Ein überzeugendes Buches mit Überraschungen
Wie reagiert die Welt auf lange Sicht am angemessensten auf die Anschläge vom 11. September 2001? Die Antwort ist nicht einfach, doch vielleicht kann uns die Geschichte von Krieg und Terror Aufschluss darüber geben.
Das Sachbuch trägt den deutschen Untertitel: „Historische Wurzeln und Möglichkeiten der Bekämpfung„. Treffender ist der Originaltitel „The lessons of terror: A history of warfare against civilians: Why it has always failed and why it will fail again„. Dies ist auch schon das zentrale Fazit des Buches: Terrorismus mag zwar erfolglos, doch wie bekämpfen wir ihn?
Der Autor
Der Autor Caleb Carr ist ein bekannter amerikanischer Militärhistoriker und Autor von mehreren ausgezeichneten Kriminalromanen wie „The Alienist“ (verfilmt) sowie des Zukunftsromans „Die Täuschung“.
Inhalte
Schon die alten Römer… – ja, so beginnen viele Gedenkreden, die man getrost vergessen kann. Doch diesmal verweist das Tun der Römer direkt auf die Deutschen. Schon die alten Römer hat eine Methode, Terror zu verbreiten, also Krieg gegen Zivilisten zu führen. Das taten sie vornehmlich in dem Gebiet, was sie als unerobertes Germanien ansahen. Bis ihnen ein Stammeshäuptling namens Arminius zeigte, wo der Hammer hängt: Im Teutoburger Wald verloren mehrere römische Legionen unter Feldherr Varus im Jahr 9 n.Chr. ihr Leben – die Stätte wurde vor kurzem wieder entdeckt.
Im Nachhinein drangsalierten die Römer ihre germanischen Untertanen umso härter, errichteten aber keine weitere germanische Provinz – sie erreichten lediglich, dass ihr Terror den Hass gegen sie umso mehr schürte. 400 Jahre später erinnerten sich die Germanen immer noch an jene Schlacht, als sie Rom stürmten und plünderten.–
Caleb spannt in seiner Untersuchung des Terrorismus und seiner Ursachen den Bogen von der späten Antike über das finstere, blutige Mittelalter bis hin zu den Anschlägen der PLO Yasir Arafats und der al-Quaida des Saudi-Arabers Osama bin Laden.
Terrorismus – das ist die Bedrohung unbewaffneter Zivilisten in der Absicht, der feindlichen Regierung oder Führungsschicht den Rückhalt der Bevölkerung zu entziehen und diese zu demoralisieren. Wie das Beispiel der alten Römer zeigt, ist dies kein modernes Phänomen, sondern bildet eine immer wiederkehrende Konstante in der Geschichte gewaltsamer Auseinandersetzungen.
Der Militärhistoriker breitet nicht nur sein enormes Fachwissen vor uns aus. Stets dient dies als beleg für seine Argumentation: Terroristische Attacken verfehlen als Kriegsstrategie eindeutig ihr Ziel, das betroffene Land zu schwächen. Im gegenteil bestärken sie das betroffene Volk in seinem Widerstand gegen den brutalen Angreifer und stützen so die attackierte Regierung.
So führten beispielsweise auch die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte von 1943 bis 1945 nicht zu einer Schwächung, sondern zu einer Intensivierung des deutschen Kriegsproduktion! Der Angriff auf das von Flüchtlingen überquellende Dresden im Februar 1945 zeigte zudem, wie entsetzlich sinnlos diese Strategie war, die von Briten und Amerikanern propagiert wurde.
Der einzige Grund, warum die Deutschen keinen Hass auf die Amerikaner entwickelten, lag in der Beseitigung des alten Terroregimes und der Großmut, der sich im Marshall-Plan zeigte. Darin lag natürlich auch die Absicht, die Deutschen nicht in die Arme der Russen zu treiben. Genauso verfuhren die USA in Japan, wofür die Japaner bis heute dankbar zeigen.
Der Grund für die Ressentiments der Franzosen gegen die Deutschen geht zurück bis auf das Jahr 1871. Die Preußen hatten den Feldzug gewonnen und hatten Paris eingeschlossen, der Sieg war in Reichweite. Feldmarschall Moltke war dagegen, die Stadt zu beschießen und die Franzosen zu demütigen – alle militärischen Ziele waren erreicht. Das reichte Bismarck nicht: Die politischen Ziele sahen die Demütigung des Erzfeindes vor: ein Akt des Terrors. Die eingeschlossenen Pariser widerstanden dem Beschuss noch Monate und ließen 1918 in den Verträgen von Versailles die Deutschen dafür bluten. Ihre Vergeltung führte direkt zu Hitlers Aufstieg. Terror ist also stets kontraproduktiv.
Totaler versus progressiver Krieg
Doch Terror wurde immer als Teil des „totalen Krieges“ eingesetzt. Totaler Krieg, so Carr, ist unbegrenzt, sowohl in Ausmaß als auch Mitteln. Er kann sogar zum Volkskrieg ausarten, so wie 1793 in Frankreich. Die Folge waren über 20 Jahre Verheerung Europas.
Doch es gab zwei wichtige Ansätze, den totalen Krieg zu überwinden. Der erste Ansatz war in England Oliver Cromwells „New Model Army“ (außer in Irland), und der zweite stammt von Friedrich II. von Preußen, dem Alten Fritz. Beiden Ansätze sehen begrenzte Militäreinsätze mit höchst disziplinierten Soldaten vor. Der Ziel des Krieges ist der Frieden – dies nennt Carr den „progressiven Krieg“. Merke: Carr hat nichts gegen Krieg an sich – dieser ist ein notwendiges Übel.
Doch ein gewisser Clausewitz revidierte diese zwei Ansätze aus seiner romantischen Bewunderung Napoleons: Für ihn ist das Ziel des Krieges der Sieg und die Vernichtung des Gegners. Carr nimmt Clausewitz und dessen Jünger nach allen Regeln der Kunst auseinander und lässt nichts mehr davon übrig. Gleiches gilt für Apologeten des Vernichtungskrieges wie William Tecumseh Sherman, der 1864/64 den US-Süden abfackelte.
Der progressive Krieg à la Preußen und Cromwell ist heute genauso wie damals das Gebot der Stunde, argumentiert Carr. Denn die USA befinden sich tatsächlich im Krieg mit einem weltumspannenden Gegner: mit den Ländern, die den Terrorismus der al-Quaida sponsern. Dies waren zunächst die Taliban – der klar definierte Gegenschlag der USA und ihrer Verbündeten fegten deren Regime und Militärkraft hinweg.
Was Carr wundert, ist der Erfolg dieses Feldzugs trotz der zaudernden Strategie von US-Außenminister Colin Powell. Dessen Desert Storm führte bekanntlich 1990 zu einem militärisch-politischen Desaster, als der Sturm auf Bagdad abgesagt wurde. Saddam Hussein verfügt daher immer noch über Massenvernichtungsmittel, die er jederzeit einsetzen könnte. Das irakische Volk leidet weiterhin unter dem Embargo und Saddams Regime. Kein Wunder, dass die Amis das irakische Volk nicht gerade auf ihrer Seite haben.
Das Ende der CIA?
Angesichts des 11. September sieht der Sicherheitsapparat der Supermacht USA ziemlich schlecht aus. Carr überzieht die unfähige Central Intelligence Agency (CIA) mit Spott, Hohn und ätzender Kritik. Er macht den ernstzunehmenden Vorschlag, diesen unfähigen und kostspieligen Staat im Staat aufzulösen und seine Aufgaben von NSA und FBI übernehmen zu lassen. CIA-Zivilisten sollten keine Kriege mehr entscheiden wie in Vietnam. (Ich habe zum erstenmal von der CIA-Operation Phoenix erfahren, eine reine Mord- und Terroraktion, über deren Drahtzieher bis heute nichts zu erfahren ist.)
Daher schlägt Carr vor, die Spezialeinheiten der US-Streitkräfte aufzuwerten, um sie zu schlagkräftigen, offensiv agierenden Kontingenten à la deutscher KSK oder GSG-9 zu formieren. Allein sie seien geeignet, den „progressiven Krieg“ zu führen, der unausweichlich sei, um dem internationalen Terrorismus zu begegnen.
Mein Eindruck
Soll niemand glauben, wir Deutschen seien irgendwie sicherer vor neuen Terroranschlägen, nur weil wir mitten in Europa leben. (Die Al-Quaida-Leute des 11.9. lebten unter uns!) Unsere Truppen kämpfen bereits gegen die al-Quaida – etwa vor der Küste Somalias -, daher sind auch wir potenzielle Ziele der Terroristen. Daher die Relevanz dieses Buches auch für uns.
Carr gelingt es, ein Verständnis für das Phänomen des Terrorismus zu wecken. Er tut dies nicht nur dadurch, dass er Definitionen liefert. Er zeigt die immer wieder neue Entstehung von Terrorismus überall auf der Welt auf. Stets ist die falsche Auffassung von der angemessenen Antwort auf Terror daran schuld, dass die Spirale der Gewalt nicht durchbrochen wird.
(Der Terror der Palästinenser (der PLO und ihrer Tochter- und Splittergruppen) ist eine direkte Folge des Terrors, den die Geheimorganisationen der Zionisten seit 1947, ja seit 1939 in dem neu gegründeten Staat Israel ausgeübt haben. Einer der Führer dieser „Irgun“ genannten Organisation war der spätere Ministerpräsident Menachem Begin.– Ein weiteres Beispiel ist die Entstehung des Terrors der IRA: Carr lässt kein gutes Haar an einem IRA-„Helden“ namens Michael Collins.)
Pazifisten werden dieses Buch wahrscheinlich mit Grausen weglegen. Dies scheint mir aber eine unangemessene Reaktion zu sein. Erstens haben sie keine Antwort auf Anschläge wie den 11. September, zweitens distanziert Carrs sehr deutlich ausgedrückte moralische Haltung gegenüber Gräueltaten von jeder Seite ihn von der Unterstützung jeglicher Form von sinnloser Gewalt.
Nur so ist sein Begriff vom „progressiven Krieg“ – als Gegensatz zum unbegrenzten, totalen Krieg, der heutzutage noch häufig vertreten wird, etwas in Kaschmir – überhaupt zu akzeptieren. Das heißt nicht, dass man sich seiner Ansicht anschließt.
Unterm Strich
Carr versteht es zu erzählen. Geübt an seinen voluminösen Romanen vermag er den leser in seinen Bann zu ziehen. Dabei ist es sicher sehr von Nutzen, mit historischen, politischen und militärischen Ausdrücken vertraut zu sein. Doch meist setzt er nicht zuviel voraus, sondern führt den leser knapp und präzise in das Thema ein, sei es das Frankreich Ludwigs XIV oder die USA unter Bill Clinton (den er auch auf dem Kieker hat). Ein Stichwortregister und eine Bibliografie unterstreichen den wissenschaftlichen Anspruch dieses Buches.
Diese Lektüre kann ein wirklicher Augenöffner für Leute sein, die sich das Interesse an historischen Entwicklungen bewahrt haben. Übrigens sieht Carr uns, also die gesamte Welt, an einem Scheideweg angelangt. Gelingt es nicht, vom totalen Krieg als Irrweg abzukommen, so wird die globale Gewaltspirale auch die Supermacht USA und die „reichen“ Länder ergreifen. Es ist daher höchste Zeit, vernünftige und dauerhafte Antworten zu finden.
Hardcover: 245 Seiten
Originaltitel: The lessons of terror. A history of warfare against civilians: Why it has always failed and why it will fail again, 2002;
Aus dem Englischen von Michael Windgassen und Iris Krüger;
ISBN-13: 9783453213265
www.heyne.de
Der Autor vergibt: