Bennett, David – Metro. Die Geschichte der Untergrundbahn

Eine Geschichte der Untergrundbahnen dieser Welt – nicht nur in ihrer Funktion als Verkehrsmittel, sondern auch als Stätten der Kunst und der Architektur:

|“Die Anfänge des U-Bahnwesens“| (S. 13-62): Eine Untergrundbahn konnte es erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts geben; vorher war sie technisch nicht zu realisieren und es bestand auch kein Bedarf. Erst die Industrielle Revolution und das rapide Wachsen der Städte, deren oberirdische Straßen und Schienen dem Verkehr nicht mehr Herr werden konnten, ließen den Gedanken an eine Verlegung des Massentransportmittels Bahn unter die Erde Realität werden. Der erste Verkehrstunnel der Welt entstand bis 1841 unter der Themse von London und verband Wapping mit Rotherhithe – ein Start mit Hindernissen und doch ein Unternehmen, das viele Fragen für spätere Projekte beantwortete: Wie breit muss ein U-Bahntunnel sein? Wie gräbt man ihn mit möglichst geringem Aufwand? Betreibt man U-Bahnen mit Dampf? Mit Strom? Mit Diesel? Baut man Waggons besser aus Holz oder aus Metall? Wie sieht die optimalökonomische U-Bahnstation aus? Viele Jahre des Versuchens, Irrens und Findens schlossen sich an.

|“Architektur und Kunst in den Stationen“| (S. 63-128): Wie sich herausstellte, gibt es keine U-Bahn, die an ihre Planer und Erbauer nicht eigene komplexe Anforderungen stellt. 15 ausgewählte Strecken aus Großstädten Europas, Nordamerikas und Südostasiens belegen die enormen Anforderungen, die schwankende Böden, hohe Grundwasserstände oder andere Hindernisse aufwarfen. Aus der Not wurde eine Tugend gemacht, die Untergrundbahnen nach allen Schwierigkeiten, die ihr Bau aufwarf, in Tempel des Transportwesens verwandelt und entsprechend ausgestattet.

|“Untergrundkultur“| (S. 129-155): Nutzen und Kunst gingen eine oft erstaunliche Symbiose ein. Diese beschränkte sich keineswegs auf die Züge, die Gleise oder die Stationen. Die „U-Bahn-Künstler“ bezogen jedes Detail ein. „Metro“ zeigt Fahrkarten, Plakatkunst, Graffiti, Züge als Werbefläche, Rolltreppen, Netzpläne, die oft wie Ausstellungsobjekte wirken.

|“Liste der U-Bahnen“| (S. 156-167): Ein Buch, das wie „Metro“ das Phänomen der Untergrundbahn in seiner vielgestaltigen Gesamtheit abbilden möchte, muss sich auf Beispiele beschränken. Eine Aufzählung aller U-Bahnen dieser Welt, die ergänzt wird durch die Angabe der wichtigsten Grunddaten zu Geschichte, Entwicklung, Größe und Ausstattung, vermittelt zumindest einen Eindruck davon, dass unter den Städten dieser Erde noch manches U-Bahn-Universum seiner Entdeckung harrt.

Abgeschlossen wird „Metro“ durch eine Bibliografie (S. 168), ein Stichwortverzeichnis (S. 169-175) sowie einen Bildnachweis (S. 176)

„Metro“ steht für „Métropolitain“, die Pariser U-Bahn, die zu den berühmtesten (und ältesten) Untergrundbahnen der Welt gehört. „Metro“ und „U-Bahn“ – das sind Begriffe, die auch in Deutschland zu Synonymen geworden sind. (Glück gehabt; es hätte auch wesentlich profaner „the tube“ – die Tube – heißen können: So nennen die Bürger von London ihre U-Bahn, durch deren enge Tunnel die Züge wie Zahnpasta gequetscht werden.)

„Metro“, das Buch, überrascht durch einen thematisch ungewöhnlich breiten Ansatz. Zwar bekommt man zunächst, was zu erwarten war, einen Überblick, der die Geschichte der Untergrundbahn ebenso einschließt wie eine Schilderung der U-Bahn-Gegenwart. Viel steht da geschrieben über Bodenschichten, monströse Aushubmaschinen oder einfallsreiche Ingenieure. In diese Darstellungen mischen sich Anekdoten erschröcklicher (Wassereinbruch im Tunnel) und ergötzlicher (Kristalllüster und Stuckwände in U-Bahn-Stationen) Art.

Doch dieses „Pflichtprogramm“ schließt Verfasser Bennett schon mit der Seite 62 ab. Nunmehr taucht er mit dem Leser in eine exotisch-fremde Welt ab: Für Bennett ist die Untergrundbahn sichtlich mehr als ein simples Transportmittel, das möglichst viele Menschen von A nach B bringen soll. Mit seinem Blick betrachtet man die U-Bahn plötzlich als vom Rest der Welt isolierte Sphäre mit eigenen Regeln und Gesetzen.

In dieser Unterwelt ist der Ingenieur der Herrscher. Er ist ein gütiger Tyrann, der Politiker nur zu Streckeneröffnungen einlässt, die schönen Künste fördert und mit Unterstützung der Technik eine bis ins Detail durchgeplante Welt erschafft, die funktioniert. Man könnte nach der Lektüre von „Metro“ tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass dies der Realität entspricht, so intensiv huldigt Bennett seiner geliebten U-Bahn. Selbst Stationen, die der Leser aus eigener Erfahrung kennt und als finstere, schmutzige, von verdächtigen Gestalten bevölkerte Trollgruben beschreiben würde, geraten unter seiner Feder und vor allem unter seiner Kamera zu architektonischen Hymnen an den menschlichen Erfindungsreichtum. Die weniger erfreulichen Seiten der U-Bahn beschränkt Bennett weitgehend auf Klagen über allzu drastische Werbung sowie das Beschmieren von Wänden und Waggons (wobei die gezeigten Graffitis schon wieder den Tatbestand der Kunst erfüllen).

Diese Bilder sind großartig und definitiv keine Schnappschüsse. Der Standpunkt der Kamera ist mit Bedacht gewählt, sorgfältig hat man mit Licht inszeniert, was anschließend kunstvoll fotografiert oder besser: zu Lichtbildern veredelt wurde. Auch hier wird deutlich, dass „Metro“ weniger ein Sachbuch als ein „coffee table book“ ist, dessen Gestaltung mindestens ebenso wichtig ist wie der Inhalt; ein Prachtband, der sich, offensiv platziert, gut im repräsentativen Buchregal des weltoffenen, gut betuchten, kulturell interessierten Zeitgenossen macht.

Bennett ist selbst Ingenieur, was seine Begeisterung verständlich macht, die einer nüchternen Betrachtung sicherlich nicht standhalten kann. „Metro“ soll indes kein Sachbuch im rein darstellenden Sinn sein. Der Autor stellt die Untergrundbahn als geschlossenes System mit eigener „Evolution“ dar, was er verblüffend überzeugend an diversen Alltäglichkeiten deutlich zu machen weiß, die man ohne diese Darstellung weiterhin für selbstverständlich halten würde. So ist es ein weiter Weg bis zum heute gültigen, streng geometrischen, sich an der Topografie nicht mehr orientierenden U-Bahn-Netzplan gewesen. Die ersten Pläne bezogen noch das überirdische Straßennetz, Flussläufe und Zugstrecken ein, die gezeichneten Abstände zwischen den Stationen gaben maßstabsgerecht die realen Entfernungen wider. Das funktionierte, solange das U-Bahnnetz bescheiden blieb. Doch in jeder großen Stadt wuchs es kontinuierlich, bis sich die die ober- und unterirdischen Verkehrspläne hoffnungslos überlagerten. Erst allmählich lernte man zu trennen und „erzog“ den U-Bahn-Passagier zum selbstverständlichen Lesen abstrakter Netzpläne.

Die Untergrundbahn als Kunstausstellung wirkt ebenfalls ungewohnt. Dabei waren die Menschen schon immer stolz auf ihre Metros: Wer so viel Geist & Geld in die Erde versenkt, wünscht sich schon, dass etwas davon sichtbar wird. Heute gleichen U-Bahn-Stationen zwar nicht mehr den domähnlichen Prachtgewölben der Vergangenheit, doch ihre Architektur ist eher noch kühner geworden. Bennett dokumentiert Konstruktionen, die sich scheinbar schwerelos in den Raum erheben, was durch ausgeklügelte Lichtsetzung in der dramatischen Wirkung noch verstärkt wird. (Er verschweigt die banale Tatsache, dass harter Stahl, Keramik und Licht die Aktivitäten von Vandalen, Kunstbanausen und Sudelfinken erfolgreicher vereiteln als liebevoll gearbeitete aber empfindliche Wandpartien oder Bodenflächen.) In bzw. unter Stockholm (wo es offenbar weder Vandalen & Kunstbanausen noch Sudelfinken gibt) hat man die Stationen sogar in regelrechte Kunstgalerien oder begehbare Gesamtkunstwerke verwandelt.

Als Sachbuch mag „Metro“ nur bedingt bzw. in seinem ersten Drittel „tauglich“ sein, doch als Inszenierung einer Parallelwelt bereitet David Bennetts Besuch in einer Unterwelt mit vielen dunklen aber interessanten Winkeln großes Vergnügen. In der deutschen Ausgabe wird dieses durch die umständlich-steif wirkende Übersetzung („Die Konstruktionsweise der Wagen ist ein wesentlicher Faktor für die Gestaltung des Betriebs bei jeder U-Bahn, die teils mehrere Millionen Fahrgäste täglich zu befördern hat.“, S. 30) und bei einem Buch dieser Preisklasse erstaunlichen Zahl unkorrigiert gebliebener Rechtschreibfehler leicht getrübt, aber nicht wirklich verwässert.

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