Pauls, Alan – Geschichte der Tränen

_Inhalt_

Er ist ein seltsames Kind, im wahrsten Sinne des Wortes ganz Ohr. Er ist so sehr Ohr, dass alle ihm ihr Herz ausschütten, ihm, dem Knaben, der still da sitzt und mit seinen Autos spielt. Was findet da nicht alles den Weg an den Löckchen vorbei in den kleinen Kopf: Die Fantasien des patriarchalischen Großvaters, einfach alles hinzuwerfen. So ziemlich jeder Gedanke, der dem abtrünnigen Vater (er verließ die Mutter früh) jemals durch den Kopf ging. Die Hoffnungen, Ängste, Träume von Mutter, Großmutter, Hausmädchen. Von Zufallsbekanntschaften.

Der Junge liebt Superman, aber nicht, weil er alles kann, sondern weil er eben nicht alles kann: Er liebt Superman wegen des Kryptonits. Er empfindet Frieden, Glück, Tiefe nur im Schmerz, er IST quasi die Inkarnation der neuen Empfindsamkeit voller heißer Tränen für alles, und zwar so sehr, dass er sie bei anderen nicht dulden kann, so schal und verlogen fühlt sie sich dann an.

Es ist eine seltsame Welt, in der er im Argentinien der 70er Jahre heranwächst, eine Welt voller Soldaten: Soldaten wohnen um ihn herum in seiner Straße, der Ortega y Gasset (die wohl nicht umsonst so heißt), und gemahnen ihn in ihrer Uniformität an Außerirdische. Nichtsdestotrotz sind sie ein Stück Normalität, ebenso, wie es für den Heranwachsenden Normalität ist, linke Politliteratur zu lesen, sich in marxistische Wut hineinzusteigern. Als diese Welten sich allerdings verbinden, zuspitzen, ihre Kombination ein explosives Gemisch ergeben, was er erst versteht, als er im Fernsehen vom Putsch in Chile 1973 erfährt, während dem Präsident Salvador Allende das Leben verliert, muss er sich mit der Welt in seinem Kopf und mit seinem Blick auf das große Ganze neu arrangieren.

_Kritik_

Der Protagonist in Alan Pauls kurzem, wenn auch heftigem Buch ist jung, so jung, dass das Meiste, was geschieht, nicht ihm direkt geschieht, sondern ihm erzählt wird, gezeigt, nahegebracht. Die harten Geschehnisse der Gegenrevolution dringen wie durch Watte zu ihm durch, und gleich dem Kind mit dem Umhang und der absurden Brille auf dem Cover kämpft er vor allem mit Gedankengestalten. Als die Realität in sein Konstrukt einbricht, fehlen ihm zum ersten Mal die Tränen. Das ist absolut bitter, aber grandios verfasst.
Zwar ist diese – tja, sagen wir: Novelle – nur 142 Seiten lang, aber das heißt nicht, dass man sie nebenher weg liest wie nichts. Gegenteilig erfordern Pauls‘ Sätze, kantisch anmutend, wie sie sich über halbe Seiten erstrecken, höchste Konzentration.

Innenansicht, Gefühl, Gedanke, Assoziation umspannen winzige Teilchen harter Fakten, und man muss höllisch aufpassen, dass die einem nicht entgehen. Pauls hat sicher nicht von ungefähr einen kindlichen Protagonisten erschaffen, dem es schwerfällt, das Geschehen mit der Realität in seinem Kopf in Verbindung zu bringen; der nachdenkliche Junge mit dem Hang zu Tränen, ist das perfekte Medium, um Unsicherheit und Unverständnis zu transportieren über etwas, das den Verstand und das Empfinden von Richtig und Falsch übersteigt.

_Fazit_

Das ist gar nicht mal so einfach. Die „Geschichte der Tränen“ ist ganz sicher nicht etwas für jedermann. Es ist es treffendes, schmerzliches kleines Stück Literatur und Geschichte, allerdings ganz sicher nicht in der einfachsten Verpackung. Es möchte richtig behandelt und bedacht sein, und es liegt schwer im Magen.

Versucht es einfach. Geschichten über neue Empfindsamkeit in einer Militärdiktatur findet man schließlich nicht alle Tage. Und wenn es nicht klappt, dann dürfte tröstlich sein, dass die Erzählung nicht gerade leicht zugänglich ist.

Ich wage die Prognose, dass dieses Buch, hoch gelobt von verschiedensten Intellektuellen, an der breiten Masse mehr oder minder gänzlich vorbeigehen wird. Eigentlich schade, denn es beinhaltet Zunder.

|Gebundene Ausgabe: 142 Seiten
Originaltitel: Historia del llanto
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
ISBN-13: 9783608937107|
[www.klett-cotta.de]http://www.klett-cotta.de
[de.wikipedia.org/wiki/Alan__Pauls]http://de.wikipedia.org/wiki/Alan__Pauls

Schreibe einen Kommentar