Jussi Adler-Olsen – Schändung

Mit „Schändung“ legt der dänische Autor Jussi Adler-Olsen nun den Nachfolgeroman zu seinem vielgepriesenen Debüt „Erbarmen“ vor. Adler-Olsens Chefermittler Carl Mørck rollt am Schreibtisch seines Büros im Keller der Kopenhagener Polizei für das Sonderdezernat Q alte, ungelöste Fälle auf. Ihm zur Seite stehen sein Assistent Hafez el-Assad und die ihm neu zugeteilte Sekretärin Rose.

Mørcks neuester Fall beginnt damit, dass eine alte Akte auf seinem Schreibtisch landet: In einem Sommerhaus in Rørvik wurden vor 20 Jahren die Leichen eines Geschwisterpaares gefunden. Verdächtigt wurden damals einige Schüler eines exklusiven Internats, von denen einer tatsächlich ein paar Jahre später die Tat gesteht. Der Fall wurde damit abgeschlossen. Doch wie kommt die Akte nun auf Mørcks Schreibtisch? Ein aufgeklärter Fall ist für das Sonderdezernat Q eigentlich unbedeutend. Mørck wird durch das mysteriöse Auftauchen der Akte neugierig und stellt erste Nachforschungen an, schon um heraus zu finden, wer ihm die Akte auf den Schreibtisch gelegt hat.

Als ihm schon nach kürzester Zeit von hoher Stelle Steine in den Weg gelegt werden, ist Mørck klar, dass mit diesem angeblich aufgeklärten Fall etwas nicht stimmen kann. Die Spur der damals Verdächtigen führt hinauf in höchste gesellschaftliche Kreise. Die Schüler, die damals unter Verdacht standen, hätten viel zu verlieren, sollte ihnen doch noch eine Verstrickung in den Fall nachgewiesen werden.

Die einzige, die nicht mehr tief fallen kann, ist Kimmie – damals das einzige Mädchen in der Clique, ist sie heute obdachlos und lebt auf der Straße. Kimmie scheint irgendetwas zu wissen und das ist auch dem Rest der damaligen Clique klar. Mørck hofft daher, Kimmie zu finden, bevor ihr das Wissen um die damaligen Ereignisse zum Verhängnis wird …

„Schändung“ ist auf den ersten Blick ein Krimi mit stimmigen Zutaten. Auf Ermittlerseite sind mit Carl Mørck, seinem Assistenten Assad und der zwangsversetzen (und seitens Mørcks unerwünschten) Sekretärin Rose recht unterschiedliche Charaktere am Start, die viel Potenzial versprechen. Hinter diesen Figuren scheint sich eine teils recht interessante Geschichte zu verbergen. Vor allem in Bezug auf Carl Mørck werden immer wieder die Ereignisse aus „Erbarmen“ angedeutet, die sich doch recht tief in seine Psyche eingegraben zu haben scheinen, auch, wenn der quer in die Reihe einsteigende Leser sich mit einzelnen Andeutungen zufrieden geben muss.

Mørck verkörpert ansonsten den typischen geschiedenen Ermittler Marke Wallander, dem im Privaten eher wenig Glückverheißendes gelingt – wenngleich die Charakterskizzierung des privaten Carl Mørck ein wenig blass bleibt und man sich hier ein wenig mehr Tiefe wünschen würde. Auch im Bezug auf Assad verhält es sich ähnlich. Es wird ein wenig angedeutet, aber nur sehr wenig verraten.

Die verdächtigen Ex-Schüler des Eliteinternats sind als Figuren nicht immer ganz nachvollziehbar. In Jugendjahren haben sie ein wenig zu oft „Clockwork Orange“ gesehen und sich ein wenig zu sehr davon inspirieren lassen. Nun stehen sie gesellschaftlich sehr weit oben und haben, sollte ihnen eine Mitschuld an den Morden von vor 20 Jahren nachgewiesen werden können, sehr viel zu verlieren. Es sind Männer, die es gewohnt sind, zu kriegen, was sie gerade haben wollen und wirken in der Art, wie sie durch ihren Alltag schreiten, irgendwie überzeichnet. Das ist eindeutig eine Schwäche des Romans, denn die Glaubwürdigkeit der Figuren ist hier ein echtes Manko.

Kimmie, die ebenfalls zur Internatsclique gehörte, fällt dagegen ziemlich aus der Rolle. Sie lebt schon seit Jahren auf der Straße, hat mit dem Rest der Truppe gebrochen und da sie durch ihr Wissen für den Rest der feinen Herren durchaus gefährlich werden kann, tut sie gut daran, sich versteckt zu halten. Kimmie ist sicherlich auch die Figur, die der Leser am neugierigsten verfolgt. Sie stammt ebenfalls aus gutem Hause, lebt aber trotzdem auf der Straße. Mit fortlaufender Handlung wird Kimmies Schicksal zunehmen entblättert und offenbart eine gebrochene Persönlichkeit. Kimmie ist der wunde Punkt für die Internatsclique und für Carl Mørck der erfolgversprechendste Ermittlungsansatz.

Und so rückt Kimmie mit fortlaufender Handlung immer mehr ins Zentrum des Geschehens. Der Verlauf der Handlung insgesamt und der Spannungsbogen im Speziellen sind dann auch schon wesentlich überzeugender als die Ausarbeitung der einzelnen Charaktere. Häufige Perspektivenwechsel, viele Andeutungen, die erst im weiteren Verlauf mit Informationen gefüllt werden, die Steine, die Mørck bei seinen Ermittlungen zunächst einmal in den Weg gelegt werden – all das sorgt dafür, dass man der Auflösung des Falls entgegen fiebert. Das lässt die Schwächen in der Figurenskizzierung dann auch streckenweise in den Hintergrund treten.

Bleibt unterm Strich ein gemischter Eindruck zurück. „Schändung“ liest sich sehr spannend, ist dabei teilweise drastisch in der Schilderung von Gewalt und kann mit Carl Mørck und seinem Team eine interessante Ermittlerriege in die Waagschale werfen. Schwächen zeigen sich in der Ausarbeitung der Figuren. Wo die Täter überzeichnet wirken, hätte man sich mit Blick auf das doch eigentlich sehr interessant angelegte Ermittlerteam etwas mehr Tiefgang gewünscht. Bleibt zu hoffen, dass Adler-Olsen der Entwicklung seiner Protagonisten im nächsten Band etwas mehr Raum lässt, denn darin steckt noch eine Menge Potenzial.

Taschenbuch: 460 Seiten
ISBN-13: 978-3423247870
Originaltitel: Fasandræberne
Deutsch von Hannes Thiess
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