Charlotte Link – Am Ende des Schweigens

Stanbury ist ein kleines Dorf im Westen von Yorkshire, eine romantische Gegend, in der einst die Bronte-Schwestern zuhause waren. In dem Anwesen Stanbury House verbringen jedes Jahr drei deutsche Ehepaare die Ferien, die Männer sind seit Schulzeiten miteinander befreundet. Patricia Roth ist die Eigentümerin des Anwesens, ihr Mann Leon ist Anwalt, die verwöhnten Töchter Diane und Sophie sind zwölf und zehn Jahre alt. Das zweite Paar bilden der Psychologe Tim und seine depressive Frau Evelin. Relativ neu im Kreis ist Jessica, die erst seit einem Jahr mit Alexander verheiratet ist. Obwohl sie ihn erst nach der Scheidung kennen lernte, steht seine fünfzehnjährige Stieftochter Ricarda ihr rigoros ablehnend gegenüber.

Unter der scheinbar harmonischen Oberfläche der drei Familien lauern allerleih Spannungen und Feinseligkeiten. Die Sitiation droht zu eskalieren, als sich Ricarda mit einem jungen Farmersohn einlässt.

In diese gespannte Lage trifft ein Fremder namens Phillip Bowen, der sich als unehelicher Sohn von Patricias verstorbenem Großvater ausgibt. Er erhebt Anspruch auf die Hälfte des Anwesens. Da er für seine Abstammung keine Beweise vorlegen kann, verweist Patricia ihn sofort des Grundstücks. Doch Phillip denkt nicht daran, aufzugeben. Immer wieder schleicht er sich in die Nähe des Hauses und sucht Kontakt zu den Bewohnern.

Eines Tages kehrt Jessica von einem Spaziergang zurück und findet in dem Haus ein Massaker vor. Fünf der neun Bewohner sind grausam ermordet worden. Sowohl Jessica als auch die Polizei stehen vor einem Rätsel. Wer hat all diese Menschen auf dem Gewissen? Hat ein Außenstehender die Tat begangen? Ist der undurchsichtige Phillip Bowen in die Sache verwickelt? Oder ist der Täter gar einer aus dem Kreis der Freunde? Jessica beginnt, in der Vergangenheit zu forschen. Nach und nach kommt sie einigen dunklen Geheimnissen auf den Grund …

Mittlerweile werden alle Werke von Charlotte Link zu Bestsellern. Auch dieses Buch sorgte für Furore und das nicht zu Unrecht, denn auch hier ist der Autorin mal wieder ein sowohl unterhaltsamer als auch spannender Roman gelungen. Allerdings können falsche Erwartungen den Genuss schmälern: „Am Ende des Schweigens“ ist nämlich weniger als Thriller, sondern vielmehr als Charakterstudie und Psychodrama zu verstehen. Dementsprechend verläuft die erste Hälfte in einem gemächliches Erzähltempo. Nachdem der Leser im Prolog über eine Leiche stolpert, muss er sich zunächst in Geduld üben, ehe er Näheres zu diesem Massaker erfährt. Gut 200 Seiten lang wird rückblickend das Zusammenleben der drei Paare und ihrer Kinder geschildert.

Identifikation mit Hauptfigur

Der Fokus liegt dabei eindeutig auf Jessica Wahlberg, die die Hauptfigur in dem ganzen Roman bildet. Obwohl bereits seit zwei Jahren mit Alexander liiert, ist sie immer noch „die Neue“ im Kreis der Freunde. Während die anderen miteinander eine vertraute Einheit bilden, fällt es Jessica nicht leicht, sich in diese verschworene Gemeinschaft einzufügen. Sie ist eine Einzelgängerin, liebt einsame Spaziergänge durch die wildromantische Gegend und nutzt jede freie Minute, um sich von ihren Mitbewohnern zurückzuziehen. Die junge und sympathische Frau wird für den Leser schnell zur Identifikationsfigur. Nur allzu gut versteht man ihren Wunsch, sich von der Gruppe zurückzuziehen, nicht zuletzt, da ihre Mitbewohner allesamt schwierige bis unsympathische Charaktere sind:

Da sind die tonangebende Patricia, die auf Widerspruch jeder Art allergisch reagiert, und ihr unterwürfiger Mann Leon, von dem keine Unterstützung zu erwarten ist. Der Psychologe Tim ist ein Egozentriker, der sich einen Spaß daraus macht, alles und jeden in seiner Umgebung zu analysieren, während seine Frau Evelin unter Depressionen und Fressattacken leidet. Jeder in Stanbury House weiß von ihren Problemen, doch es scheint ein stillschweigendes Übereinkommen zu herrschen, nicht darüber zu sprechen. Jessica würde dieses Tabu gerne brechen – aber sie muss erfahren, dass auch ihr Mann Alexander den Schein-Frieden um jeden Preis wahren will. Dazu kommen die Sorgen um Ricarda, deren Verhältnis mit einem einheimischen Farmersohn die Erwachsenen spaltet.

Falsche Fährten en masse

Für Konfliktstoff ist reichlich gesorgt. Nach dem Massaker ist daher alles andere als eindeutig, wer für die Tat verantwortlich ist. Jessica beginnt, in der Vergangenheit zu wühlen. Sie erfährt schockierende Details aus den Ehen der Freunde sowie ein dunkles Geheimnis ihres eigenen Mannes, das die drei Freunde seit vielen Jahren gemeinsam verband. Was Jessica schon lange ahnte, ist jetzt offenkundig: Jeder Bewohner von Stanbury House hatte etwas zu verbergen. Hinter der harmonischen Fassade lauern tiefe Abgründe – doch liegt hier auch der Schlüssel für das schreckliche Geschehen begraben? Hat tatsächlich einer der Freunde die Morde begangen?

Parallel zu Jessicas Leben in Stanbury House dreht sich ein zweiter Erzählstrang um Philipp Bowen und sein Bemühen, seinen Anspruch auf das Anwesen durchzusetzen. Während Jessica eindeutig ein Symapthiecharakter ist, steht man Philipp eher zwiespältig gegenüber. Einerseits ist man geneigt, dem vom Pech verfolgten Mann Erfolg bei seinem Vorhaben zu wünschen. Auf der anderen Seite besitzt auch er ein Motiv für die grauenvolle Tat. Sein Wunsch, als Sohn des berühmten verstorbenen Journalisten Kevin McGowan anerkannt und Mitbesitzer von Stanbury House zu werden, grenzt beinah schon an Besessenheit. So wie Phillips Freundin Geraldine, fragt sich auch der Leser: Wie weit würde er für sein Ziel gehen?

Leichte Unglaubwürdigkeiten

Bei aller Spannung geht es nicht ohne Kritikpunkte. Größtes Manko ist in meinen Augen die Glaubwürdigkeit der Hauptfigur Jessica. Sie findet die Leichen von fünf Menschen, darunter die ihres Mannes. Obendrein ist sie auch noch schwanger. Trotzdem bewahrt sie eine erstaunliche Ruhe, die nicht einfach mit Verdrängung oder Schockzustand erklärt werden kann. Sie bricht weder zusammen noch verfällt sie in Apathie. Stattdessen gelingt es ihr irgendwie, ein einigermaßen normales Leben weiterzuführen und gleichzeitig auch noch auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen. Ihre Überlegungen, auch in Bezug auf ihr erwartetes Baby und ihre Stieftochter Ricarda, sind sehr rational und geordnet. Trotz ihres Verlustes bietet sie den anderen Opfern, die im Gegensatz zu ihr aus der Bahn geworfen sind, ihre Unterstützung. Wenn Gedanken an ihren verstorbenen Mann auftauchen, werden sie schnell mit einem „Scheiße! Denk nicht daran! Denk, verdammt nochmal, nicht daran!“ abgetan. An anderer Stelle heißt es lapidar: „Sie wollte nicht an Stanbury denken, aber natürlich glitten ihre Gedanken wieder dorthin (…)“.

Jessica ergibt sich nicht in ihren Schmerz, sondern bleibt trotz der Tragödie stark und vernünftig – zu stark und zu vernünftig für meinen Geschmack. Fast gewinnt man den Eindruck, man habe es mit einer Außenstehenden zu tun, die zwar ein furchtbares Verbrechen miterlebt hat, den Beteiligten aber nicht weiter emotional nahe steht. Die ohne Zweifel schwierige Charakterdarstellung einer Frau, die angesichts einer Katastrophe Haltung bewahrt, ist der Autorin meiner Meinung nach nur bedingt gelungen und insgesamt zu unwirklich.

Ein weiterer unrealistischer Punkt liegt in den polizeilichen Ermittlungen. Auf der Suche nach dem Täter rücken Motiv und Alibi in den Vordergrund, während Ergebnissen der Spurensicherung kaum Beachtung geschenkt wird. Bei einem Massenmord durch Erstechen dürfte jedoch klar sein, dass es eine erhebliche Rolle spielt, ob und wie viel Blut bei Verdächtigen festgestellt wird. Stattdessen werden diese Erkenntnisse nur am Rande behandelt, was aus kriminalistischer Sicht leider alles andere als glaubwürdig ist.

Von diesen beiden Punkten abgesehen, bleibt ein solider psychologischer Spannungsroman, der keine Langeweile aufkommen lässt. Am Ende wird dem Leser eine plausible Lösung präsentiert, die schon zuvor immer wieder durch geschickte Andeutungen vorbereitet wurde und somit letztlich nachvollziehbar ist. Wie auch in anderen Werken schreibt die Autorin in einem leicht lesbaren und flüssigen Stil, ohne allzu lange oder kompliziert formulierte Sätze. Dadurch eignet sich das Buch trotz seines Umfangs von knapp über 600 Seiten auch ideal als Urlaubslektüre.

Unterm Strich

„Am Ende des Schweigens“ ist ein durchweg spannendes und atmosphärisch dichtes Psychodrama über verdrängte Schuld- und Hassgefühle, die hinter einer harmonischen Fassade hervorbrechen. Geschickt werden diverse Fährten ausgelegt, die der Leser gemeinsam mit der weiblichen Hauptfigur erkundet. Immer wieder stößt man auf neue Geheimnisse aus der Vergangenheit, die bis zum rasanten Showdown alles in einem anderen Licht erscheinen lassen. Leichte Abzüge gibt es für die teilweise unrealistischen Schilderungen sowohl der Protagonistin als auch der polizeilichen Ermittlungsarbeit.

Charlotte Link, Jahrgang 1963, gehört zu den erfolgreichsten deutschen Autorinnen der Gegenwart. Fast alle ihre Bücher wurden zu Bestsellern. Ihre Spezialgebiete sind historische Romane sowie Psychothriller. Zu ihren bekanntesten Werken zählen: „Das Haus der Schwestern“, „Verbotene Wege“, „Die Sünde der Engel“ und die Sturmzeit-Trilogie („Sturmzeit“, „Wilde Lupinen“, „Die Stunde der Erben“). Mehrere ihrer Bücher wurden fürs Fernsehen verfilmt.

Taschenbuch: 603 Seiten