Die Kritiker überschlagen sich förmlich vor Lob, wenn es um „Postmann“, den neuesten Roman aus der Feder des amerikanischen Autors J. Robert Lennon, geht. Da wird Lennon schon mal als „literarisches Schwergewicht ersten Ranges“ bezeichnet (|Chicago Tribune|) oder als „Sprachkünstler mit einem abgedrehten Sinn für Humor“ (|The Times|) und „Postmann“ wird mit den schönsten Adjektiven geschmückt: „originell, authentisch, schräg, wunderbar und auf jeden Fall mitreißend“ (ebenfalls |The Times|). Kein Wunder, dass der Verlag selbst nicht davor zurückschreckt, den Roman, mit dem Lennon in den USA und England der Durchbruch gelang, als „eines der beeindruckendsten Werke der amerikanischen Literatur der letzten Jahre“ zu titulieren*. So viel Lob steckt halt an und ermuntert nicht zuletzt auch den Leser, einen genaueren Blick auf einen bis dato eher unbekannten Autor zu werfen.
Für mich ist „Postmann“ ein Roman, der im ersten Moment schwer greifbar ist. Den Handlungsbogen genau zu erfassen, erscheint zunächst nicht ganz einfach. Der Leser begleitet den neurotischen Postboten Albert Lippincott für zehn Tage. Die gegenwärtige Handlung wird dabei oft an den Rand gedrängt und Lennon verliert sich in ausgiebigen Rückblenden, die das Leben von Albert reflektieren. Der Roman zeigt sich bei näherer Betrachtung sehr vielschichtig und entwickelt dabei immer wieder eine Tiefe, die man anfangs nicht vermutet.
Hauptfigur ist also Albert Lippincott, unser neurotischer Postbote, vom Autor stets liebevoll Postmann genannt, wohnhaft in Nestor, einer kleinen Universitätsstadt im Staate New York. Zunächst schauen wir ihm an einem ganz normalen Arbeitstag über die Schulter. Es ist Freitagmorgen, er sortiert seine Post, stellt sie zu und zweigt sich den einen oder anderen Brief als Abendlektüre ab. Den Rest des Tages verbringt er auf dem wenig aufregenden Nestor-Fest, bestaunt die Attraktionen, die alle anderen auch bestaunen, und isst Hühnchensandwiches, die ihm nicht wirklich schmecken. Das klingt zunächst alles wahnsinnig unspektakulär und ist für Postmann der normale Alltag.
Doch genaugenommen ist dieser Freitag für Postmann alles andere als ein normaler Freitag. Er markiert den Beginn eines Prozesses, der sein Leben vollkommen umkrempelt. Am Ende ist nichts mehr wie es war, doch Postmann ahnt davon an diesem Morgen noch gar nichts. Erste Probleme deuten sich an, als er sieht, dass Jared Sprain, einer der Bewohner in seinem Zustellbezirk (und einer, von dem er noch einen Brief zu Hause liegen hat), tot aus seiner Wohnung getragen wird. Selbstmord – was nicht wirklich verwunderlich ist, denn Sprain war schon lange depressiv. Dennoch plagen Postmann Gewissensbisse, hatte er es doch in der letzten Woche versäumt, den Brief eines Freundes von Sprain zuzustellen, in dem dieser ihm (wie so oft) seine Selbstmordgedanken auszureden versucht. War Postmann durch das Nichtzustellen des Briefes etwa schuld an Sprains Selbstmord? Sollte nun auffliegen, dass Postmann sich die Briefe seiner Kunden „ausleiht“?
Im Laufe weniger Tage häufen sich, ausgehend von diesem Ereignis, für Postmann mehrere Probleme an, die seine kleine Welt ins Wanken bringen. Sein trostloses Wochenende über hängt er größtenteils der Vergangenheit nach, bevor sich mit Beginn der neuen Woche die Turbulenzen verschlimmern …
Das Bild, das Lennon von seinem Postmann skizziert, weckt die vielfältigsten Gefühle. Mal wirkt die Gestalt des neurotischen kleinen Briefträgers geradezu zum Lachen, mal stimmt uns seine jämmerliche amerikanische Kleinstadtwelt mit ihrem ganz normalen Wahnsinn traurig oder melancholisch. Mit einem Blick für die tragikomischen Momente im ganz alltäglichen Leben lässt Lennon die markantesten Punkte in Postmanns Dasein Revue passieren.
Wer Postmann aufgrund seines derzeitigen Lebenswandels für einfältig und beschränkt hält, der wird sich im Laufe des Buches wundern. Postmann hat sogar mal ein paar Semester studiert, bevor er seine mittlerweile 30-jährige Postkarriere startete. Postmanns Leben hat viele Facetten: sein gescheitertes Studium, seine schwierige, manchmal etwas zu ungeschwisterlich innige Beziehung zu seiner Schwester, dann seine gescheiterte Ehe mit der Krankenschwester Lenore, das etwas verkorkste Verhältnis zu seinen Eltern und nicht zuletzt eine verrückte Reise in die tiefste Provinz Kasachstans.
Lennon widmet sich dieser vielschichtigen Lebensgeschichte seines oberflächlich betrachtet eher langweiligen Charakters ausgiebig, und so sind es auch die Rückblenden, in denen mit Blick auf den Handlungsbogen die Stärken des Romans liegen. Die Gegenwart gerät dabei schon mal ein wenig ins Hintertreffen und so hatte ich gerade im Mittelteil des Romans hier und da ein wenig das Gefühl, dass Lennon etwas die Ausgewogenheit der beiden Erzählebenen vermissen lässt. Die Rückblenden sind stark, keine Frage, aber man verliert darüber in der Gegenwart hier und da ein wenig den Faden – nicht zuletzt auch, weil die Handlung in der Gegenwart streckenweise nicht so recht vorankommt.
Die Gegenwart spielt vor allem am Anfang und am Ende eine größere Rolle, so dass Lennon den Roman trotz dieser stellenweise auftretenden Gegenwartsschwäche als eine runde, größtenteils stimmige Sache gestaltet. Am Ende schafft er es, die Balance wieder herzustellen. Kern des Romans ist letztendlich die Lebensgeschichte von Postmann und die stellt Lennon ganz hervorragend dar. Thematisch ist dabei im weitesten Sinne mal wieder der viel beschworene amerikanische Traum ein entscheidendes Element, beziehungsweise sind es die Schwierigkeiten, selbigen im alltäglichen Leben zu verwirklichen.
Lennons Roman ist ein Sammelsurium verkrachter Existenzen, von denen jede auf eigene Art scheitert. Postmanns Mutter, die stets von einer großen Gesangskarriere geträumt hat, aber nur Auftritte in billigen Bars auftreiben kann. Postmanns Vater, der ein großer Wissenschaftler hätte werden können, der sich aber zunehmend in seinem Kellerlabor verkriecht und vom Familienleben kaum etwas mitbekommt. Postmanns Schwester, die ihre hart erarbeitete Schauspielkarriere nie so voranbringen konnte wie sie wollte. Und Postmann selbst, der anfangs zunächst einen vielversprechenden Weg mit seinem Studium eingeschlagen hat, der versucht alles richtig zu machen, aber im weiteren Verlauf schon an den kleinsten Dingen scheitert.
Für den Leser fällt Postmanns Scheitern unter Umständen ganz amüsant aus, denn gerade seine Figur ist so tragisch und komisch zugleich, dass man mal über ihn lachen kann, im nächsten Moment den Kopf schüttelt und ihn einen Idioten schimpfen will und im übernächsten Mitleid empfindet. Man kommt nicht umhin, Postmann mit all seinen Macken und eigenartigen Lebensweisen als schräg zu bezeichnen, und spätestens, wenn Postmann mutterseelenallein in der tiefsten Provinz Kasachstans hockt, hat man ihn ins Herz geschlossen. Lennon skizziert die Figur liebevoll und detailreich, so dass der 605-seitige Umfang des Romans durchaus angemessen erscheint – gerade auch mit Blick auf Lennons etwas weitschweifige aber mitreißende Erzählweise.
Lennons Stil braucht ein paar Seiten, bis er sich richtig entfaltet, bis man sich voll und ganz auf Figuren und Handlungsorte einlässt, aber kommt er erst einmal in Fahrt, ist er dem Anschein nach nicht mehr zu bremsen. Auf Basis einer kleinen, nahezu belanglosen Romanfigur an einem verschlafenen Ort entsteht ein Roman, der überraschend tiefgreifend und weitsichtig ist. Lennon schmückt seine Betrachtungen von Postmanns verkrachter, fast schon mickriger Existenz mit philosophischen Fingerübungen und gesellschaftlichen Überlegungen und bereichert seinen Roman damit um eine weitere interessante Facette.
Dank seines gewitzten Umgangs mit der Sprache und seines feinsinnigen, teils schwarz angehauchten Humors übermittelt er seine Ansichten und Eindrücke nachhaltig. Lennon versteht es, treffende Vergleiche zu ziehen und mit seinen ausgeklügelten Formulierungen stets den Nagel auf den Kopf zu treffen. Die Lektüre wird dadurch im Laufe der Zeit zu einem wahren Genuss. Nett verpackt in einem ironischen, gewitzten Ton, mit bildhaften Vergleichen und einer Prise Melancholie schafft es Lennon, den Leser auch sprachlich zu fesseln und einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Lennon gelingt auf diese Weise eine lesenswerte Reflexion des Lebens an sich, mit all den glücklichen Momenten und all den Lebenslügen und dem verloren gegangenen amerikanischen Traum. Man kommt nicht umhin, auch nach der Lektüre immer mal wieder an Postmann zurückzudenken. Er wächst einem trotz aller Schrullen, trotz all der merkwürdigen neurotischen Züge, die er entwickelt, eben doch nachhaltig ans Herz.
Klappt man am Ende das Buch zu und lässt „Postmann“ noch einmal in Ruhe gedanklich Revue passieren, so lässt es sich kaum umgehen, beim Blick auf all das Lob und all die positiven Worte zu Lennons Roman zustimmend zu nicken. Es ist genau so wie der |Independent| schreibt, es gelingt Lennon tatsächlich „meisterlich, die Traurigkeit und Melancholie des Alltags einzufangen“. „Postmann“ ist ein Wechselbad der Gefühle, das mit zunehmender Seitenzahl an Dramatik und Tragik gewinnt und dabei stets ein wenig schräg, sonderbar und auf seine ganz eigene Art liebenswürdig bleibt. Lennons Stil überzeugt von der ersten bis zur letzten Seite. Wer schon mit Freude Jeffrey Eugenides und Jonathan Franzen gelesen hat, für den könnte sich „Postmann“ als Glücksgriff entpuppen.
* Wobei wir nicht so spitzfindig sein und die Kompetenz des |Heyne|-Verlags mit Blick auf die amerikanische Literatur infrage stellen wollen, nur weil sie den Australier Max Barry in den Verlagsempfehlungen amerikanischer Szeneautoren auf der letzten Seite des Buches zum Amerikaner machen. Schließlich gehört Australien in [„Logoland“, 96 Barrys abgedrehter Utopie der globalisierten Welt von morgen, praktisch mehr oder weniger zu den USA. Also ist das gar kein Fehler, sondern höchstens vorausschauend …