Wer die deutschsprachige Spannungsliteratur unter die Lupe nimmt, kommt an einem Namen kaum vorbei: Jörg Kastner. Er strickt Verschwörungen, deckt spannende Geheimnisse auf und lässt die Geschichte wieder aufleben. Kastner lässt sich nicht so leicht auf ein Genre reduzieren, hat schon die vielfältigsten Bücher geschrieben, teils im Bereich Fantastik, teils in der Spannungsliteratur und ist auch dem historischen Roman, dem er seinen schriftstellerischen Durchbruch zu verdanken hat, stets treu geblieben. Mit „Die Farbe Blau“ liefert Kastner nun ein weiteres Buch aus der Rubrik historischer Spannungsroman ab.
Amsterdam im Jahr 1669 – das so genannte Goldene Zeitalter der Niederlande und die Epoche Rembrandts. Der junge Maler Cornelis Suythof arbeitet im Amsterdamer Zuchthaus als Aufseher, um seine brotlose Kunst zu finanzieren, als zwei aufsehenerregende Taten die Stadt erschüttern: Zwei angesehene Bürger Amsterdams haben bestialisch ihre Lieben ermordet. Beide Male war ein sonderbares Gemälde im Spiel, das, wie Suythof schnell feststellt, als er es zum ersten Mal sieht, verdächtig nach Rembrandt aussieht. Doch das „Todesbild“ ist in einem intensiven Blau gehalten – eine Farbe, die Rembrandt sein Leben lang vermied. Als Suythof weiter nachhakt, ist das Gemälde plötzlich verschwunden.
Suythofs Neugier ist geweckt – zumal einer der Mörder sein bester Freund war. Zum zweiten Mal in seinem Leben heuert er bei dem alten Rembrandt als Schüler an und knüpft dabei zarte Bande zu Rembrandts hübscher Tochter Cornelia. Doch mit Suythofs Nachforschungen beginnen die Ereignisse sich zu überschlagen. Es gibt einen weiteren Todesfall, diesmal durch Brandstiftung, und wieder ist ein bläuliches Gemälde im Spiel.
Plötzlich steht auch Cornelis im Visier der Ermittler um Amtsinspektor Kaeton und jemand scheint bestrebt, Cornelis von weiteren Nachforschungen fernzuhalten. Doch er sucht weiter nach der Wahrheit und lässt sich damit auf ein teuflisches Spiel ein, in das offenbar auch der alte Rembrandt verstrickt ist, denn der ist plötzlich wie vom Erdboden verschwunden …
Kastner ist mit seinem neuen Roman wieder einmal ein interessantes Stück historisch durchsetzter Spannungsliteratur geglückt. Er baut auf eine Symbiose aus Kunst, Geschichte und Spannung, die über weite Strecken des Romans sehr gut aufgeht und für gute Unterhaltung sorgt. Besonders positiv ist der Eindruck, den der Roman mit Blick auf die Beschreibungen Amsterdams zur Zeit Rembrandts hinterlässt. Kastner beschreibt recht detailgetreu, lässt gute Recherche erkennen und gibt dem Leser am Beginn des Romans einen Stadtplan zur besseren Orientierung an die Hand.
Mit dem jungen Maler Cornelis rückt er eine Figur ins Zentrum der Geschichte, die uns schnell sympathisch wird. Cornelis ist einerseits Künstler, aber andererseits realistisch genug, sich nicht der Illusion hinzugeben, von seiner Kunst leben zu können. Seine Tätigkeit im Rasphuis, dem Amsterdamer Zuchthaus, nimmt er ernst, auch wenn die Malerei neben der Arbeit oft etwas ins Hintertreffen gerät.
Die Entwicklung, die Cornelis vor dem Hintergrund der Geschichte durchmacht, trübt zwar nicht unbedingt die entstandenen Sympathien, lässt ihn aber hier und da leider etwas unrealistisch erscheinen. Cornelis wandelt sich im Laufe des Romans zu einem wahren Superhelden – teils durch die Unterstützung des Ringkampflehrers Robbert Cors, teils angespornt von dem Bedürfnis herauszufinden, warum sein Freund zum Mörder wurde. So oft, wie Cornelis nahezu ungeschoren und höchstens leicht verletzt aus den unterschiedlichsten brenzligen Situationen entkommt, lässt ihn das etwas zu unverwundbar erscheinen. Wenn dem Protagonisten auch aus der x-ten Einkerkerung ein Entkommen gelingt, dann leidet letztendlich ein wenig die Spannung darunter. Bei allem, was unser Held durchsteht, was soll ihn noch ernsthaft gefährden können?
Man hat ein wenig das Gefühl, dass Kastner das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Gut und Böse, zwischen Cornelis und seinen Widersachern überstrapaziert. So oft die Lage für Cornelis auch vollkommen aussichtslos erscheint, so leicht scheinen sich seine Schwierigkeiten etwas zu oft in Wohlgefallen aufzulösen. Das ging mir alles ein bisschen zu leicht. Dieser Aspekt wirft einen Schatten auf die ansonsten so ausgefeilte Atmosphäre des Romans und trübt ein wenig den Lesegenuss. Die beständige Rettung des Helden in letzter Sekunde, sein unbändiger Heldenmut, mit dem er sich zunächst trotz Fesseln und Bewacher aus seiner Gefangenschaft zu befreien vermag, um dann wenige Augenblicke später todesmutig in die Flammen eines lichterloh brennenden Hauses zu stürzen, um eine Frau zu retten – all das ist etwas viel des Guten und würde vielleicht eher zu Spiderman passen als zu einem minderbemittelten Maler. Suythof wird ein wenig zu sehr zum strahlenden Helden der Geschichte, wie er stets clever mitdenkend, mutig voranschreitend und flink mit den Fäusten seines Weges geht.
Dabei baut Kastner seine Figuren eigentlich ganz solide und stimmig auf. Sie wecken Sympathien, erscheinen größtenteils nachvollziehbar und realistisch – nur Cornelis häuft eben im Laufe des Zeit etwas viele positive Eigenschaften an und wirkt damit nicht mehr ganz so realistisch. Die Zeichnung der übrigen Figuren, z. B. des netten und schlagkräftigen Ringkampflehrers Robbert Cors, Cornelia, der geschäftstüchtigen Tochter Rembrandts, der beiden alten, stets durstigen Seemänner Henk Rovers und Jan Pool und eben auch des kauzigen alten Rembrandts höchstpersönlich wirkt überzeugend und glaubwürdig.
Stimmig ist der Roman vor allem auch auf sprachlicher Ebene. Historische Romane sind ein schwieriges Feld. Viele Autoren scheitern schon an den sprachlichen Anforderungen und lassen die Dialoge so klingen, als würden die Protagonisten heutzutage leben. Kastner umschifft diese Klippe recht souverän. Figuren und Sprache wirken in der Tat so, als wären sie der damaligen Zeit entliehen. Sie drücken sich nicht übertrieben schwülstig-antiquiert aus, sondern so, dass es einerseits glaubwürdig wirkt, andererseits die Geschichte aber flott und einfach zu lesen ist.
Was Kastner trotz der Superheldeneigenschaften seines Protagonisten sehr gut gelingt, ist der Spannungsbogen. Nachdem in Amsterdam nach den ersten beiden Mordfällen zunächst wieder Ruhe einkehrt, lässt Kastner auch den Leser erst einmal ein wenig verschnaufen. Cornelis bekommt Raum sich zu entwickeln und es werden Ereignisse geschildert, die für das große Ganze zunächst noch wenig Sinn ergeben und eher als Nebenstrang der Geschichte erscheinen. Aber Kastner hat in der Vergangenheit schon bewiesen, dass er ein Faible für Verschwörungen hat und spinnt er auch hier ein Komplott zusammen, dessen Ausmaß man als Leser zunächst gar nicht erahnen kann. Das birgt einen Großteil der Spannung des Buches in sich und auch wenn Cornelis zu perfekt wirkt, um an seinem Erfolg zweifeln zu können, bleibt das Buch bis zum Ende hin recht spannend.
Die Stimmung des Romans und alles, was sich in der Geschichte um die ominösen „Todesbilder“ und das rätselhafte Blau, in dem sie gemalt sind, dreht, entwickelt mit der Zeit etwas sonderbare, mystische Züge. Blau wird ganz allgemein als Farbe des Teufels ins Spiel gebracht, was den Roman um eine weitere interessante Komponente auf künstlerischer Ebene bereichert. Kastner belässt es hier teilweise bei Andeutung und läuft nicht Gefahr, die Geschichte durch die diabolische Komponente ins Lächerliche zu ziehen, auch wenn ich das einen Moment lang befürchtet hatte.
Im Anhang präsentiert Kastner eine Zeittafel, die die wahren geschichtlichen Hintergründe und die wichtigsten Eckdaten aufzeigt. Nicht nur Rembrandt, sondern auch einige andere Figuren haben demnach tatsächlich gelebt. Auch die Figur des Cornelis Suythof scheint nicht Kastners Phantasie entsprungen zu sein, was für mich etwas überraschend war. Nicht zuletzt auch die Zeittafel trägt dazu bei, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion ein wenig zu verwischen. Atmosphäre und Thematik sind also zweifellos ausgefeilt und auf spannende Art unterhaltsam, auch wenn es Schwächen in der Charakterzeichnung des Cornelis Suythof und letztendlich auch offene Fragen nach der Motivation bestimmter Figuren gibt.
Solide historische Thrillerunterhaltung liefert Kastner mit seinem Roman auf jeden Fall – spannend und atmosphärisch dicht erzählt. Die Schwächen trüben ein wenig die Freude an dem Buch, sind aber nicht so schwerwiegend, dass sie den positiven Eindruck zerstören könnten – sie schmälern ihn eher.
Lohnenswert ist das Buch übrigens teils auch schon aufgrund der Gestaltung des Hardcovers. Selbst die Schrift hat der |Knaur|-Verlag in einem dunklen Blau gehalten. So wird ein Romantitel auch mal bei Druck und Gestaltung überzeugend umgesetzt.