Joe Haldeman – Der Herr der Zeit

Intelligente Wells-Parodie: Zeitreise per Zufall

Hochschulabbrecher Matt Fuller schlägt sich als einfacher Forschungsassistent am Massachusetts Institute of Technology durch. Als er sich gerade mit den Quantenbeziehungen zwischen Gravitation und Licht beschäftigt, verschwindet plötzlich sein Kalibrator – und taucht eine Sekunde später wieder auf. Und jedes Mal, wenn Matt den Reset-Knopf drückt, verschwindet die Maschine zwölfmal länger. Nachdem er mit dem Kalibrator herumexperimentiert hat, kommt Matt zu dem Schluss, dass er nun in Besitz einer Zeitmaschine ist, mit der er Dinge in die Zukunft schicken kann…

Nichts scheint dagegen zu sprechen, dass Matt selbst eine kleine Zeitreise unternimmt. Also landet er in der nahen Zukunft – wo er wegen Mordes am Besitzer des Autos verhaftet wird, welcher tot umgefallen ist, als Matt direkt vor seinen Augen verschwunden ist. Die einzige Möglichkeit, der Mordanklage zu entgehen, besteht darin, weiter in die Zukunft zu reisen, bis er einen Ort in der Zeit findet, an dem er sich in Ruhe niederlassen kann. Doch was ist, wenn solch ein Ort gar nicht existiert? (gekürzte Verlagsinfo)

Der Autor

Der US-Autor Joe Haldeman, geboren am 9. Juni 1943 in Oklahoma City, studierte Physik, Astronomie, Mathematik und Informatik an der Universität von Maryland. 1967 wurde er zum Militärdienst nach Vietnam eingezogen. Durch seine Erlebnisse in Vietnam wurde er zu seinem wohl bekanntesten Roman „Der Ewige Krieg“ (The Forever War) inspiriert, für den er den Hugo Award sowie den Nebula Award erhielt.

„Der Ewige Krieg“ arbeitete er später zu einer Trilogie aus („Der ewige Friede“, „Am Ende des Krieges“), deren zweiter Band erhielt ebenfalls sowohl den Hugo- als auch den Nebula-Award. Bekannt ist auch seine Worlds Trilogie, die „Kreisende Welten“, „Isolierte Welten“ (beide bei Moewig) und „Worlds Enough and Time“ umfasst.

Zu seinen Romanen kommen zahlreiche Kurzgeschichtensammlungen, darunter „Unendliche Träume“ (dt. bei Heyne). Seit den 1990er Jahren erscheinen seine Romane nicht mehr auf deutsch, obwohl Haldeman in den USA und in Großbritannien nach wie vor hoch im Kurs steht. Beispielsweise erhielt er für den 1993 erschienen Roman „Graves“ den World Fantasy Award, und 2004 für Roman „Camouflage“ den Nebula Award sowie den James Tiptree, Jr. Award.

Zur Zeit lehrt Haldeman am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Schriftstellerei und Science-Fiction. Sein 2002 verstorbener älterer Bruder Jack C. Haldeman II war ebenfalls Science-Fiction-Autor. (Quelle: Wikipedia)

Romane (korrigierte Angaben):

* 1972 War Year
* 1975 The Forever War (dt. Der Ewige Krieg 1978)
* 1976 Mindbridge (dt. Die Denkbrücke 1978)
* 1977 Planet of Judgment (dt. Grenze zur Unendlichkeit / Duell der Mächtigen 1980; STAR TREK)
* 1977 All My Sins Remembered (dt. Der befleckte Engel 1978)
* 1979 World Without End (dt. Welt ohne Sterne, 1979 / Welt ohne Ende, 1980, STAR TREK)
* 1981 Worlds (dt. Die kreisenden Welten 1982 / Kreisende Welten 1984, bei Moewig)
* 1983 There Is No Darkness (dt. Und fürchtet keine Finsternis 1985) mit Jack C. Haldeman II
* 1983 Worlds Apart (dt. Isolierte Welten, bei Moewig)
* 1987 Tool of the Trade
* 1989 Buying Time (dt. Gekauftes Leben 1992, bei Heyne)
* 1990 The Hemingway Hoax (dt. Der Schwindel um Hemingway 1992, im Heyne SF-Jahresband 1992)
* 1992 Worlds Enough and Time
* 1994 1968
* 1997 Forever Peace (dt. Der ewige Friede 2000, bei Heyne)
* 1998 Forever Free (dt. Am Ende Des Krieges 2002, bei Heyne)
* 2000 The Coming
* 2002 Guardian
* 2004 Camouflage
* 2005 Old Twentieth
* 2007 The Accidental Time Machine (dt. als „Herr der Zeit“ bei Mantikore, 6/12)
* 2008 Marsbound
* 2010 Starbound
* 2011 Earthbound

Handlung

Matt Fuller ist eher mit der Generation X verwandt als mit den Nobelpreisaspiranten. Nach Jahren als Physiker am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston hat er es im Jahr 2051 immer noch nicht geschafft, seine Doktorarbeit bei Prof. Jonathan Marsh abzuliefern. Stattdessen schlägt er sich bei seinem Mentor als „Technischer Assistent“ durchs Leben.

In dieser Eigenschaft ist er für die Genauigkeit eines sogenannten Kalibrators zuständig. Das supergenaue Gerät misst, dass nur je ein Photon, also Lichtteilchen, pro Chronon, also Zeiteinheit, durch den Sensor geht. Auch Gravitonen spielen eine Rolle. Bei einer dieser Messungen drückt er den Reset-Knopf – und die Maschine verschwindet kurz. Wo war sie, als Matt gerade mal nicht hinschaute, will Prof. Marsh natürlich als erstes wissen. Matt kann es ihm nicht sagen – und wird deshalb auch nicht ernstgenommen. Ein Fehler, wie sich bald zeigen soll.

Don’t try this at home!

Matt nimmt den Kalibrator mit nach Hause, stellt Versuche an und erhält eine Kurve von jeweils zwölfmal (genau 11,8) längeren Aufenthalten seiner Maschine im Nirwana. Das heißt, dass die sechsten und siebten Versuche schon wesentlich längere Aufenthalte erzeugen. Weder Handy noch Kamera liefern aufschlussreiche Daten. Und als er seiner Freundin Kara davon erzählt, sagt sie ihm, dass sie ihn bereits verlassen hat – für einen langweiligen Streber.

Matt sieht nicht ein, warum er einer solchen Freundin eine Träne nachweinen soll, noch dazu, nachdem sie dafür gesorgt hat, dass Prof. Marsh ihn feuert. Und da es als Alternative nur brutal hartes Arbeiten an ungesicherten Daten gibt, um seine Doktorarbeit zu schreiben, sieht die Arbeit mit dem Kalibrator richtig attraktiv aus. Die nächste Stufe sieht vor, ein Versuchskaninchen mit seiner Zeitmaschine mitzuschicken. Da er nichts Besseres zur Hand hat, handelt es sich dabei um Herman, eine mit List und Tücke erstandene Landschildkröte. So wird Hermann zum ersten Zeitreisenden, und es scheint ihm nicht zu schaden. Allerdings stellt Matt besorgt eine räumliche Versetzung der Maschine um einen Millimeter fest. Das könnte noch eine gewisse Rolle spielen…

Zeitreise im Selbstversuch

Als nächstes beschließt Matt, selbst mit der Maschine zu reisen. Die Vorsichtsmaßnahmen dafür sind umfangreich: Für den Fall, dass er mit seiner Zeitmaschine im Ozean landet und weil er nicht schwimmen kann, steckt er sich in einen Taucheranzug und nimmt ein Schlauchboot mit. Diese Ausrüstung steckt er in das coolste Auto, das für ihn greifbar ist: den 1956er Thunderbird seines Kumpels und Lieblingsdrogendealers: Dennis. Die Stahlkarosserie dieses geilen Oldie-Schlittens soll zugleich als Faraday’scher Käfig gegen irgendwelche Stromschläge und Strahlen dienen.

Alles klappt wie am Schnürchen, nachdem sich Dennis noch eine Line von ungetestetem Stoff reingezogen hat. Knapp vier Wochen später erscheint Matt in seinem Thunderbird wieder – mitten auf einer Durchgangsstraße im Stoßverkehr. Der von ihm verursachte Unfall ruft die Polizei, die Kripo und die Psychiater auf den Plan. Denn obendrein hat Dennis inzwischen wegen des Stoffs den Löffel abgegeben. Weil er dabei die Visitenkarten von Prof. Marsh, die Matt ihm für den Fall der Fälle gegeben hatte, bei sich trug, wurde der Prof von der Kripo verhört – was Matts Ruf nicht eben förderlich ist.

Besuch aus der Zukunft?

Eigentlich wäre Matt ja jetzt ein Fall für die Klapse, aber ein Scheck über eine Million Dollar von Unbekannt deckt gerade mal die Kautionssumme, die die Richterin festgesetzt hat. Wer konnte davon wissen, fragt sich Matt und vermutet die mafiösen Verbindungen von Dennis. Jedenfalls kommt er wieder frei und muss sich um die Konsequenzen kümmern. Der Mob dürfte nun hinter ihm her sein. Und da inzwischen Karas neuer Lover (mit ihrer hinterlistigen Hilfe) sein Nachfolger bei Prof. Marsh wird, hält Matt nichts mehr in diesem Boston. Er baut ein Duplikat seiner Zeitmaschine, liefert alle seine Beobachtungen an Prof. Marsh und verduftet.

Erst fünfzehn Jahre später taucht er wieder auf, obwohl für ihn selbst nur ein Moment vergangen ist. Und die Kulisse, die Prof. Marsh zu Matts Empfang aufgebaut hat, weiß seinen Exschüler zu beeindrucken: Es ist ein ganzes Stadion voller Fans – und alle sind 15 Jahre älter als Matt selbst…

Mein Eindruck

Man merkt gleich, dass der MIT-Professor Joe Haldeman, sich in diesem humorvollen Garn ein paar Freiheiten gegenüber seinem eigenen, durchaus geliebten, Institut herausnimmt. Die Witze, die er einstreut, verraten eine intime und tiefreichende Kenntnis über die Geschichte des MIT und der Harvard-University, die im benachbarten Cambridge beheimatet ist. Diese humorvolle Seite ist zwar nur für Fans des MIT und der theoretischen Physik goutierbar, aber wer sich als Science-Fiction-Fan damit auskennt, kommt aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus.

An niemanden erinnerte mich der Slacker-hafte Matt Fuller so sehr wie an Justin Long, den Hacker, dem Bruce Willias als John McClane in „Stirb langsam 4.0“ das Leben rettet. Matt hat in seinem Leben noch nichts zustande gebracht, hat die Graduierung und die Übernahme von Verantwortung wohl auch gar nicht vor, ebenso wenig wie die Heirat mit Kara. Irgendwie hat er andere Prioritäten. Deshalb werden für ihn seine wiederholten Zeitreisen auch eine Reise zu sich selbst. Vielleicht werden seine Prioritäten ja irgendwann mal gebraucht.

Rücksturz in die Vergangenheit?

Zumindest in der nahen Zukunft kommt er mit seinem Physikerverstand gut zu Rande, doch je weiter er sich von seiner Zeit entfernt, desto mehr Probleme bekommt er mit der Kultur der USA – bis er schließlich im 24. Jahrhundert in einer Kultur landet, die nichts so sehr ähnelt wie dem sittenstrengen 17. Jahrhundert. Hier herrschen nach einem Krieg puritanische Sitten über die Überlebenden, die sich einer Mischmaschkultur aus mittelalterlicher Landwirtschaft, geerbter Hochtechnik und versteckter Unterdrückungstechnologie zurechtfinden müssen. Jesus ist zur Erde wiedergekehrt – und er herrscht absolut. Das erinnert an die Zeit der Salemer Hexenprozesse, die nicht weit von Boston im 17. Jahrhundert stattfanden.

Zu Matts Glück gib es auch hier ein MIT, allerdings ein Institut für Theosophie – was auch immer das sein mag, wundert sich der Zeitreisende, der tatsächlich erwartet worden ist und als Professor akzeptiert wird, wenn auch ohne Lehrerlaubnis. Matt agiert sehr vorsichtig, um nicht wie Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen zu enden. Er glaubt nicht, dass er diese prozedur durchstehen könnte. Zu seinen Vorrechten als MIT-Professor gehört es, einen graduierten Assistenten an die Seite gestellt zu bekommen. Ihr Name ist Martha.

Sie betrachtet es als ihre Pflicht, in seiner Gelehrtenhütte auf dem Boden zu schlafen. Die Nacktheit, die sie wie selbstverständlich an den Tag, erfordert bei Matt einen gewissen Gewöhnungsprozess – einen von vielen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er seine Position niemals ausnutzt. Er wartet, bis sie bereit ist. Jesus zitiert Matt zu sich, als Hologramm, und er verlangt die Übergabe der Zeitmaschine. No way, denkt Matt. Als ein Cop im Pissoir entdeckt, dass Matt nicht beschnitten ist (obwohl er Jude ist) und folglich ein Fremder sein muss, ist es für Matt höchste Zeit zu verschwinden.

Dabei lässt es sich nicht vermeiden, dass Martha mitkommt. Zusammen bestehen sie Abenteuer in den nächsten drei Millionen Jahren. Genügend Zeit, um die Jungfrau Martha über die Feinheiten des Zusammenlebens von Mann und Frau aufzuklären. Eine der komischsten Szene ist sicherlich jene mit der Ejakulation in der Schwerelosigkeit. Eine schöne Sauerei in jeder Hinsicht.

Die echte Vergangenheit

Matt (und sein Schöpfer) weiß genau, dass theoretisch unmöglich ist, in die Vergangenheit zu reisen. Denn durch die Begegnung mit sich selbst würde ein Paradoxon ausgelöst, das das Universum nicht zulässt. Zum Glück gibt es eine Instanz, die Matt und Martha davon erlöst, für immer und ewig in die Zukunft zu reisen. Diese Instanz, die sich per Telepathie als „Jesus“ vorstellt, ist wohl der schwächste Punkt in der fiktionalen Argumentation der Handlung: Die Gründe für die Existenz dieses Helfers und seiner Begleiter sind leider viel zu dünn, um plausibel zu wirken.

Aber die Rückreise ins echte Boston des Jahres 1898 gibt Matt und Martha die Chance, von neuem zu beginnen. Und diesmal hat Matt nicht nur Vorsprung durch Wissen, sondern auch den Charakter, um eine Professur anzustreben und eine Familie zu gründen. In der Physik kommen Planck und Einstein zu Ehren, was eine Rehabilitierung der deutschen Wissenschaftler gleichkommt. Und fast alle Werktitel sind sogar korrekt gedruckt. Matts Zeitabenteuer nimmt ein gutes Ende, selbst wenn einige seiner Äußerungen auf seine Zeitgenossen etwas kryptisch wirken.


Unterm Strich

Wer H.G. Wells‘ Roman „Die Zeitreise“ aus dem Jahr 1895 gelesen hat (und sich nicht mit den beiden Verfilmungen abspeisen ließ), der wird beim Vergleichen mit Haldemans Zeitmaschinenroman erfreut feststellen, dass Wells weitaus düsterer und pessimistischer ist, was die Zukunft der Erde angeht. Andererseits verfügt Haldemans Held wider Willen über eine ausgezeichnete Fluchtmethode, um unangenehmen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen: Er drückt einfach den RESET-Knopf auf seinem Kalibrator und reist weiter.

Kulturelle Relativität

„The Accidental Time Machine“ bzw. die Übersetzung „Herr der Zeit“ (eine reichlich unzutreffende Bezeichnung, denn Matt ist eher Opfer der Umstände als deren Beherrscher) ist eine unterhaltsame Kombination aus Zukunftsvision, Liebesromanze, witziger Parodie auf H.G. Wells‘ Vorlage und humorvollen Seitenhieben auf die Theoretische Physik im allgemeinen und das MIT im besonderen.

Daneben zeigt uns der Autor Boston und das MIT in verschiedenen Zeitebenen, vom 17. über das 19. und 21. bis zum 24. Jahrhundert. In diesen Epochen erweist sich der Stellenwert der Physik bzw. der Naturwissenschaft an sich, den ihr die jeweilige Gesellschaftsform zumisst, als sehr relativ und variabel. Am Massachusetts Institut für Theosophie etwa ist „Wissenschaft“ an sich Teufelswerk, und alle Seminare drehen sich ums Beten, die Bibelauslegung (Martha und Matt analysieren die Geschichte von David und Bathseba sehr intelligent und kritisch) sowie um Metaphysik – von der die Physik und die Mathematik lediglich Unterkategorien sind. Nix war’s mit der „Königin der Wissenschaften“.

Es ist ein professoraler Roman, der auf Ausgewogenheit bedacht ist, das Drama und die Action auf ein Minimum begrenzt, aber mit (wohlweislich gut versteckten) Weisheiten nicht geizt. Nirgendwo ist ein erhobener Zeigefinger zu bemerken, und das muss man dem Prof hoch anrechnen: Stets steht die Geschichte im Vordergrund, und das Wohlergehen seiner Figuren liegt ihm am Herzen, so kurios es auch verlaufen mag.

Es sollte mich nicht wundern, wenn auch dieses Zeitreiseabenteuer bald mal verfilmt wird. Bis dahin müssen aber die Spezialeffekte noch ein wenig besser werden – und die Menschen noch ein wenig mehr über Stringtheorie lernen. Angesichts des geringen Buchumfangs von 260 Seiten kommt mir der Preis von 12,95 EUR doch recht happig vor. Daher mein Tipp: Zum Original-Taschenbuch greifen.

Mantikore
Taschenbuch: 260 Seiten
Originaltitel: The accidental time-machine, 2008.
Aus dem Englischen von Alexander Kühnert
ISBN-13: 9783939212188

www.mantikoreverlag.de

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