McCaughrean, Geraldine – Peter Pan und der rote Pirat

Peter Pan gehört zu den absoluten Klassikern der Kinderliteratur. Die Geschichte von dem Jungen, der nicht erwachsen werden wollte und jeden Tag in Nimmerland die tollsten Abenteuer erlebt, beflügelt immer wieder aufs Neue die Phantasie von Kindern und Erwachsenen.

Die Stiftung des Kinderkrankenhauses Great Ormond Street Hospital Children’s Charity, dem Sir James Matthiew Barrie die Rechte an Peter Pan vermacht hat, hat anlässlich des 70. Todestages von Sir Barrie einen Wettbewerb für eine Fortsetzung ausgerufen. Unter 200 Autoren wurde Geraldine McCaughrean ausgewählt, diese Fortsetzung zu schreiben. Das Ergebnis war „Peter Pan in Scarlett“, das im Oktober letzten Jahres in 31 Länder gleichzeitig erschien, in Deutschland unter dem Titel „Peter Pan und der Rote Pirat“.

_Zur Autorin:_

Geraldine McCaughrean wurde 1951 in Enfield geboren und wuchs in London auf. Nach einem Lehramtsstudium arbeitete sie zunächst als Redakteurin für einen Zeitschriftenverlag, ehe sie sich als freiberufliche Autorin selbstständig machte. Seither hat sie mehr als hundert Bücher für Jugendliche und Erwachsene geschrieben und eine ganze Liste an Preisen erhalten, von denen mir die meisten unbekannt sind. Unter den internationalen Auszeichnungen fand ich dann den Deutschen Jugendliteraturpreis, den sie 2004 für „Der Drachenflieger“ erhielt.

_Zum Vorgänger:_

Die Figur des Peter Pan tauchte erstmals 1902 in dem Buch „The little white bird“ auf. Hier wird erzählt, wie Peter sein Zuhause verlässt, weil er nicht erwachsen werden will, und einige Zeit in Kensington Gardens bei den Feen lebt. 1904 folgte das Theaterstück „Peter Pan, or the boy who wouldn’t grow up“, das wir heute unter dem Titel „Peter Pan“ kennen.

Peter verlässt immer wieder seine Insel Nimmerland, um am Fenster der Darlings den Geschichten zu lauschen, die die Mutter ihren Kinder Wendy, John und Michael vor dem Einschlafen erzählt. Eines Abends wird er von der Neufundländerhündin Nana, die als Kindermädchen fungiert, erwischt und verscheucht. Dabei verliert er seinen Schatten. Als die Eltern eines Abends bei Nachbarn eingeladen sind, nutzt Peter die Gelegenheit, seinen Schatten zurückzubekommen, und nimmt auch gleich noch Wendy und ihre Brüder mit ins Nimmerland. Den Kindern gefällt es dort sehr, gleichzeitig merkt jedoch Wendy, dass sie anfangen, ihr Zuhause zu vergessen, obwohl sie den Jungen immer wieder davon erzählt. Deshalb kehren sie schließlich nach vielen Abenteuern nach Hause zurück, und auch die verlorenen Jungen bleiben bei den Darlings.

_Zur Fortsetzung:_

Jahre sind vergangen. Wendy ist verheiratet und hat eine Tochter namens Jane. John ist ebenfalls verheiratet und hat Kinder. Tootles ist inzwischen Richter und hat eine Tochter, Curly ist Arzt, Slightly hat eine Adlige geheiratet und lebt jetzt als Gentleman … Nicht, dass sie Nimmerland vergessen hätten. Aber das alles ist ja schon soooo lange her …

Eines Tages jedoch ist alles plötzlich wieder ganz nah! Alle fangen sie an zu träumen: Sie träumen vom Nimmerland, und wenn sie erwachen, finden sie entsprechende Hinterlassenschaften in ihren Betten: Seeräubersäbel, Köcher mit Pfeilen, Wecker und Seifenblasen. Eines Tages schließlich ist Tootles der Meinung, es müsse etwas geschehen, letztlich jedoch ist es Wendy, die der Sache auf den Grund geht und erklärt, was zu tun sei.

So machen die Herren sich auf höchst ungewöhnliche Art und Weise auf, nach Nimmerland zurückzukehren und dort nach dem Rechten zu sehen. Das scheint ziemlich notwendig, denn als sie dort ankommen, hat Nimmerland sich stark verändert. Und nicht nur das: Peter ist offenbar überhaupt nicht begeistert, dass sie wieder da sind. Und dann ist da noch dieser eigenartige Ribello, der nur aus einem Haufen zerflusender Wolle zu bestehen scheint und lauter wilde Tiere um sich hat, die er im Zirkus auftreten lässt.

Als die Kinder beim Spielen an der Lagune von einem Feuer eingeschlossen werden, kommt gerade Hooks alte Jolly Roger in die Bucht getrieben. Die Kinder nutzen die Gelegenheit und flüchten vor dem Feuer hinaus aufs Meer. Bei der Erforschung des Schiffes findet Peter eine Schatzkarte, und sofort ist klar: es wird auf Schatzsuche gegangen. – Allerdings: eine Schatzsuche der üblichen Art scheint das nicht zu werden …

_Mein Eindruck:_

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich konnte mich mit dieser Fortsetzung nicht wirklich anfreunden.

James Barries Nimmerland ist ein Land der Kinderträume, wo sie all die Abenteuer erleben können, die es in ihrer eigenen Welt nicht gibt, und wo sie all das dürfen, was zu Hause nicht erlaubt ist. Das schließt natürlich Gegenspieler ein wie die Piraten und zunächst auch die Indianer, die erst nach Tigerlilis Rettung zu Freunden werden. Es ist aber gleichzeitig auch ein Ort der Unverdorbenheit und Schönheit. Obwohl Kinder an die Schönheit der Natur normalerweise keinen bewussten Gedanken verschwenden, würde sich keines eine hässliche oder finstere Insel für seine Abenteuer ausdenken.

Barries Peter Pan ist die verkörperte Kindheit, überschwänglich, unbeschwert und gedankenlos, ohne jedes Verständnis für Gefahr oder Leid. Denn da er ein ewiges Kind ist, ist ihm so etwas wie Erfahrung völlig fremd. Er lebt vollständig im Jetzt, was in der Vergangenheit war, vergisst er bald wieder. Gleichzeitig ist er auch ein ziemlicher Angeber, hat im Grunde aber ein gutes Herz.

McCaughreans Nimmerland fehlt dieses Flair des Unverdorbenen vollkommen. Dass es im ewig sommerlichen Nimmerland plötzlich Herbst ist, stört nicht besonders. Aber die Lagune ist ein schmieriger, dunkler Pfuhl, gesäumt von Gerippen toter Nixen. Ein Sturm reißt den Baum um, auf dem seit Wendys Heimkehr ihr Häuschen steht. Die ganze Insel atmet Verfall und Siechtum.

Auch Peter ist nicht mehr der alte. Er ist schnippisch und unfreundlich, gibt zum Beispiel den zurückgekehrten Freunden die Schuld daran, dass sein Haus abgestürzt ist, und bezeichnet die alte Wohnung unter der Erde, in der sie früher alle zusammen gewohnt haben, als „sein Haus“. Kurz, er ist richtig miesepetrig! Er, die Identifikationsfigur aller Kinder, die sich bisher hauptsächlich durch Freude, Mut und Fantasie ausgezeichnet hat!

Barries Nimmerland spiegelt ein kindliches Paradies wider, McCaughreans Nimmerland den Trend der modernen Fantasy, immer eine finstere Bedrohung zur Basis des Geschehens zu machen. Ein Ausdruck der Überreizung, der mir auch bei einem Kommentar zu den „Kindern aus Bullerbü“ begegnet ist, die jemand als langweilig bezeichnete, weil die heile Welt ja gar nicht bedroht sei und deshalb ja eigentlich gar nichts abginge. Im Zeitalter der Superlative genügen einfache Piraten nicht mehr für den gewünschten Kick.

Abgesehen davon ist es auch in diesem Fall einer Fortsetzung nicht gelungen, nahtlos an das Original anzuschließen. Mir scheint, diesen Punkt nehmen die meisten Autoren, die solche Fortsetzungen von Klassikern schreiben, etwas zu leicht.

Das fängt schon damit an, dass ein Ersatz für Hook gefunden werden musste, damit Peter Pan wieder einen Gegenspieler hat. Dieser Part wurde mit Ribello besetzt. Nur: Wie ist er als Erwachsener ins Nimmerland gekommen? Die Begründung, Indianer und Piraten wären ja auch Erwachsene und trotzdem in Nimmerland, zieht nicht. Im Original wird ganz deutlich, dass Wendy und ihre Brüder bei der Ankunft in Nimmerland Plätze wiedererkennen, die sie sich in ihren Spielen vorgestellt haben. Die Piraten und Indianer sind da, weil sie zum Spiel gehörten.

Das Gesetz, dass Erwachsene nicht nach Nimmerland kommen können, wurde auch noch an anderer Stelle aufgeweicht. So besagt Hooks Lebensgeschichte – die im Grunde zu Barries Andeutungen über den Kapitän recht gut passt – Hook sei von zu Hause ausgerissen und nach Nimmerland gekommen, weil seine Mutter ihn am Tag der Sportwettkämpfe aus Eton weggeholt habe. Wer in Eton zur Schule geht, ist mindestens dreizehn Jahre alt, also eigentlich schon zu groß, um Nimmerland zu erreichen. Und dann erst all die erwachsenen Frauen, die im Labyrinth der Reue nach ihren verlorenen Kindern suchen …

Trotzdem hat die Autorin letztlich dafür gesorgt, dass die Frage um Ribellos Anwesenheit sich anderweitig erklärt. Dass sie dafür einen Toten quasi wiederbeleben beziehungsweise auf Umwegen eine Erklärung für sein Nicht-Tot-Sein konstruieren musste, hat sie offenbar nicht gestört.

Umständlich auch die Sache mit Peters Verwandlung, nachdem er Hooks Piratenrock angezogen hat. Im Grunde wurde das alles gut beschrieben, gewundert hat mich nur, dass Peter sozusagen als Wünschelrute benutzt wurde. Indem er immer mehr Hook ähnlich wurde, führte er Ribello zu Hooks Schatz. Dabei hätte Ribello doch nur den Rock selbst überstreifen müssen …

Des Weiteren schneidet Ribello den Kindern beim Ersteigen der Nimmerspitze die Schatten ab. Später wird er zugeben, er habe das getan, um sie am Fliegen zu hindern, denn ohne Schatten könnten sie trotz Feenstaub und schöner Gedanken nicht fliegen. – Ich frage mich nur, wie Peter es dann im Original geschafft hat, zu Wendy ins Zimmer zu fliegen, um seinen verlorenen Schatten zurückzuholen!

Am auffälligsten war aber auch hier wieder die Veränderung an Peter, und zwar die Veränderungen, die bereits vor seinem ersten Anprobieren von Hooks Rock vorhanden waren: Er, der laut Original bereits innerhalb eines Jahres nach Wendys Heimkehr sowohl Hook als auch Tinkerbell vergessen hatte, erinnert sich bei der Ankunft der „Alten Jungs“ in seinem Baumhaus an Tinkerbell und Nana! An Wendy erinnert er sich dafür nicht, obwohl er laut Original erst ihre Tochter Jane und später ihre Enkelin Margaret als seine Mutter ins Nimmerland holte. Seine Manieren sind nicht mehr vorhanden, weil er laut diesem Buch ja keine Mutter hatte, um welche zu erlernen, während er im Original durchaus Manieren hatte, abgeschaut von den Feen.

Sehr schön fand ich dagegen die Bilder zwischen den einzelnen Kapiteln in Form von Scherenschnitten. Auch das Lektorat war angenehm fehlerfrei.

_Resümee:_

Mit der Wahl von Geraldine McCaughrean als Autorin der Fortsetzung zu Peter Pan wurde – zumindest laut Klappentext – der Anspruch der Stiftung deutlich, „ein anspruchsvolles literarisches Werk zu schaffen, das selbst einmal zum Klassiker avancieren wird.“ Also, nach meinem Dafürhalten wird das Buch diesem Anspruch nicht gerecht. Entgegen der Aussage des Klappentextes habe ich im Gegenteil den ursprünglichen Zauber Nimmerlands ziemlich vermisst. Der Fortsetzung fehlt jegliche Leichtigkeit und Fröhlichkeit, die Barries Geschichte auszeichnet, stattdessen wirkt sie düster und muffelig.

Dabei waren die Ideen nicht unbedingt alle schlecht. Vor allem die Idee des „Kleider machen Leute“, nach der jeder sich zu demjenigen verändert, dessen Kleider er trägt, hat mir im Grunde gut gefallen, und das nicht nur, weil sich daraus so witzige Details ergaben wie jenes, dass Tootles plötzlich ein Mädchen ist. Sie waren nur nicht konsequent durchdacht. So hätten zum Beispiel die Jungs, die ebenfalls in Piratensachen geschlüpft waren, zu den jeweiligen Piraten werden müssen.

Was ebenfalls fehlt, ist das Happy-End, das eigentlich unbedingt zu einem Abenteuer kindlicher Fantasie gehört. Obwohl Peter Pan am Ende wieder er selbst ist – mit den genannten Einschränkungen außerhalb vom Einfluss des Rocks -, und das Nimmerland sich am Ende wieder regeneriert – auf welche Weise eigentlich? – kann man nicht sagen, dass die Kinder die Schlacht wirklich gewonnen hätten. Nicht nur, weil Ribello entgegen Wendys Erwartung nicht gestorben ist. Es fehlt der triumphale Abschluss, wie er im Original dadurch gegeben war, dass Hook letztlich vom Krokodil gefressen wurde.

Im Übrigen stellt sich mir auch hier wieder die Frage, ob es wirklich dieser Fortsetzung bedurft hätte. Wie in fast allen Fällen hat sich auch hier die Hoffnung nicht erfüllt, etwas Besonderes zu wiederholen. Wenn das so einfach wäre, wären diese besonderen Dinge ja nicht so besonders. Manches lässt sich einfach nicht wiederholen, und es trotzdem zu versuchen, trübt nur den Zauber, den das Besondere bis dahin durch seine Einzigartigkeit besessen hat. Ich glaube nicht, dass die Stiftung Sir Barrie mit dieser Fortsetzung einen Gefallen getan hat. Zumal er selbst seine Geschichte eigentlich endgültig beendet hat, nicht nur mit Hooks Tod, sondern auch mit einem eigenen Ausblick in die Zukunft: |“Wenn Margaret erwachsen ist, wird sie auch eine Tochter haben, die dann wieder Peters Mutter wird, und so wird es immer und immer weitergehen, solange Kinder fröhlich, unschuldig und herzlos sind.“|

http://www.geraldinemccaughrean.co.uk
http://www.randomhouse.de/cbjugendbuch/
[Verlagsspezial]http://www.randomhouse.de/specialskids/peter__pan_2/

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