Edith Wharton – Allerseelen (Gruselkabinett 104)

Der Fluch der unheimlichen Fremden

Mrs. Sara Clayburn, Herrin des Anwesens Whitegates in Connecticut, hat am Vorabend von Allerseelen des Jahres 1931 bei ihrem üblichen nachmittäglichen Spaziergang eine Begegnung, die ihr ganzes restliches Leben verändern wird… (Verlagsinfo)

Das Verlag empfiehlt sein Hörspiel ab 14 Jahren.

Die Autorin

Edith Wharton (1862-1937) war eine scharfe Beobachterin der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Heimat Neu-England, wobei sie ihren Blick auf den Gegensatz zwischen persönlichen Leidenschaften und den Ansprüchen der Welt richtete. Sie schrieb ein rundes Dutzend Geistergeschichten und einige wichtige Romane:

1) The House of Mirth (1905)
2) Ethan Frome (1911)
3) The Custom of the Country (1913)
4) Tales of Men and Ghosts (Stories, 1910)
5) The Age of Innocence (1920)
6) Xingu and Other Stories (1916)
7) Here and Beyond (1926)

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Sara Clayburn: Judy Winter
Kate Miller: Sabina Trooger
Fremde: Cathlen Gawlich
Price: Lutz Mackensy
Agnes: Herma Koehn
Dr. Selgrove: Rainer Gerlach
Nachrichtensprecher: Bernd Rumpf
Dr. William Lusk: Constantin von Jascheroff

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden in den Planet Earth Studios statt. Das Titelbild schuf Ertugrul Edirne.

Handlung

Unsere Chronistin ist die New Yorkerin Kate Miller, und sie berichtet von der Schicksalswende ihrer Cousine Sara Clayburn, die sich am Allerseelentag des Jahres 1931 ereignete. Sara Clayburn lebt draußen auf dem Lande in Connecticut, wo eigentlich noch alles recht friedlich zugeht, selbst anno 1931. Cousine Sara hat ein herrschaftliches Anwesen aus dem 18. Jahrhundert geerbt, nachdem ihr Mann James das Zeitliche gesegnet hatte. Nun sorgen Dienstboten wie Agnes, ihre Dienerin, Price, der Butler, ein Zimmermädchen und ein Chauffeur für das Wohlergehen von Madame.

Sara hat sich vorgenommen, so lang wie möglich zu leben, um ihrem nichtsnutzigen Erben nichts überlassen zu müssen. Deshalb hat sie es zwecks Ertüchtigung zur Gewohnheit gemacht, nachmittags einen Spaziergang zu unternehmen. An Allerseelen begegnet sie dabei einer Frau in einer altertümlichen Haube, die auf Anfrage behauptet, sie sei gekommen, um eine Dienstbotin auf Whitegates zu befragen, Saras Anwesen. Mit einem Donnerschlag ist die impertinente Person wieder verschwunden.

Als Sara heimkehrt, stolpert sie auf der Schwelle und bricht sich den Knöchel. Price bringt sie auf ihr Zimmer. Zusammen mit Agnes ruft er Dr. Selgrove, der Sara strenge Bettruhe und legt eine Bandage an. Der Fuß muss später geröntgt werden, das ist klar. Der Schmerz indes ist eine Qual, und so ist Sara noch barscher als sonst, als sie Agnes‘ Angebot eines Abendmahl ablehnt.

Doch der schlaflosen Nacht scheint kein Morgen folgen zu wollen. Es wird fünf, es wird sechs, doch von Geräuschen im Haus ist nichts zu vernehmen. Der Klingelzug scheint nicht zu funktionieren, ein Stromausfall? Und auch die Heizung scheint ausgefallen zu sein, denn es wird eiskalt. Sara steht auf, um die Fensterläden zu öffnen. Draußen liegt überall Schnee, kein Wunder also, dass auch niemand gekommen ist. Das Telefon steht auf der Balustrade vor der Treppe – es ist wie alles tot.

Im Haus herrscht Totenstille, und als sich Sara trotz ihrer Schmerzen umschaut, ist keine lebende Seele zu finden. Ein unheimliches Gefühl bemächtigt sich ihrer …

Mein Eindruck

Wer mag wohl jene seltsame Fremde in der altertümlichen Haube gewesen sein, fragt sich der Hörer – aber Sara seltsamerweise nie. Erst auf den Tag genau ein Jahr später begegnet sie der Fremden erneut – und nun wendet sie ihr Leben von der einsamen Existenz auf dem Lande ab und kommt zu Kate in die große Stadt. Denn es ist wie ein Fluch, den die Fremde auf Sara ausübt, und wer weiß, was dahintersteckt?

Das sind schon zwei merkwürdige Lücken an dieser Handlung. Sara denkt nie über die Fremde nach. Sie fragt sich auch nicht, womit sie diese Art von Fluch verdient hat – nämlich durch ihre herrische Arroganz. Sie reflektiert auch kaum über das unheimliche Gefühl eines Tages ohne Leben. Statt an Dantes Schilderung des siebten Kreises der Hölle – die bei diesem Florentiner bekanntlich eisig ist – zu denken, erinnert sich die Madame eher an das seltsame Schicksal der „Mary Celeste“.

Mary Celeste

Dieses von jeglicher Besatzung verlassene und im Meer treibende Segelschiff wurde 1872 entdeckt, also schon zu Saras Lebzeiten – sie ist etwa sechzig Jahre alt, und 1931 minus 60 ergibt 1871. Immer wieder wird Sara aus der Moderne, die von Röntgenapparaten, Autos und Radionachrichten erfüllt wird, in die Vergangenheit geschleudert. Sie gleicht einem führerlosen Boot, das gleich auf ein Riff aufläuft.

Auch die Begegnung mit der Fremden ist eine solche Versetzung in die Vergangenheit, denn diese Frau ist eine Geistererscheinung aus der Vergangenheit, als das Anwesen Whitegates noch voller Bewohner war und Dienstboten und Kinder es mit Leben erfüllten. Sara ist allerdings kinderlos und verwitwet, also weit weg vom warmen Blutstrom des Lebens. Sie hat ihre Daseinsberechtigung verloren, als Frau, aber auch als Mensch. Sie verweigert anderen das rechtmäßige Erbe.

Hexe oder nicht

Die Kleidung der Fremden würde zur Epoche der Erbauung des Haus um 1780 passen, könnte aber sogar noch älter sein, um auf die Hexenprozesse von Salem im 17. Jahrhundert hinzuweisen. Denn um eine Hexe scheint es sich in der Tat zu handeln. Ihr Fluch besteht in jener todesähnlichen Höllenerfahrung Saras am Morgen nach Allerseelen. Wer sie herbeigerufen haben mag, wird erst am Schluss des Stücks spekuliert. Dass der Fluch seinen Zweck erfüllt, liegt auf der Hand: Angstvoll und vielleicht sogar geläutert zieht Sara bei Cousine Kate ein.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Besonders gefielen mir die Stimmen der Hauptdarsteller Judy Winter als Sara Clayburn und von Sabina Trooger als Kate Miller. Die Winter weiß die teils arrogante, teils verängstigte Hausherrin facettenreich darzustellen, und Sabina Trooger spielt die besorgte, tröstende Cousine.

Das ausgerechnet die häufig als „junge Unschuld“ besetzte Cathlen Gawlich das böse Weib aus der Vergangenheit darstellt, finde ich sehr ironisch. Gerade wegen dieser atypischen Besetzung finde das ganz witzig. Sie trägt auch das fiese Lachen bei, dass mehr als einmal zu hören ist. Alle anderen Figuren erfüllen ihre Aufgabe zur Zufriedenheit.

Geräusche

Der Wind heult, und die Krähen krächzen – schon ist für eine bedrohliche Stimmung gesorgt. Diese vertieft sich noch angesichts eines Gewitters mit Donnerschlag und Regen. Das Kontrastprogramm dazu liefert die unheimliche Stille während dessen, was ich mal die Höllen- oder Marie Celeste-Szene nennen möchte. Nur unheimliche Musik untermalt das Keuchen, Ächzen und Rufen von Sara Clayburn, ein einsamer Nachrichtensprecher quasselt leise vor sich hin. (Es gibt also doch keinen Stromausfall…)

Musik

Während sich die Geräusche in dieser Schlüsselszene zurückhalten, tobt sich die Hintergrundmusik umso wilder und dissonanter aus. Die Musik spiegelt Saras Seelenleben wider: Es gerät zunehmend aus dem Gleichgewicht, die Töne werden disharmonisch. Erst nach der zweiten Begegnung reist Sara ab, und dann plätschert die Musik wieder in ruhigem Fahrwasser. Aber die Harfenklänge haben eine fatale Ähnlichkeit mit dem Ticken einer Uhr…

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher.

Im Booklet finden sich Verweise auf die kommenden Hörspiele aufgeführt:

Nr. 104: Edith Wharton: Allerseelen
Nr. 105: Benjamin Lebert: Mitternachtsweg
Nr. 106: M. R. James: Das Traktat Middoth (vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/The_Tractate_Middoth) (1911)
Nr. 107: Sir Gilbert Campbell: Der weiße Wolf von Kostopchin (1889)

Ab Juni 2016

Nr. 108: Arthur Conan Doyle: Der Kapitän der Polestar
Nr. 109: Per McGraup: Heimweh
Nr. 110: Abraham Merritt: Der Drachenspiegel
Nr. 111: E.A. Poe: Die Grube und das Pendel
Nr. 112: Edith Nesbit: Der Ebenholzrahmen
Nr. 113: Amelia B. Edwards: War es eine Illusion?

Unterm Strich

Die Story erinnerte mich ein wenig an das wesentlich ausgefeilte Hörstück „Das Haus der sieben Giebel“ nach Nathaniel Hawthorne: Ein großes, heruntergekommenes Anwesen wird von den Geistern der Vergangenheit erfüllt oder heimgesucht. Nicht ganz zufällig dient in beiden Fällen Neu-England als Schauplatz, um aufzuzeigen, was aus den einstmaligen Siedlern und Pionieren mittlerweile geworden ist (bei Hawthorne um die Mitte des 19. Jahrhunderts). Statt von vielen Kindern und Enkeln umgeben zu sein, herrscht von Erinnerungen erfüllte Leere.

An Allerseelen wie auch an dem kurz zuvor stattfindenden Vorabend zu Allerheiligen, besser bekannt als Hallowe’en, öffnet sich nach keltischem Volksglauben das Tor zur Anders- und Totenwelt. Mit dem Samhain-Fest wurde dieses Ereignis begangen (mehr dazu in der Wikipedia). Es ist die dunkelste und für alleinstehende Seelen gefährlichste Zeit des Jahres. Sara Clayburn, deren Vorfahren wahrscheinlich aus Schottland stammten (schottisch „burn“ = Bach) erhält eine letzte Warnung und muss einen Blick ins kalte Reich der Toten werfen – in ihrem eigenen Haus. Genug, um einem kalte Schauer über den Rücken zu jagen.

Leider lässt das Reflektieren über diese schauerliche Erfahrung ebenso zu wünschen übrig wie das Nachdenken über die fremde Frau. Das ist der inneren Dramaturgie des Stücks zu verdanken: Der Clou – nämlich dass eine Hexe auftritt – darf keinesfalls zu früh verraten werden. Hoffentlich regt der Mangel an Reflexion seitens der Hauptfigur wenigstens den Hörer zum Nachdenken an.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Synchronstimmen von Schauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Besonders gefielen mir die Stimmen der Hauptdarsteller Judy Winter als Sara Clayburn und von Sabina Trooger als Kate Miller. Die Winter weiß die teils arrogante, teils verängstigte Hausherrin facettenreich darzustellen, und Sabina Trooger spielt die besorgte, tröstende Cousine.

Das ausgerechnet die häufig als „junge Unschuld“ besetzte Cathlen Gawlich das böse Weib aus der Vergangenheit darstellt, finde ich sehr ironisch. Gerade wegen dieser atypischen Besetzung finde das ganz witzig. Alle anderen Figuren erfüllen ihre Aufgabe zur Zufriedenheit. Aber auch bei Agnes vermisste ich einen Aspekt: Wenn sie es gewesen sein soll, die die Hexe herbeirief, warum drohte sie ihrer Herrin nicht damit?

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert und die Stimmen der Sprecher vermitteln das richtige Kino-Feeling.

Spielzeit: 59:40 Minuten.
www.titania-medien.de

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