Romane, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion aufweichen, haben immer einen besonderen Reiz. Dies trifft auch auf Philip Singtons Roman „Das Einstein-Mädchen“ zu. 1986 wurde erstmals eine bis zu diesem Zeitpunkt geheime Korrespondenz zwischen Albert Einstein und seiner ersten Frau Mileva Marić öffentlicht. Daraus geht hervor, dass ein Jahr vor der Hochzeit der beiden eine Tochter zur Welt kam, über deren Schicksal bis heute zu gut wie nichts bekannt ist.
Genau hier setzt Philip Sington mit seinem Roman an, dessen Geschichte damit beginnt, dass 1932 in einem Wald in Berlin eine bewusstlose junge Frau gefunden wird. Als sie aus dem Koma erwacht, erinnert sie sich an nichts, und da niemand die Frau kennt, wird sie von der Presse zunächst einmal „Einstein-Mädchen“ getauft – schließlich fand sich in ihrer Manteltasche der Programmzettel eines Vortrags von Albert Einstein.
Martin Kirsch, Psychiater an der Berliner Charité ist fasziniert von dem Fall, allerdings nicht nur aus rein medizinischer Sicht. Er ist sich sicher, dem „Einstein-Mädchen“ zuvor schon begegnet zu sein und ihre Unergründlichkeit übt eine ungemeine Faszination auf ihn aus. Immer mehr fühlt Kirsch sich im Laufe der Zeit zur „Patientin E.“ hingezogen und stellt eigene Nachforschungen an. Kirsch stößt auf ein Notizbuch mit mathematischen Formeln und einen Brief, der an Mileva Einstein-Marić, Einsteins erste Frau, adressiert ist.
Kirsch macht sich auf nach Zürich, um sich mit Mileva zu treffen und lernt dort Eduard kennen, Einsteins Sohn, der im Burghölzli, eine Nervenheilanstalt, therapiert wird. Eduard scheint einiges zu wissen. Während Kirsch sich in Zürich seinen Nachforschungen widmet, ändert sich in Deutschland mit der Machtergreifung der Nazis die politische Lage dramatisch …
_So ziemlich jede_ Pressestimme im Klappentext lobt „Das Einstein-Mädchen“ als herausragenden Thriller und weckt damit gleich schon mal falsche Erwartungen. Als Thriller mag man „Das Einstein-Mädchen“ eigentlich kaum gelten lassen. Es fehlt an zu vielen typischen Thrillerelementen. Zwar baut Sington von Anfang an einen gewissen Spannungsbogen auf, der dem Leser auch im ersten Moment vermitteln mag, er habe es mit einem Thriller zu tun. Aber im Laufe des Romans stagniert die Spannung zunehmend – zu sehr, als dass man „Das Einstein-Mädchen“ noch wirklich als Thriller bezeichnen könnte. Besser ist es, sich von Anfang an auf einen belletristischen Roman einzustellen, so werden eventuelle falsche Erwartungen nicht so leicht enttäuscht.
Nach belletristischen Maßstäben ist „Das Einstein-Mädchen“ dann über weite Strecken auch wirklich gelungene Lektüre. Sington lässt sich Zeit, seine Protagonisten wirklich detailliert zu skizzieren. Insbesondere die Hauptfigur Martin Kirsch wird in all ihren Facetten sehr gut ausgeleuchtet. Kirschs persönliche und familiäre Situation spielt dabei ebenso eine gewichtige Rolle wie seine beruflichen Ansichten.
Die Psychiatrie steckt noch in den Kinderschuhen und Kirsch selbst steht seiner Profession teils sehr kritisch gegenüber. Die Experimente seines Kollegen mit der Insulinschocktherapie sind ihm ein Dorn im Auge. An der Charité macht er sich durch seine kritische Haltung nicht gerade beliebt und doch klettert er stetig die Karriereleiter rauf, nicht zuletzt dank der Beziehungen seines Schwiegervaters in spe, der im Hintergrund so manchen Hebel in Bewegung zu setzen weiß.
Kirschs Persönlichkeit an sich macht dabei mit zunehmender Seitenzahl einen stets labileren und zerrisseneren Eindruck. Er führt gewissermaßen ein Doppelleben. Während seine Verlobte noch in ihrem Elternhaus in Oranienburg wohnt, schätzt Kirsch das geschäftige Treiben rund um seine Wohnung am Prenzlauer Berg, damals ein Viertel der einfachen Leute. Der Leser hat so die Chance, möglichst tief in das Berlin der 30er Jahre einzutauchen. Sington versteht es den Roman atmosphärisch recht dicht aufzubauen und dazu gehört auch die ausgefeilte Szenerie des Berlin der 30er Jahre.
Albert Einstein spielt als historische Figur dabei eine durchaus gewichtige Rolle. In Kirschs persönlichen Anschauungen genauso, wie in der öffentlichen Meinung. Die letzte Erinnerung Kirschs an seinen im Krieg gefallenen Bruder, ist die Debatte über Einsteins Theorien. Einstein selbst, wie auch das Auftauchen des mysteriösen Einstein-Mädchens, hat für Kirsch damit auch stets eine persönliche Dimension. Immer wieder lässt Sington auch Einsteins Theorien einfließen, wenngleich die wissenschaftlichen Einschübe hier und da etwas zu ausschweifend ausfallen. Das drückt dann schon mal ein wenig die Spannung. Etwas weniger wäre hier etwas mehr gewesen.
Insgesamt beginnt der Spannungsbogen im Laufe des Romans ein wenig zu stagnieren. Fällt der Einstieg in die Geschichte noch recht leicht und legt Sington die Figuren noch so interessant an, dass man schnell in den Roman eintaucht, so bleibt die anfängliche Spannung mit zunehmender Seitenzahl ein wenig auf der Strecke und steigt erst zum Finale wieder an, bei dem Sington dann auch noch eine Überraschungsauflösung aus dem Hut zaubert. Das ist insofern etwas schade, weil die Zutaten ansonsten durchaus stimmen.
_Unterm Strich bleibt_ zwar ein positiver Eindruck zurück, der aber nicht ganz ungetrübt ist. Die Zutaten sind gut gewählt. Handlungsort und -zeit versprechen Spannung und eine interessante Atmosphäre. Die Figurenskizzierung ist durchaus ausgefeilt und tiefgreifend und die Thematik interessant gewählt. Dennoch fehlt das letzte Quäntchen Spannung und auch eine etwas straffere Erzählweise hätte hier und da nicht geschadet. Von diesen Kritikpunkten abgesehen, ist „Das Einstein-Mädchen“ aber durchaus gelungene Lektüre.
Taschenbuch: 464 Seiten
Originaltitel: The Einstein Girl (2009)
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
ISBN-13: 978-3-423-24783-2
www.dtv.de