur im Meerwasser, sondern zusätzlich auch unter der Erde erneut zu rühren.

– Jack Yeovil: Der große Fisch (The Big Fish, 1993), S. 179-220: Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gerät ein Privatdetektiv auf der Suche nach einem verschwundenen Kind an Cthulhus Jünger, die jenseits von Innsmouth einen neuen Brückenkopf in der Menschenwelt gründen wollen.

– Guy N. Smith: Zurück nach Innsmouth (Return to Innsmouth, 1992), S. 221-230: In Innsmouth verliert ein allzu neugieriger Besucher einen essenziellen Teil seines Menschenwesens.

– Adrian Cole: Die Schwelle (The Crossing, 1994/2013), S. 231-252: Das Wiedersehen mit seinem Vater soll für den Sohn als Opfergang durch Raum und Zeit enden.

– D. F. Lewis: Bis auf die Stiefel (Down to the Boots, 1989), S. 253-258: Irgendwann erlag jeder ihrer Gatten jenem Ruf aus dem Meer beim Teufelsriff, dem nur die Witwe widerstehen kann.

– Ramsey Campbell: Die Kirche in der High Street (The Church in High Street, 1962), S. 259-276: In einer abgelegenen englischen Kleinstadt bereiten Fischwesen die Rückkehr ihres verfluchten ‚Gottes‘ vor, wobei ihnen ein Auswärtiger in die Quere gerät.

– David Sutton: Das Gold von Innsmouth (Innsmouth Gold, 1994), S. 277-300: In den Ruinen von Innsmouth stößt ein Schatzsucher auf die letzten Bewohner der nur angeblich verlassenen Stadt.

– Peter Tremayne: Daoine Domhain (Daoine Domhain, 1993), S. 300-328: In Irland will ein Auswanderersohn der Spur seiner Vorfahren folgen, stößt zu seinem Pech aber auf sehr viel ältere Bewohner.

– Kim Newman: Viertel vor Drei (A Quarter to Three, 1988), S. 329-334: Auch in Innsmouth gibt es ein Nachtleben jenseits des Teufelsriffs.

– Brian Mooney: Das Grab von Priscus (The Tomb of Priscus, 1994), S. 335-378: In einem uralten Hügelgrab hat ein Diener des Bösen geschmachtet, bis ihm ahnungslose Forscher unwissentlich die Pforte zur Freiheit öffnen.

– Brian Stableford: Das Innsmouth-Syndrom (The Innsmouth Heritage, 1992), S. 379-406: Für die körperlichen Auffälligkeiten der Bewohner einer verrufenen Hafenstadt gibt es endlich eine biologische Erklärung, die jedoch einen bestimmten Aspekt des Gesamtphänomens außer Acht lässt.

– Nicholas Royle: Die Heimkehr (The Homecoming, 1994), S. 407-436: Eine aus Rumänien geflüchtete Oppositionelle kehrt nach dem Sturz Ceaușescus zurück und stellt fest, dass der Diktator und seine Schergen keineswegs verschwunden sind.

– David Langford: Deepnet (Deepnet, 1994), S. 437-446: Cthulhus Jünger setzen nicht mehr auf rohe Gewalt, sondern auf das Internet, um neue Anhänger zu rekrutieren.

– Michael Marshall Smith: Blick aufs Meer (To See the Sea, 1994), S. 447-486: Die nostalgische Reise in eine kleine Hafenstadt konfrontiert ein Ehepaar mit einem bisher unbekannten Aspekt der Familiengeschichte sowie unheimlicher Verwandtschaft.

– Brian Lumley: Dagons Glocke (Dagon’s Bell, 1988), S. 487-540: Entschlossen kämpfen zwei Freunde gegen die Innsmouth-Brut, die auch an der englischen Nordseeküste einen Brückenkopf unterhält.

– Neil Gaiman: Bloß mal wieder das Ende der Welt (Only the End of the World Again, 1994), S. 541-562: Nur ein Werwolf steht zwischen Cthulhus Rückkehr und der Rettung der Welt.

– Nachwort: Autorenangaben (Afterwords: Contributers‘ Notes, 2013), S. 563-583:

– Danksagung, S. 585

– Originaltitel und Copyrightangaben, S. 587/88

Kleine Stadt mit großer, böser Geschichte

1931 erschuf Horror-Großmeister Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) für seine Novelle „The Shadow Over Innsmouth“ (dt. „Der Schatten über Innsmouth”) die gleichnamige Stadt an der US-Küste zum Atlantik. Lovecraft war fasziniert von der Geschichte Neuenglands. Hier hatte Anfang des 17. Jahrhunderts die Besiedlung Nordamerikas durch britische Siedler begonnen; eine Zeit, die zumindest aus US-Sicht unglaublich weit zurücklag und den idealen Nährboden für seltsame Sitten & Bräuche bot, die Lovecraft mit dem zeitgenössischen Aberglauben vermengte, bis ein idealer Nährboden für seinen ganz besonderen Winkel der späteren Vereinigten Staaten entstand.

Lovecraft kehrte mehrfach nach Innsmouth zurück. In den Jahren, die ihm bis zu seinem frühen Tod blieben, schuf er einen fiktiven, jedoch detailreich ausgestalteten Landstrich: „Lovecraft County“. Innsmouth und ebenfalls fiktive Städte wie Arkham oder Ipswich gehören demnach zum US-Staat Massachusetts. Sie liegen nicht weit entfernt vom (realen) Städtchen Salem, das 1692 Schauplatz berüchtigter Hexenprozesse war.

Innsmouth wurde laut Lovecraft 1643 an der Mündung des Flusses Manuxet gegründet und war bis in die 1830er Jahre eine normale Hafenstadt. Ein Rückgang der Fischfangerträge soll eine Krise heraufbeschworen haben, der nur der abenteuerlustige Kapitän Obed Marsh trotzte. Allerdings geriet er bei seinen Reisen in die Südsee in den Bann des „Großen Alten“ Cthulhu, einer urzeitlichen und außerirdischen Kreatur, die in die Tiefsee verbannt wurde und seit Äonen Himmel und vor allem Hölle in Bewegung setzt, ihre Fesseln abzuschütteln. Dazu bedient sich Cthulhu habgieriger, ahnungsloser oder neugieriger Menschen, die er mit den ihm ergebenen, amphibischen „Tiefen Wesen“ kreuzt, um auf diese Weise auch auf landgängige Diener zurückgreifen zu können. Diese Mischwesen fallen durch ihre frosch- oder fischähnliche Kopfform – den „Innsmouth-Look“ – auf. Mit steigendem Alter werden die Veränderungen so groß, dass sich die Betroffenen zuletzt ins Meer zurückziehen.

Die Aufdeckung dieses unheimlichen Bundes ist Thema der genannten Novelle, die zu Lovecrafts Meisterwerken gehört. Zwar bleibt die Hauptfigur lange reiner Beobachter, und die zentralen Aspekte der Stadtgeschichte werden ihm von einem Dritten nur erzählt, doch Lovecraft fängt dies durch seine ungemein dichte Schilderung und eine geschickt geschürte Atmosphäre stetig steigenden Terrors auf. Dem dann doch handlungsreichen Finale folgt ein gelungener Schlusstwist, der gleichzeitig weitere Besuche einleitet: In Sachen Insmouth, so macht uns Lovecraft deutlich, ist das letzte Wort längst nicht gesprochen!

Innsmouth ist überall

Dieser Ansicht war in den frühen 1990er Jahren auch der Lovecraft-Akolyth und Herausgeber Stephen Jones. Schon zu seinen Lebzeiten hatte Lovecraft einen regelrechten „Zirkel“ um sich versammelt, deren Mitglieder gern Themen, Schauplätze und Figuren ihres Freundes und Vorbildes aufgriffen, um sie in eigene Werke einzuarbeiten. Ab 1937 setzte mit einiger zeitlicher Verzögerung eine wahre Lovecraft-Manie ein. Neue Autoren begannen, den Cthulhu-Mythos weiterzuspinnen.

„Schatten über Innsmouth“ präsentiert die gesamte Bandbreite: die Original-Novelle von Lovecraft, die Kopisten und die Interpreten. Diese Sammlung wird dabei – unfreiwillig – zum Beleg einer grundlegenden Problematik: ‚Neue‘ Lovecraft-Storys bleiben oft blass. Lovecraft gilt als Autor, der sich aufgrund seiner stilistischen Eigenheiten gut imitieren lässt. Ungeachtet dessen fehlt den Pastiches in der Regel die Intensität der Vorlagen: Ganz so einfach ist es offensichtlich nicht, Storys „wie Lovecraft“ zu schreiben. Dieses Mal ist es vor allem Basil Copper (1924-2013), der es unfreiwillig unter Beweis stellt: „Das Geheimnis von Innsmouth“ bedient sich der Schauplätze des Originals, bleibt jedoch trotz der detailfrohen Annäherung eine beliebige Kopie.

Um dieser durchaus erkannten Gefahr zu entgehen, beschlossen andere Autoren, Lovecraft-Motive zwar zu übernehmen, um jedoch mit eigener Stimme zu erzählen. Dazu gehörte die Erkenntnis, dass die von Herausgeber Jones geforderte Innsmouth-Story keineswegs in Innsmouth spielen musste. Schon Ramsey Campbell hatte „Die Kirche in der High Street“ 1962 in einer englischen Kleinstadt lokalisiert. Dem lag die einleuchtende Annahme zugrunde, dass Cthulhu sich keineswegs auf einen einzigen Stützpunkt beschränken würde. Adrian Cole konstruiert noch eher schlecht als recht eine transdimensionale Verbindung zwischen Innsmouth als Zentrum der Cthulhu-Brut und einer transatlantischen ‚Filiale‘. Der direkte Kontakt ist freilich unnötig, wie Brian Moody, Peter Tremayne und Brian Lumley demonstrieren, die Englands Eigenständigkeit als heimgesuchten Ort ebenfalls nicht so raffiniert wie Lovecraft, aber wesentlich spannender als Copper unter Beweis stellen.

Die Frage nach dem tieferen Sinn

Lovecraft blieb absichtlich vage, wenn er die Motivation der „Tiefen Wesen“ und ihrer halbmenschlichen Nachkommen ins Spiel brachte. Letztlich geht es nur um die Unterwanderung der Menschheit, um Cthulhus Rückkehr und Triumphzug vorzubereiten. Bei nüchterner Betrachtung legen die Kreaturen wenig Planungsgrips an den Tag. Spätere Autoren wollen das oft ändern – und tappen in eine neue Falle: Der Mythos verkraftet Eindeutigkeit schlecht, weshalb Kim Newmans durchaus interessante Idee, den Innsmouth-Schrecken als Alltag darzustellen, ins Leere läuft.

Brian Stableford gelingt es besser, Fiktion und ‚Realität‘ zu vereinen, indem er ungeachtet des naturwissenschaftlichen Unterbaus, den er dem Mythos zimmert, dem Übernatürlichen ganz im Sinne Lovecrafts ein Schlupfloch lässt: Da gibt es etwas, das sich buchstäblich dem Mikroskop entzieht. David Langford versucht es mit einer technisch bedingten Modernisierung: Cthulhu geht ins WordWideWeb, was durchaus ein kluger Schachzug wäre, der es in der erzählerischen Umsetzung leider an Durchschlagskraft mangelt.

Mancher Verfasser scheint gänzlich ratlos gewesen zu sein, als es darum ging, Herausgeber Jones die versprochene Story zu liefern. Vor allem Guy N. Smith verärgert mit einer auf den flauen Schlussgag zugespitzten Fingerübung, deren Verbindung mit dem Mythos sich nie logisch erschließt. D. F. Lewis versucht es mit melodramatischer Grusel-Tragik; eine Rechnung, die ebenfalls nicht aufgeht. David Sutton bricht seine aufwändig eingeleitete Geschichte um das „Gold von Innsmouth“ einfach ab und klebt ihr eine kümmerliche ‚Überraschung‘ an; über seinem Ärger mag der Leser vergessen, dass genanntes Gold für die Handlung absolut belanglos ist. Einfach macht es sich auch Michael Marshall Smith, der Lovecrafts Vorlage mehr oder weniger nacherzählt.

Ganz neue Ansätze

Angesichts des schmalen Pfades, auf dem sich die Lovecraft-Epigonen generell bewegen, wundert es kaum, dass diejenigen am besten fahren, die mit der Vorlage vor allem brechen, ohne darüber die Essenz des Mythos zu verwässern. Vor allem Nicholas Royle nutzt den Cthulhu-Horror geschickt als Erklärung für das reale Böse, das sich dem Verständnis entzieht, weil es der ‚normale‘ Zeitgenosse schwer nachvollziehen kann. Da Royle in den Untergangsjahren der sowjetischen Trabantenstaaten die Balkanregion ausgiebig bereiste, ließ er Nicolae Ceaușescu, den rumänischen Diktator, die Rolle eines modernen Obed Marsh übernehmen. Der „Innsmouth-Look“ der Fischmenschen wird geschickt durch die billigen Lederjacken ersetzt, an denen die Mitglieder der „Securitate“ – Ceaușescus gesetz- und skrupellose Erfüllungsgehilfen – erkennbar waren. „Die Heimkehr“ erzählt ganz sicher keine typische Cthulhu-Story, gehört aber zu den wenigen Erzählungen, die den Lovecraft-Schrecken vermitteln können.

Literarisch und verspielt nähern sich Jack Yeovil (d. i. ebenfalls Kim Newman, der somit zweimal in dieser Sammlung vertreten ist) und Neil Gaiman dem Thema Innsmouth. Yeovil/Newman, Verfasser der grandiosen „Anno-Dracula“-Serie, verknüpft den Cthulhu-Mythos mit dem „Hardboiled“-Thriller à la Raymond Chandler oder Dashiell Hammett. Der Zweite Weltkrieg sorgt für einen glaubhaften Hintergrund, vor dem sich die beiden Genres erstaunlich harmonisch verbinden. Gaiman kreuzt kurzentschlossen den Lovecraft-Grusel mit der Horror-Klassik: Er schleust einen Werwolf in Innsmouth ein! Die gewagte Mischung funktioniert, da Gaiman sich falsche Ehrfurcht vor dem Mythos verkneift, ohne ihn zu verraten, und damit dieser Kollektion zu einem würdigen Ausklang verhilft.

Auch die deutsche Ausgabe erfreut: Mit „Schatten über Innsmouth“ legt der Festa-Verlag einmal mehr eine Sammlung vor, die jedem Horror-Geschmack etwas bietet. Knapp 600 Seiten stark aber trotzdem erfreulich kostengünstig, gut übersetzt, sauber und schön verarbeitet – das garstig-grünstichige Cover von Bob Eggleton ist schon deshalb eine besondere Erwähnung wert, weil es sich nicht um ein anonymes Stock-Foto, sondern eine echte, gezielt das Thema aufgreifende Zeichnung handelt -, bietet dieses Werk gediegenen Lesestoff für viele Stunden.

Paperback: 588 Seiten
Originaltitel: Shadows Over Innsmouth (Minneapolis/Minnesota : Fedogan & Bremer 1994; bearbeitete Neuausgabe: London : Titan Books 2013)
Übersetzung: Alexander Amberg (1), Andreas Diesel (3), Georgina Tetley u. Felix F. Frey (2), Usch Kiausch (1), Heiko Langhans (1), Claudia Rapp (9), Georgina Tetley (1), Sarah-Désirée Tiemann (1)
Cover: Bob Eggleton
www.festa.de

eBook: 1036 KB
ISBN-13: 978-3-86552-323-5
www.festa.de

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