Blair, Jason L. – Kleine Ängste

Am Anfang dieses Textes steht eine ungewohnte Schwierigkeit. Fingerspitzengefühl über das normale Maß hinaus ist gefragt, um eine Rezension für das Rollenspiel „Kleine Ängste“ zu verfassen. Um das zu verstehen, bedarf es einiger Erklärungen.

Das Grundbuch löste unmittelbar nach dem Erscheinen eine Kontroverse aus, wie man sie nur selten unter Rollenspielern erlebt hat. Man stritt über Inhalte und Grenzen des Rollenspiels. Der hier vorliegende Text soll einen kleinen Beitrag zur Diskussion leisten. Die Heftigkeit, mit der für oder wider „Kleine Ängste“ gefochten wurde, ist nur zu erklären durch das Thema, welches das neue Spielsystem aufgriff. Erstmals thematisierte ein Rollenspiel auf dem deutschen Markt die Misshandlung von Kindern.

Nur selten sprachen Spieler, Autoren und Verleger so aufgeregt über ihr Hobby. Schnell polarisierten sich die Meinungen im Zuge der Debatte, wurden scharf und unsachlich. Für einige Spieler war |Kleine Ängste| „schlicht und ergreifend das gruseligste Rollenspiel“ überhaupt, andere hielten es für krank und abartig. Die üblicherweise recht liberale Rollenspielszene geriet in Bewegung. Bald war klar: Entweder mochte man „Kleine Ängste“, oder man verdammte es. Wie kam es zu solch einer heftigen Auseinandersetzung? Man stellte sich der Frage, ob ein Rollenspiel den Missbrauch von Kindern thematisieren darf.

_Worum geht es eigentlich? – Ein paar Fakten_

„Kleine Ängste“ ist ein Horror-Rollenspiel, in dem die Spieler in die Rollen von Kindern schlüpfen. Die Figuren stellen im Laufe des Spiels voller Entsetzen fest, dass die Monster ihrer Phantasie Wirklichkeit sind. Sie entstammen dem so genannten Land unter dem Bett, einer Hölle für Kinder. Die Herrscher dieser Hölle nehmen Einfluss auf das Diesseits und sind in der Lage, Menschen zu beeinflussen und sie zu schändlichen Taten zu bewegen. Die spieltechnischen Regeln sind simpel. Das ganze System basiert auf sechsseitigen Würfeln, Proben sind jedoch selten. Der Schwerpunkt liegt auf der Handlung und dem Erzählen. Wer sich für technische Einzelheiten wie Regelwerk oder Layout interessiert, kann dies an anderer Stelle leicht nachlesen (siehe Links).

„Kleine Ängste“ stammt aus dem Amerikanischen und wurde von Jason L. Blair geschrieben und entwickelt. Der Originaltitel lautet „Little Fears – The Roleplaying Game of Childhood Terror“ und erschien bei |Key 20 Publishing|. Der deutsche Herausgeber ist der Mannheimer Verlag |Feder und Schwert| (F&S), der das 122 Seite starke Büchlein im Oktober 2003 veröffentlichte. Die deutsche Ausgabe wurde von Oliver Graute (F&S) übersetzt und bearbeitet.

|Feder und Schwert| ist in der Rollenspielszene bekannt und gehört zu den größten deutschen Rollenspielverlagen überhaupt. Die Produkte des Verlages beschäftigen sich mit dunkler Fantasy und Horror. Spielsysteme wie „Vampire“, „Engel“ oder „Werwolf“ gehören zum Repertoire von F&S und blicken in Deutschland auf eine solide Fangemeinde. Im Gegensatz zu diesen verbreiteten Systemen war „Kleine Ängste“ nie von den deutschen Herausgebern als Großprojekt geplant. Es sollte ein Kleinod im Verlagsprogramm sein, nur interessant für eine spezielle Leserschaft. Die Auflage beschränkte sich auf 1000 Exemplare. Inzwischen ist „Kleine Ängste“ nur noch schwer zu bekommen. Bei eBay ging es schon für 50 Euro über den Tresen und erzielte damit mehr als das Doppelte des ursprünglichen Ladenpreises (22,95 Euro).

_Über Geschmack streiten – Standpunkte_

Spätestens nach dieser Einleitung wird deutlich, dass eine herkömmliche Besprechung für „Kleine Ängste“ nicht in Frage kommt. Genug Ansätze existieren, die im Rahmen der ausgelösten Kontroverse entweder auf die eine oder die andere Art und Weise Stellung beziehen. Über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten – oder doch? Hier ein kurzer Überblick der geleisteten Arbeit.

Die Gegner von „Kleine Ängste“ versuchen sich oftmals gegenseitig mit spitzen Formulierungen zu übertrumpfen. Es wird dabei maßlos übertrieben. Im Namen des Anstandes und des guten Geschmacks wird da so manches schwere Geschütz aufgefahren. Man hat Angst vor den Medien, fürchtet eine allgemeine Verrohung der Sitten und zieht gedankliche Linien zwischen Kindesmisshandlungen und LARP-Veranstaltungen. Die selbsternannten Apostel meinen es ernst und schwingen blind das Flammenschwert. Was dabei so an Gedankenmüll ins Internet geblasen wird, ist oft geschmackloser als das kritisierte Werk selbst.

Die Fans und Befürworter von „Kleine Ängste“ wettern nicht zurück, sondern bleiben eher ruhig. Es wird abgewiegelt. Sicherlich, Kindesmisshandlung sei ein Thema in „Kleine Ängste“, aber eben nicht das einzige Thema. Es ist ohne Schwierigkeiten möglich, „Kleine Ängste“ zu spielen, ohne dass Kindesmisshandlungen angesprochen werden. Das Argument, auf dem sich die Befürworter ausruhen, ist so alt wie AD&D: Wer sich an etwas stört, soll es einfach weglassen. Du spielst einen blutdurstigen Vampir, einen gnadenlosen Killer oder einen wahnsinnigen Wissenschaftler? Ich spiele ein traumatisiertes Kind – na und? Ein verbales Achselzucken.

Für den Verlag F&S war |Kleine Ängste| „von Anfang an ein Liebhaberstück“, so Oliver Graute. Man wollte nicht nur ein gutes Horror-Rollenspiel auf den Markt bringen, sondern gleichzeitig etwas Gesellschaftskritik üben. Man brüstet sich damit, dass sich die Kinderfiguren in „Kleine Ängste“ erfolgreich gegen ihre Peiniger wehren. Es sei keine Misshandlungs-, sondern eine Rettungsphantasie, die dem System zugrunde liege. Die Einführung des Bandes, das Nachwort sowie zahlreiche Einschübe im laufenden Text künden von diesem hehren Vorhaben.

_Fiktion und Realität_

Die Art und Weise, wie über „Kleine Ängste“ diskutiert wurde, erreichte qualitative Höhen und Tiefen. Die Herausgeber wollten vermitteln, wie man sich als Kind gegen Ängste erfolgreich zur Wehr setzt. Spieler, die sich im Internet zu „Kleine Ängste“ bekennen und es mögen, sagen damit nicht aus, dass sie die Misshandlung von Kindern gutheißen. Im Gegenteil: Viele Spieler wettern leidenschaftlich gegen solche Verbrechen.

Die durch „Kleine Ängste“ ausgelöste Kontroverse wurde so heftig, weil alle Beteiligten die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion verwischten. An erster Stelle ist da der Verlag |Feder und Schwert| zu nennen, dem die Hauptverantwortung anzulasten ist. In diesem Zusammenhang sind allen voran Autor Jason L. Blair und Redakteur Oliver Graute zu erwähnen. Mit der Veröffentlichung von „Kleine Ängste“ brachte man ein Spielsystem auf den Markt, das danach trachtet, die Grenze zwischen Phantasie und Realität aufzulösen. Die Abenteuer von „Kleine Ängste“ spielen nicht in einer imaginären Welt voller Drachen, Ritter und Magier, sondern in einem dunklen Abbild unserer Welt. Der Alltag wird mit phantastischen Elementen verbunden. Diese verzerrte Wirklichkeit ist Markenzeichen der meisten Produkte von |Feder und Schwert| („Wir veredeln die Wirklichkeit!“).

Sprach man im Rahmen der Kontroverse über die Realität, waren sich alle Beteiligten einig. Kindesmissbrauch ist ein furchtbares Thema, dem es mit aller Kraft entgegenzuwirken gilt. Kinder müssen um jeden Preis geschützt werden. Sprach man jedoch über Rollenspiele, schieden sich die Geister. Plötzlich stand die Frage im Raum, was ein Rollenspiel überhaupt zu leisten imstande ist.

_Was darf ein Rollenspiel?_

Zunächst ist ein Rollenspiel eine Form von Unterhaltung. Man trifft sich in kleiner Runde, unterhält sich, isst Chips und würfelt dabei. Rollenspielsysteme sind Produkte aus der Unterhaltungsbranche, und sie sollen in erster Linie Spaß machen. Auch Horror gehört dazu. Ob in der Geisterbahn, im Kino oder bei einem Rollenspielabend – sich zu gruseln, bereitet vielen Menschen einfach Freude.

Hauptelement der Unterhaltung im Rollenspiel ist ohne Frage die Entwicklung von Illusionen. Am Spieltisch entstehen in Zusammenarbeit von Autoren, Verlagen, Spielern und Spielleitern phantastische Welten. Man versetzt sich in eine fiktive Wirklichkeit. Über allem schwebt die Frage: Was wäre, wenn …? (… wenn ich ein Ork wäre? … wenn es einen Atomkrieg gegeben hätte? … wenn interstellares Reisen möglich wäre?) Die gestellten Fragen bestimmen maßgeblich das Setting und orientieren sich am Geschmack der einzelnen Spielgruppe. Spekulationen und das Spiel mit Illusionen sind einige der Hauptelemente des Rollenspiels allgemein.

Graute und Blair wollten aber nicht bloß ein gutes Horror-Rollenspiel machen. Das Potenzial dazu hat „Kleine Ängste“ gewiss. Gewissermaßen nebenher wollten sie auch Gesellschaftskritik betreiben. Um wirklich konstruktive Kritik an gesellschaftlichen Missständen zu üben, bedarf es jedoch einer außerordentlich tiefgründigen und differenzierten Sichtweise. Illusionen sind da völlig fehl am Platz. Die Macher von „Kleine Ängste“ verbinden Dinge, die schon in der Struktur nicht zusammengehören. Sie banalisieren so den Missbrauch an Kindern und gehen verantwortungslos mit dem Thema um. Obendrein besitzen sie die Arroganz, sich selbst als außerordentliche Kritiker darzustellen, was sie ganz eindeutig nicht sind.

Ihr wahrscheinlich größer Irrtum liegt in der Annahme, dass der Missbrauch von Kindern ein allgemein bekanntes Thema ist. Das genaue Gegenteil ist jedoch der Fall. Den tatsächlich aufgeklärten Fällen von Kindermissbrauch steht eine hohe Dunkelziffer gegenüber. Engagement für Kinder in solchen furchtbaren Lebenssituationen bedeutet, die Verbrechen ans Tageslicht zu holen und Illusionen zu zerstören. Blair und Graute verstehen sich selbst als Aufklärer, sind jedoch das genaue Gegenteil: Illusionisten. Rollenspieler eben.

_Fazit_

Oliver Graute und Jason L. Blair arbeiten in der Unterhaltungsbranche und sollten wissen, was sie dem Medium Rollenspiel zutrauen können und was nicht. „Kleine Ängste“ war kein großer Wurf. Es war ein idiotischer Ausrutscher. Von der F&S-Redaktion hätte man zumindest eine kritischere Überarbeitung des Originaltextes für den deutschen Markt erwartet. Ein Rollenspiel darf den Missbrauch von Kindern nicht thematisieren. Weder den betroffenen Kindern noch dem Hobby Rollenspiel wird man damit gerecht.

_LINKS_

[Verlag Feder und Schwert]http://www.feder-und-schwert.de

Interview mit Oliver Graute (F&S) im Fanzine SONO
Download unter: http://www.link.avalon-projekt.com/action/gotolink.php?AML__linkid=14

[Forumsdiskussion zu Kleine Ängste – Palaver – Rollenspielverein Biberach e. V.]http://www.glyphen.de/projects/hosted/rollenspielverein/forum/viewtopic.php?t=609

[Kleine-Ängste-Fanpage]http://kleineaengste.de/

[Forum für Kleine Ängste]http://www.travar.de/koops/fantasyguide/index.php?board=806