King, Stephen – Atlantis

Wenn es etwas gibt, das man Stephen King, dem Meister des Alltag-Horrors, nicht vorwerfen kann, dann ist es ein Mangel an Abwechslung in seinen Geschichten.
Dass ein Stoff mehrmals aufgewärmt wird, wie etwa bei den Genrekollegen Koontz oder Herbert, kommt bei King eher selten vor, was wohl einfach an dem schier unerschöpflichen Ideenpotenzial dieses Mannes liegt. Ausnahmen, wie der unsägliche „Rose Madder“-Roman, der mehr als nur eine Parallele zum „Feind in meinem Bett“ aufwies, sollen vorkommen; allerdings ist dieser Roman auch in der wohl schwächsten Phase Kings erschienen, welche 1992 mit „Geralds Game“ („Das Spiel“) begann und mit dem spannenden Doppelpack „Regulator“ und „Desperation“ zum Glück wieder vorbei war.
Dass King auch noch richtige Meisterwerke abliefern kann, hat er spätestens mit „The Green Mile“ ziemlich eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Dabei kam der Fortsetzungsroman, ebenso wie bereits die geniale Novelle „The Shawshenk Redemption“ oder „Dolores“, ganz ohne Horror-Elemente aus, zumindest beinahe. Auch in seinem aktuellen Werk spielt das Übersinnliche nur eine eher untergeordnete Rolle.

Mit „Atlantis“ wird Stephen King so manchen Leser überraschen, denn der Roman stellt die bislang wohl ungewöhnlichste, gleichwohl aber auch ohne Zweifel die anspruchsvollste Arbeit des Amerikaners dar. Wobei die Bezeichnung „Roman“ eigentlich nur bedingt zutrifft, da die vier Abschnitte, aus denen das Buch besteht, nur in einem losen Zusammenhang stehen, der sich weniger auf die Handlung, sondern eher auf die Personen bezieht. Diese bilden aber ohnehin das Hauptelement des Buches und bestechen – wie so oft bei King – durch eine unglaublich lebendige, farbige Charakterzeichnung.

Was die Handlung anbelangt, so ist hier eigentlich nur der erste Teil in der typisch Kingschen Erzählform verfasst. King spannt einen chronologischen Bogen, der in den frühen 60ern seinen Anfang nimmt und bis ins Jahr 1999 reicht, wobei die 60er jedoch das tragende Element des Buches bilden.

So dreht sich im ersten Teil alles um den 11-jährigen Bobby Garfield, der zusammen mit seiner jähzornigen und vom Leben enttäuschten Mutter in einer Kleinstadt lebt und dort im Jahr 1960 die Bekanntschaft mit Ted Brautigan macht, einem älteren Herrn, der plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht und sich in Bobbys Haus zur Untermiete einquartiert. Sehr zum Leidwesen von Bobbys Mutter (von King hervorragend dargestellt), schließen die beiden schnell Freundschaft. Ted vertraut Bobby an, dass er auf der Flucht vor ominösen Männern in gelben Mänteln ist, die in grellbunten Wagen unterwegs sind und die trotz oder gerade aufgrund ihrer Auffälligkeit von den Erwachsenen nicht bemerkt werden. Nur Kinder können sie sehen. Anfangs glaubt Bobby, dass es sich bei den Männern in Gelb nur um Phantasiegeschöpfe handelt, doch als Ted ihm anbietet, sich ein paar Dollar zu verdienen, indem er nach merkwürdigen Zeichen Ausschau hält, mit denen sich die Männer untereinander verständigen, muss er seine Meinung recht bald ändern.

Spätestens an dieser Stelle wird der eine oder andere Leser ein Déja-Vu-Erlebnis haben. Dass Stephen King gern mal dazu neigt, Verknüpfungen zwischen seinen einzelnen Werken zu schaffen, ist dem aufmerksamen Fan vor allem bei den neueren Werken sicher nicht entgangen. In diesem Fall musste die Saga vom „Dunklen Turm“ für eine Verbindung herhalten {und auch Anleihen bei „Schlaflos“ sind erkennbar, Anm. d. Lekt.}, was jedoch durchaus geglückt ist, auch wenn die beiden Werke rein handlungstechnisch eigentlich nicht so recht zusammenpassen wollen.
Dieser erste und umfangreichste Teil ist eindeutig der beste – und das nicht nur, weil es der einzige ist, der eine komplexe Handlung und wirkliche Spannungsmomente aufweist. Vielmehr ist King mit diesem Abschnitt auch stilistisch wieder mal ein kleines Meisterwerk gelungen, was nicht zuletzt auch der wirklich guten Übersetzung zu verdanken ist. (Vielleicht hat dem sonst üblichen King-Übersetzer Joachim Körber die Pause auch mal gut getan.)

Doch auch was den Rahmen für die weitere Handlung anbelangt, ist der erste der wichtigste Teil. Indem King die Kindheit seiner Protagonisten beschreibt, leistet er hier nämlich die Vorarbeit für seine späteren Kapitel, deren einziger Bezug zum Hauptteil eben diese Erinnerungen der handelnden Personen an ihre Kindheit und die Beziehungen der Charaktere untereinander darstellen. So wird das Geschehen im zweiten Teil aus der Sicht einer Person geschildert, die zwar im ersten nicht vorkommt, die aber wiederum eine Beziehung zu einer anderen Person aus Teil 1 unterhält, so dass sich der Kreis hier wieder schließt.
Schauplatz dieses zweiten Abschnitts ist eine Universität, an der es Mitte der 60er Jahre zu Auseinandersetzungen der Studenten mit der Vietnamproblematik kommt, während sich langsam so etwas wie eine Friedensbewegung zu entwickeln beginnt.

Mit beängstigender Nüchternheit beschreibt King das Los der Studenten, für die ein guter Notendurchschnitt nichts anderes bedeutet, als überleben zu dürfen – denn wer die Uni verlässt, muss damit rechnen, sofort eingezogen zu werden.
Ahnungslos, wie schrecklich der Vietnamkrieg tatsächlich ist, spielen die Studenten aber lieber Karten, was für einige zu einer regelrechten Besessenheit wird, die sie direkt in den Dschungel führt. King ist mit diesem Teil der Kunstgriff gelungen, das Thema Vietnam mal von einer ganz anderen Seite her zu beleuchten. Selten konnte man sich so gut in die Lage der jungen Menschen versetzen, die in der grünen Hölle ihr Leben verloren, selbst wenn sie nicht den Tod fanden.

Nach einem kurzen Ausflug in die Achtzigerjahre, welcher den Alltag eines schizophrenen Vietnam-Veteranen beschreibt (wiederum eine Figur aus Teil 1), widmet sich King im letzten Teil wieder einer dem Leser vertrauten Figur, nämlich Sully (dem ehemaligen Freund von Bobby Garfield), der nun ebenfalls ein Vietnam-Veteran ist und – wie sollte es anders sein – von den Schatten der Vergangenheit eingeholt wird.

Anhand dieser kurzen Handlungsübersicht wird wohl bereits deutlich, wie vielschichtig dieses Werk ist. Der Autor versteht es ebenso meisterhaft, den Leser auf der einen Seite das Flair der 60er Jahre nachempfinden zu lassen, wie er ihm auf der anderen Seite die Grausamkeiten des Krieges vor Augen führt. King zeichnet hier vor allem im dritten Abschnitt ein überaus reales, plastisches Bild und beschreibt das Chaos in den Köpfen der Überlebenden so, als hätte er dieses traurige Kapitel der amerikanischen Geschichte selbst miterlebt.

Was diese Schilderungen aber erst wirklich interessant macht, was ihre Authentizität ausmacht, das ist zweifellos die mit dem ersten Teil geschaffene Basis, der Kontrast der unschuldigen Kindheitsjahre zum traurigen Erwachsenendasein. Es ist schlichtweg genial, wie es King hier gelingt, diesem ersten Teil im Nachhinein somit eine ganz andere Bedeutung zukommen zu lassen, als es zunächst der Fall zu sein scheint.
King schlägt immer wieder eine Brücke zwischen den Zeiten und zwischen seinen Protagonisten und lässt diese dadurch so lebendig erscheinen wie in kaum einem anderen Werk.

Was dem Leser allerdings wohl am meisten in Erinnerung bleiben wird, nachdem er dieses Buch gelesen hat, ist der erste Teil; hier insbesondere die Beziehung zwischen dem jungen Bobby Garfield und seinem großväterlichen Freund. Dieser lässt ihn den „Herr der Fliegen“ lesen, was King zum Anlass nimmt, sich mit diesem Buch und seiner Aussage auseinanderzusetzen und es dem Leser so ganz nebenbei ans Herz zu legen.
Doch auch andere Werke vergangener Tage finden Erwähnung, nicht zu vergessen natürlich die Musik der 60er. Alles in allem darf dieser erste Teil wohl auch als Aufbereitung von Kings eigener Jugend betrachtet werden.

Somit hat der Klappentext, welcher den Roman als Kings persönliches Meisterwerk titulierte, ausnahmsweise einmal nicht zuviel versprochen. Schade ist nur, dass der geniale erste Teil doch ziemlich abrupt endet und leider einfach viel zu kurz geraten ist (wenn er auch immerhin die Hälfte des Buches ausmacht).
Aber ganz genauso verhält es sich ja auch mit der Kindheit…

_Stefan Robijn_ © 2003
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