Bewegendes Schicksal in gefahrvoller Welt
22. Jahrhundert: Wenn Matt in den Spiegel schaut, sieht er nicht nur sich… Als er Freunde sucht, findet er Verrat. Als er die Wahrheit erfährt, ist er auf der Flucht. Denn Matt ist kein gewöhnlicher Junge. Er ist der Klon des mächtigsten Mannes der Welt. Sein Schicksal ist das Skorpionenhaus.
Matt ist in der Zukunft geboren, hinein in eine Welt, die ihn verabscheut. Denn Matt ist ein Klon. In einer Gesellschaft, die keine Skrupel kennt, gerät er in ein gefährliches Netz aus Intrigen und Täuschungen. (Verlagsinfo)
Die amerikanische Originalausgabe von „Das Skorpionenhaus“ wurde im Oktober 2002 mit dem „National Book Award„, dem wichtigsten US-amerikanischen Literaturpreis, ausgezeichnet.
Im Oktober 2004 wurde „Das Skorpionenhaus“ mit dem „Buxtehuder Bullen“ als bestes Jugendbuch des Jahres 2003 ausgezeichnet.
Die Autorin
Nancy Farmer wurde 1941 in Arizona geboren. Sie verbrachte eine aufregende und ungewöhnliche Kindheit im Hotel ihrer Eltern an der mexikanischen Grenze. Hier traf sie auf skurrile Gestalten: einsame Autoren, verwegene Fernfahrer und umherziehende Zirkusartisten.
Die Schriftstellerei entdeckte sie jedoch erst spät. Zunächst lebte und arbeitete sie in Indien, Zimbabwe und Mosambik. Sie war in der Friedensbewegung engagiert, hatte eine Anstellung als Chemielehrerin und arbeitete als technische Assistentin. Erst als ihr Sohn Daniel geboren wurde, beschloss Nancy Farmer, sich als Schriftstellerin zu versuchen. Sie war vierzig, als sie ihre erste Kurzgeschichte schrieb.
Mittlerweile wurden zahlreiche ihrer Texte und Bücher mit Preisen ausgezeichnet. Nancy Farmer ist heute eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA. Ihr Roman „Das Skorpionenhaus“ wurde 2002 mit dem National Book Award ausgezeichnet und war für den deutschen Kurd-Lasswitzpreis 2004 nominiert, der das beste ausländische Science Fiction Werk des Jahres 2003 auszeichnet. (Verlagsinfo)
Werke
1993 Do You Know Me
1994 The Ear, The Eye, and the Arm
1995 The Warm Place
1996 A Girl Named Disaster
Nhamo oder Der Geist des Leoparden, dt. von Heike Brandt; Beltz und Gelberg, Weinheim, Basel 1999. ISBN 3-407-80855-0
1996 Runnery Granary
2002 The House of the Scorpion
Das Skorpionenhaus, dt. von Martin Baresch; Loewe, Bindlach 2003. ISBN 3-7855-4634-3
2013 The Lord of Opium
Fortsetzung von „Das Skorpionenhaus“
Die Trolls Saga
2004 The Sea of Trolls
Drachenmeer, dt. von Simone Wiemken; Loewe, Bindlach 2005. ISBN 3-7855-5355-2
2007 The Land of the Silver Apples
Elfenfluch, dt. von Simone Wiemken; Loewe, Bindlach 2008. ISBN 978-3-7855-5014-4
2009 The Islands of the Blessed
Nebelrache, dt. von Simone Wiemken; Loewe, Bindlach 2011. ISBN 978-3-7855-7143-9
(Quelle: Wikipedia.de)
Handlung
Der Roman erzählt Matteo Alacráns Leben chronologisch von Anfang bis Ende. Ist sein leben schon ungewöhnlich, so ist es dessen Anfang umso mehr. Denn Matt ist ein Klon, und als solcher sollte er als Neugeborenes von Gesetzes wegen mit einer die Intelligenz abtötenden Spitze behandelt werden. Dies unterbleibt aus ganz bestimmten Gründen, und so wächst Matteo mit einer für einen Klon höchst ungewöhnlichen Intelligenz auf – wie ein ganz gewöhnlicher Normalo nämlich, und nicht wie ein „Migit“. Dass dies über kurz oder lang Ärger geben wird, dürfte klar sein.
Der Ärger beginnt, als Matt sechs ist. Er ist bei seiner Ziehmutter Celia, einer frommen und heilkundigen Mexikanerin, aufgewachsen, doch eines Tages tauchen vor dem Fenster ihrer Hütte in den Feldern zwei fremde Kinder auf, mit denen Matt gerne spielen würde. Es sind Steven und María. Als Matt aus seinem abgesperrten Gefängnis ausbricht und sich verletzt, bringen sie ihn ins Herrenhaus. Als man Matts Fußsohle betrachtet, bricht ein Proteststurm lost, denn dort steht klar geschrieben: „Eigentum der Familie Alacrán“. Ein Klon unter Menschen – igitt! Das Familienoberhaupt lässt Matt sofort wie ekligen Abfall entfernen. Matt ist am Boden zerstört. Aber das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen soll.
Eines Tages, nicht lange danach, darf Matt ins Herrenhaus umsiedeln, denn das Familienoberhaupt – El Viejo – der Alacráns mag mächtig sein, doch El Patrón ist weitaus mächtiger. Und Matt ist einer seiner Klone. Nur El Patrón verschafft Matt eine privilegierte Stellung, die ihm von allen anderen Kindern geneidet wird – mit einer einzigen Ausnahme: María, die jüngere Tochter von US-Senator Mendoza. Aber ihre Haltung zu Matt ist ambivalent: Mal scheint sie eher zu dem schönen, aber grausamen Tom Alacrán zu neigen, dann wieder zu Matt. Dieses Dreiecksverhältnis wird Matt noch viel Kummer bereiten.
Aber Matt findet auch so etwas wie Freunde. Der wichtigste davon ist sein neuer Leibwächter Tam-Lin, der aus Schottland kommt und, wie Matt herausfindet, früher mal Terrorist war. Tam-Lin zeigt Matt Dinge, die geheim bleiben müssen und sich später für Matts Überleben als wichtig erweisen. So erfährt Matt, wer El Patrón in Wahrheit ist: der König des Landes Opium. Dieses Land bildet eine Pufferzone zwischen dem alten Mexiko, das nunmehr Aztlan heißt, und den alten Vereinigten Staaten. Angebaut wird ausschließlich das Ausgangsprodukt für Opium: Mohn. Und im Gegenzug dafür, dass die USA Opium ungeschoren lassen, fängt El Patrón alle mexikanischen Einwanderer ab und liefert sein Opium nur an Länder außerhalb Nordamerikas. Selbst dadurch wird er unermesslich reich und mächtig: Er herrscht über ein Imperium, das von Kalifornien bis an die Golfküste reicht.
Nur allmählich, mit den Jahren, wird Matt klar gemacht, was dies für die Einwanderer bedeutet: Sie werden mit Hilfe eines implantierten Chips zu Migits gemacht: programmierten und fügsamen Arbeitern, die absolut nichts aus freiem Willen tun können. Nicht einmal trinken. Alle Klone werden ebenfalls automatisch zu Migits programmiert.
Kein Wunder also, dass Matt für den alten Drachen El Patrón zunächst nur Liebe und Bewunderung empfindet. Doch als sich dessen 150. Geburtstag nähert, geht es mit seiner Gesundheit rapide bergab. Und nun muss sich Matts Schicksal erfüllen, denn es gibt einen triftigen Grund, warum der alte Mann von sich Klone herstellen ließ…
Mit vierzehn Jahren muss Matt hinaus in eine Welt fliehen, die er noch nie gesehen hat. Und die keine Verwendung für seinesgleichen hat – außer als Arbeitssklave. Doch irgendwo dort draußen lebt seine einzige Hoffnung: María Mendoza.
Mein Eindruck
„Alacrán“ bedeutet im Spanischen „Skorpion“. Deshalb ergibt der Titel einen doppelten Sinn: Das Haus ist das der Skorpione und der Alacráns. Sie sind die Skorpione, wie nicht nur ihr Wappentier zeigt. Sie sind auch in ihren Charakterzügen dem gefährlichen Kerbtier verwandt: Allesamt auf Macht und Einfluss erpicht, werden sie nur von El Patrón im Zaum gehalten, so dass die Sippe nicht in Selbstzerfleischung verfällt. Es gibt nur wenige Außenstehende, die die Lage im Skorpionenhaus durchschauen und kritisch beurteilen können: Celia, Matts Ziehmutter, aber auch Tam-Lin, sein Leibwächter und Mentor in physischen und philosophischen Dingen. Schließlich zu einem geringeren Grad auch María.
Zeit-Kapsel
Alle diese Menschen erwachen durch anschauliche Schilderungen und genaue Charakterisierung zum leben, so dass Matt nicht in eine Art Experiment geworfen erscheint, sondern in eine Art Leben. Dies ist natürlich nicht das Leben, das der Rest der Menschheit führt, sondern das Leben in einer Kapsel von Zeit, die von El Patrón vor hundert Jahren in ihrem Lauf angehalten worden ist. Als Matt aus dieser streng bewachten Kapsel ausbricht, erleidet er daher sozusagen einen Kulturschock. Doch seine Person ermöglicht sowohl drinnen wie draußen eine Veränderung – eine Wendung zum Besseren.
Eine „Humanistin“
Anders als der Großteil der heute in USA verfassten Science Fiction orientiert sich Nancy Farmer mehr an individuellen Schicksalen, die sozialen und kulturellen Wandel widerspiegeln. Damit steht sie in großer Nähe zu AutorInnen wie Ursula K. Le Guin („Die linke Hand der Dunkelheit“) und Kim Stanley Robinson (Orange County Trilogie). Man hat diese Autoren mit dem Etikett „Humanisten“ belegt, um sie von den Naturwissenschaftlern, Militaristen und Cyberpunks abzugrenzen. Leute wie Robinson lehnen das Etikett als unsinnig ab, denn warum sollte ein Autor eine Geschichte erzählen bzw. ein Leser eine Story lesen wollen, wenn darin nicht Menschen vorkämen, über deren Schicksal sich zu reden lohnte? Das ist mithin ein „human interest“.
Der Unterschied
Was ist also anders an Nancy Farmers Buch? Nicht nur die strikt auf Matts Schicksal fokussierte Erzählperspektive, sondern auch der sich stetig ausweitende Blickwinkel, in dem die erstaunliche Welt sichtbar wird, in der Matt aufwächst. Matt erlebt stellvertretend für uns die Auswirkungen der Veränderungen in dieser für uns fremdartigen Welt mit. Fremdartig oder nicht: Wir können sie durch Matts Augen erleben und daher zu einem gewissen Grad verstehen und erfahren. Man kann diese Leistung nicht hoch genug einschätzen. Denn die Veränderungen sind in unseren Augen enorm.
Da ist einmal natürlich die bloße Existenz eines Landes wie Opium, eines separaten Staates, der sich vollständig in Privatbesitz befindet. Auch Klone und Migit, programmierte Menschen und Tiere sowie deren erbärmliche Lebensbedingungen sind neu. Richtig schockierend wird die veränderte Welt jedoch erst, als Matt in Aztlan arbeiten muss: Plankton für Tierfutter wird gezüchtet und von jungen Sklaven geerntet, und in einer trockengelegten Meeresschlucht stapeln sich meterhoch die Knochen von gestrandeten Walen. So hoch, dass sie den da hineingeworfenen Jungen zu erdrücken und zu ersticken drohen, denn die Schluchtwände sind fast zu steil zum Erklimmen.
Erlösung, tatsächlich
Doch auch in dieser todgeweihten Welt gibt es Hoffnung auf Erlösung. Daher ist die Liebe zwischen Matt, dem Klonwesen, und María, der echten, reinen Menschenfrau, so wichtig. Nur die Liebe gewährleistet der Seele Matts – und vielleicht auch seiner körperlichen Existenz – dass er nicht ein Ding oder Tier ist, sondern ein vollwertiger Mensch. Ein Mensch, den man liebhaben kann. Nicht als nutzbarer Teil von einem selbst, wie El Patrón das tut, sondern als ein eigenständiges Subjekt und Gegenüber, das Liebe erwidern kann.
Unterm Strich
„Das Skorpionenhaus“ ist ein leicht verständliches Jugendbuch, das sich von vielen anderen Jugendbüchern in nichts unterscheiden würde, wenn es darin nicht letzten Endes um eine fremdartige Welt gehen würde, die uns, käme sie unvermittelt, heftig erschrecken würde. Es ist ein „utopischer Roman“, schon gut, doch hält er einige Wahrheiten für uns bereit, bittere wie auch schöne. Und vermittelt werden sie keinesfalls mit erhobenem Zeigefinger, sondern über das Schicksal von Figuren, mit denen sich der Leser leicht identifizieren kann.
„Ein utopischer Roman, der von wahren und starken Charakteren lebt – Menschen, die sich wirklich um andere sorgen, Kinder, die unsicher und verletzlich sind, mächtige Diktatoren, die man bedauern muss, charakterstarke und sympathische Menschen, die schreckliche Fehler machen.“ Ursula K. Le Guin
Eine Schwäche
Das einzige Detail, das mich persönlich daran störte, war die Benutzung von sprachlichen Klischees aus der amerikanischen Fernsehsprache. Klischees wie „Ask me if I care.“ – „Frag mich, ob mir das was ausmacht.“ Vielleicht reden die Amis ja wirklich in solchen Floskeln. Und man kann sich vorstellen, dass zumindest Celia wegen ihrer Seifenopern so redet. Aber die Floskeln finden sich auch in anderen Sätzen wieder. Das sollte eine gute Autorin vermeiden, finde ich. Die Autorin wird sich das überlegt haben, und vielleicht wollte sie einfach die amerikanischen Jugendlichen, die an solche Floskeln gewöhnt sind, dadurch leichter erreichen.
Hardcover: 406 Seiten
Originaltitel: The house of the scorpion, 2002;
Aus dem Englischen von Martin Baresch
ISBN-13: 9783785546345
www.heyne.de
Der Autor vergibt: