Jussi Adler-Olsen – Verachtung. Akte 64. Der vierte Fall für Carl Mörck, Sonderdezernat Q

Verachtung, Ausstoßung, Rache: mittelmäßiger Thriller

Im November 1985 begegnet Nete Rosen, Ehefrau des Arztes Andres Rosen, dem Gynäkologen Carl Wad. Vor aller Augen demütigt Wad die Frau und enthüllt ihre entsetzliche Vergangenheit – und ihre Unfruchtbarkeit. Sofort sagt sich Andreas voll Verachtung von seiner Frau los. Sie reagiert verzweifelt auf die Zurückweisung, beim folgenden Autounfall stirbt ihr Mann. Zwei Jahre später beginnt sie Rachepläne zu schmieden.

Im Jahr 2010 erhält das Sonderdezernat Q die Akte von Rita Nielsen, die seit November 1987 als vermisst gilt. Fünf weitere Personen sind seit September 1987 verschwunden. Carl Mörck und seine Assistenten Assad und Rose ermitteln und stoßen im Großen Belt auf eine Insel für ausgestoßene Frauen…

Der Autor

Jussi Adler-Olsen wurde am 2. August 1950 unter dem bürgerlichen Namen Carl Valdemar Jussi Henry Adler-Olsen in Kopenhagen geboren. Er studierte Medizin, Soziologie, Politische Geschichte und Film und arbeitete anschließend in den verschiedensten Berufen. 1995 begann er mit dem Schreiben und landete bereits mit seinen ersten Büchern unter anderem in Schweden, Spanien und Südamerika auf den Bestsellerlisten, mit der Serie um das Sonderdezernat Q erlangte er seinen internationalen Durchbruch. Seine Bücher wurden in über 40 Länder verkauft.

In Deutschland kam Jussi Adler-Olsen mit dem ersten Fall für Carl Mørck, „Erbarmen“ auf Platz 2 der besten Kriminalromane des Jahres 2010 aus aller Welt.

Die Romane von Jussi Adler-Olsen

Sonderdezernat Q

1) Erbarmen. Die Frau im Bunker
2) Schändung: Die Fasanentöter
3) Erlösung: Flaschenpost von P
4) Verachtung: Akte 64
5) Erwartung: Der Marco-Effekt
6) Verheißung: Der Grenzenlose
7) Selfies

Andere:

1) Das Alphabethaus
2) Das Washington-Dekret
3) Takeover
4) Das Versteck

Handlung

Eine Welle der Erkältungen und Triefnasen versetzt Carl Mörck in höchste Alarmbereitschaft. Wie behaglich wäre doch sein Sonderdezernat Q, wenn nicht auch Assads Nase tropfenförmige Bomben von Bazillen von sich gäbe. Ach ja, und dann ist da auch noch lästige Arbeit zu erledigen. Der Kollege Böge Bak nimmt gerade das Gesetz in die eigene Hand, um seiner Schwester Gerechtigkeit zu verschaffen, und Assad bringt dem Übeltäter, einem Litauer Gangster, die Flötentöne bei. Die Welt ist zweifellos aus den Fugen.

Die Hölle von Sprogö

Die neue Kollegin Rose besteht darauf, dass das Dezernat den Fall Rita Nielsen bearbeitet, obwohl der schon Jahrgang 1987 und somit fast ein Vierteljahrhundert alt ist. Doch sie findet heraus, dass es zwar 1987 einige Hundert Vermisste, doch nur fünf nie gefunden wurden. Mit der vermissten Gitte Charles verbindet Rita Nielsen eines: ihr Aufenthalt auf der Insel Sprogö, wo, Rose wütend ausführt, eine eugenische Einrichtung von selbsternannten medizinischen Volkswohlwächter am Werke war: für „minderwertig“ gehaltene Frauen wurden dort nicht nur interniert und ausgebeutet, sondern auch zwangssterilisiert.

Assad und Carl entgeht Rose Aufregung nicht. Es ist fast, als wäre sie selbst auf Sprogö ein Opfer gewesen. Aber das kann nicht sein, denn die Anstalt wurde nach fast vierzig Jahren 1961 geschlossen. Das war zu Carls Zeit als Polizist, und deshalb schaut Rose ihn anklagend an. Er muss sich an die eigene Nase fassen: Warum hat sich damals niemand um diese Sache gekümmert? Und was hatte Sprogö mit dem Massenverschwinden von 1987 zu tun?

Heißer Boden

Unterdessen wird ihm von unbekannter Seite Feuer unterm Hintern gemacht. Da war (in Band 1) diese Schießerei draußen in Amager, bei der ein Kollege umkam und Kollege Hardy schwer verwundet wurde. Nun wundert man sich in gewissen Kreisen, warum Carl selbst „nur“ mit einem Streifschuss davonkam, der ihm – angeblich? – das Bewusstsein raubte?

Nun ist in besagter Hütte in Amager eine vier Jahre alte Leiche ausgegraben worden, die in ihren Hosentaschen 50 Münzen trug. Die jüngste Münze ist von 2006, also vier Jahre alt. Doch es wurde eine in Folie eingewickelte Münze gefunden, auf der sich Carls Fingerabdruck befindet. Auf einmal interessiert sich die Mordkommission sehr für Carls Verwicklung in die damaligen Vorgänge…

Verbrecher ins Parlament?

Die Spur, die die fünf Vermissten miteinander verbindet, führt zu einem 88 Jahre alten Arzt mit dem Namen Curt Wad. Er hat die Partei „Klare Grenzen“ gegründet und schickt sich dieses Jahr an, seine Partei ins Parlament einziehen zu lassen. Er hat genügend Anhänger und zahlende Mitglieder, die an seine Herrenmenschen-Ideen glauben: Dass es „unwertes Leben“ gibt, das abgetrieben, ausgesondert, eliminiert werden muss.

Als Carl und Assad bei einem seiner Unterstützter aufkreuzen und unangenehme Fragen stellen, gibt Wad den Befehl zur Aktenvernichtung. Doch die Schnüffler wenden sich an Journalisten, die Wad noch nicht bestochen oder eingeschüchtert hat. Offensichtlich ist es an der Zeit, harte Maßnahmen zu ergreifen. Und da Assad eh nur ein schwarzhäutiger „Untermensch“ ist, gibt es nach Wads Ansicht auch keinen Grund, mit Samthandschuhen vorzugehen. Doch er hat nicht mit Assads Agentenfähigkeiten gerechnet…

Mein Eindruck

Die Spannung wird sehr sachte gesteigert, so dass ich mich allmählich fragte, wann die Handlung eigentlich losgeht. Die Figuren, um die es geht, agieren auf drei Zeitebenen, und das ist eine richtig clevere Konstruktion. Carl, Assad und Rose ermitteln im November 2010 über Vermisstenfälle im September 1987. Diese zweite Zeitebene ist insofern interessant, als hier eine Racheaktion in mehreren Stufen ausgeführt wird – von Nete Hermansen, ehemalige Rosen. Ihre Gründe für die Vergeltung sind in den Leidensjahren verankert, die sie vor allem auf Sprogö verbringen musste. Das war nach 1955.

Die drei Zeitebenen sind miteinander verschränkt, so dass keine Langeweile aufkommt. Andererseits muss der Leser aufpassen, auf welcher Ebene er sich gerade befindet. Die Jahre 1987 und 2010 werden jedoch stets angezeigt. Die Figuren, die alle Ebenen miteinander verbinden, sind Nete Hermansen und Curt Wad. Denn der ewig misstrauische Wad ist Netes Einladung zum „Tee“ 1987 nicht gefolgt und lebte daher auch munter weiter.

Leidensjahre

Am interessantesten für die Leserin sind sicherlich Netes Erlebnisse auf Sprogö. Es ist unglaublich, was dänischen Frauen dort in rund 40 Jahren (1923-1961) angetan wurde. Die Anstalt, die teils der Bestrafung, teils der Besserung, aber auf jeden Fall dem Wegsperren diente, sah drakonische Strafen für jede Art der Aufmüpfigkeit oder gar des Widerstands vor, bis hin zur Einzelhaft. Versagte die Einzelhaft, folgte als härteste Maßnahme die Zwangssterilisierung. Diese erfolgte durch einen externen Arzt, und der war häufig Curt Wad. Er kannte also Nete bestens: Er wies sie ein, holte sie raus, sterilisierte sie und steckte sie in die nächste Pflegefamilie, die sie ausbeutete.

Wenn der Leser diesen Zusammenhang erkannt hat, muss er aber zum Anfang zurückgehen, als Wad im November 1985 Nete vor einer Feiergesellschaft und vor allem vor ihrem Mann Dr. Rosen als Lügnerin und Betrügerin bloßstellte. Damit zerstörte er ihr Leben, so dass sie sich zwei Jahre später zu ihrer Racheaktion entschloss. Wozu tat er das, muss sich der Leser fragen. Es gab im Grunde keinen konkreten Anlass – außerdem für ihn üblichen, einen sozialen „Schädling“ wieder dort hinunter zu treten, wo dieser seiner Ansicht nach hingehörte: in die Gosse.

Eine seltsame Gesellschaft

Nete hat fünf Menschen auf dem Gewissen, also eben jene, die Carl und Assad suchen. Aber sie hat die Leichen nicht entsorgt, wie es jeder andere Mörder tun würde. Daher kommt es für Carl zu einem höchst sonderbaren Erwachen, als er in Netes Wohnung die Augen aufschlägt, nachdem sie ihn niedergeschlagen hatte: Es ist eine Leichenfeier der ganz besonderen Art angerichtet. Der Leser fragt sich mit Carl, wer hier wieder lebend rauskommt. Es kommt zu zahlreichen Überraschungen.

Die Übersetzung

Die Übersetzung fand ich sehr gelungen, denn sie nutzt viele umgangssprachliche Wendungen, die die Figuren dem Leser näherbringen. Schade fand ich aber, dass das Buch keine Landkarte enthält. Da ständig irgendwelche Ortsnamen genannt werden, muss der Leser ständig im Internet nachschlagen, wo sich denn nun welche Insel oder Stadt befindet. Dänemark scheint nur aus Inseln zu bestehen – eine Folge des seit der letzten Eiszeit ständig gestiegenen Meeresspiegels.

Unterm Strich

In seinem Nachwort beklagt der Autor, dass sich der Staat Dänemark bis zum Jahr 2010, als er seinen Roman veröffentlichte, noch nicht bei den Opfern seiner menschenverachtenden Eugenik-Politik zwischen 1923 und 1961 entschuldigt hatte, geschweige denn sie entschädigt hatte. Staaten wie Deutschland, Norwegen und Schweden hätten dies getan.

Die Opferzahlen sind schockierend und würden eine solche Entschuldigung geradezu erzwingen: „In Dänemark wurden zwischen 1929 und 1967 etwa 11.000 Personen (vorwiegend Frauen) sterilisiert, Schätzungen zufolge handelt es sich in der Hälfte der Fälle um Zwangssterilisationen“, schreibt der Autor. Anhand des Schicksals von Nete Hermansen, dem analphabetischen Bauernkind, zeigt er die Ursachen, Begleiterscheinungen und vor allem die verheerenden Folgen der Rassehygienepolitik auf. Was besonders erschüttert, ist der Befund, dass dieser Rassendünkel bis heute gepflegt wird.

Auf drei zeitlichen Ebenen verläuft die Handlung, die bis in die fünfziger Jahre zurückreicht. Als Klammer dienen die Figuren Curt Wad, der Täter, und Nete Hermansen, das Opfer. Doch im Finale, als Carl diese beiden Figuren endlich – recht unfreiwillig – kennenlernt, gibt es einige böse Überraschungen. Diese Wendungen lohnen allein schon die Lektüre des Thrillers.

Dass die Action aber immer so plötzlich und unmotiviert daherkommt, ja, dass insbesondere das Agieren Assads so unerklärt bleibt, beeinträchtigte m. E. die Plausibilität der Handlung um Carl und führt zu Punktabzug. Zum Ausgleich gibt es zwar ein paar komische Momente bei seinen Frauengeschichten, aber sie können das Manko nicht wettmachen.

Taschenbuch: 541 Seiten
Info: Verachtung. 2012
Sprache: Deutsch
www.dtv.de

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