Jürgen Müller (Hg.) – Die besten TV-Serien

Müller TV-Serien Cover kleinMehr als die unterhaltsame Idiotenlaterne

Früher war alles besser! Wer kennt diese (Binsen-) Weisheit nicht oder führt sie gar selbst im Munde? Bei näherer Betrachtung relativiert sich dieser Eindruck naturgemäß, wobei es gleichgültig ist, ob man dabei an die Medizin, die Bürgerrechte oder ‚nur‘ an das Fernsehen denkt.

Die Anführungsstriche stehen hier, weil das Fernsehen natürlich keine Bagatelle ist. Ungeachtet des Internets schauen die Menschen weiterhin täglich viele Stunden in die Röhre (die inzwischen flach geworden und aus Techniker-Sicht keine Röhre mehr ist). Das Fernsehen ist eine Meinungsmacht und eine Milliarden-Industrie. Es verdient und fordert eine kritische Betrachtung, die über TV-Zeitschriften- und Fan-Fact-‚Niveau‘ hinausgeht.

„Die besten TV-Serien“ gehört ungeachtet des schlichten Titels erfreulicherweise nicht in die Kategorie jener ‚Sachbücher‘, die TV-Serien ‚vorstellen‘, indem sie primär die Handlungsinhalte der einzelnen Episoden nacherzählen, dann auflisten, in welchen Filmen und Fernsehserien die vor und hinter der Kamera Beteiligten außerdem aktiv waren, und ansonsten dankbar auf Pressetexte zurückgreifen, die verständlicherweise keine Musterbeispiele objektiver Hintergrundinformationen darstellen.

Stattdessen analysieren 30 Autoren ebenso knapp wie auf die zentralen Informationen verdichtet 68 Serien, wobei sie nicht nur behaupten, hinter die Kulissen zu blicken. Ihre Beiträge stehen nicht isoliert voneinander, sondern fügen sich zu einer Historie des modernen Fernsehens. Den Fokus bildet dabei das US-Fernsehen, das schon aufgrund seiner Produktivität eine zentrale Position einnimmt. Nur quantitativ abgeschlagen sind englische Serien. Aus anderen (europäischen) Ländern haben es wenige („Geister“, „Borgen – Gefährliche Seilschaften“) TV-Highlights in dieses Buch geschafft. Deutschland bleibt gänzlich außen vor.

Wissen hat Gewicht

Die Bücher des Verlags Taschen stellen bereits äußerlich klar, dass hier kein Light-Wissen à la „Galileo“ vermittelt wird. „Die besten TV-Serien“ gehört zu denjenigen Büchern, die man nicht im Bett bzw. liegend lesen sollte: Auf den Bauch drücken dabei stolze 4 Kilogramm! 744 Seiten besten Fotopapiers sorgen für Darstellungsopulenz. Sie wird durch beachtliche Maße unterstrichen: Aufgeschlagen klaftert dieses Buch beinahe 70 cm! Das Format garantiert Aufmerksamkeit: Viele hundert Fotos, die in vorzüglicher Wiedergabequalität keineswegs beliebig zusammengestoppelte Bilder zeigen, dienen als informative Ergänzung des Textes. Fernsehen ist ein Medium, das die Augen anspricht, weshalb einleuchtet, dass ein einziges, gut ausgewähltes Bild mehr als viele Worte ausdrückt, die sich die Autoren deshalb sparen können.

Jeder Serie werden durchschnittlich zehn bis zwölf Seiten gewidmet. Die Angaben zum Mitarbeiterstab bleiben auf das Essentielle beschränkt. Inhaltsangaben fallen aus, stattdessen wird der Serieninhalt auf die wesentlichen Elemente heruntergebrochen. Die tragenden Bausteine werden herausgegriffen und analysiert. Die Reduktion auf das Wesentliche weist den Leser auf Gemeinsamkeiten hin, die einander scheinbar absolut fremde Serien unterschiedlichster Genres zusammenführen.

Am Ende jedes Serien-Kapitels folgt immer ein „Glossar“ genannter Beitrag, der TV-übergreifende Themen erläutert. Auf diese Weise fließen interessante Zusatzinformationen ein. Selbst vorgeblich Unwichtiges wie der Serien-Vorspann, der doch nur Namen aufzulisten scheint, kann und wird vom modernen Fernsehen ins Geschehen integriert. Wichtig sind außerdem Rückblicke in die TV-Historie, deren Verständnis klassische Erzähl- und Darstellungsmethoden überhaupt erst erkennbar macht.

Die Gabelung des Weges

Die „besten“ TV-Serien sind nach Ansicht der Autoren nicht zwangsläufig die erfolgreichsten. Viele der hier vorgestellten Serien hatten nur eine kurze Laufzeit. Ihre Bedeutung speist sich aus anderer Quelle: Ihre Schöpfer stellten der Quote Qualitätsmaßstäbe gegenüber, die jeweils durch Inhalt und Form bestimmt wurden. Viele faktisch bekannte, durchaus beliebte und oft lange Jahre laufende Serien fehlen deshalb in diesem Buch, weil sie die Auflagen der Autoren nicht erfüllen. Dies betrifft in erster Linie die Programme jener Sender, die sich durch Werbeeinnahmen finanzieren. Weil sie den größten gemeinsamen Nenner anstreben, d. h. möglichst viele Zuschauer binden und möglichst wenige Werbekunden verärgern wollen, scheuen diese Sender Experimente, kopieren erfolgreiche Handlungsfolien, hängen ihre Mäntelchen nach meist aus konservativen Richtungen blasenden Winden und verharren im Belanglosen.

„Father Knows Best“ (USA 1954-1963), dt. „Vater ist der Beste“ fasst als Serie das traditionelle Fernsehen zusammen, das nicht nur in den USA bis in die 1990er Jahre dominierte und auch heutzutage keineswegs verschwunden ist. Etablierte Ordnungen – der Staat, die Kirche, die Familie – werden propagiert, Konflikte im Rahmen einer TV-Episode derart gelöst, dass die darauf fußende, heile Welt wiederhergestellt ist. Zerstreuung und Manipulationen gehen nahtlos ineinander über.

Im Laufe der Jahrzehnte mögen politische Hierarchien, gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Werte ins Rutschen geraten sein. Die Familie blieb dabei als unzerstörbarer Nukleus der menschlichen Existenz jedoch unangetastet. Dies änderte sich erst, als neue, kleine Sender wie HBO oder Netflix aufkamen, die sich ihre Programme von den Zuschauern bezahlen ließen. Sie mussten kein Massenpublikum zufriedenstellen, sondern waren quasi verpflichtet, ihren Kunden einen Mehrwert zum öffentlichen Seicht-Fernsehen zu bieten. In den USA bedeutete dies vor allem ein Plus an Sex und Gewalt.

Unterhaltung ohne blinde Flecken

Bliebe das ‚neue‘ Fernsehen darauf beschränkt, würde es keinen Fortschritt darstellen. Doch abseits von nackter Haut & ebensolcher Gewalt wurden vor allem die Arten und Weisen, eine Geschichte zu erzählen, rigoros überprüft, gebrochen und neu interpretiert. Jenseits der Bigotterie des zudem zensierten Werbe-Fernsehens wurde die moderne Welt gewogen und allzu oft für unmenschlich befunden. Dabei war und ist es gleichgültig, ob Serien in der Gegenwart („Homeland“), in der Vergangenheit („Boardwalk Empire“) oder in der Zukunft („Battlestar Galactica“) spielen: Sie möchten widerspiegeln, was auf besagter Welt falsch gelaufen ist, wie es dazu kam und welche Folgen dies haben wird oder könnte.

Vor allem der „Amerikanische Traum“, den vor allem jene immer noch beschwören, die selbst gut abgesichert und auf das vorgebliche Glück des Tüchtigen nicht angewiesen sind, wird von diesem Fernsehen einer kritischen Neubeurteilung unterzogen. Das Urteil fällt hart aus: Die Politik versagt, Medien verkommen zum reinen Entertainment, die Wirtschaft mutiert zum Selbstbedienungsladen, einstmalige Stützpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung – Verwaltung, Justiz, Militär, Kirche – sind überlastet, unfähig oder korrupt.

Nicht einmal die Familie bleibt als letzte Zuflucht. Immer wieder thematisieren die in diesem Buch aufgegriffenen Serien die Aufweichung und den Zusammenbruch auch elementarer Werte. Die Fiktion folgt schmerzhaft eng der Realität, selbst wenn entsprechende Prozesse komödiantisch („Lass es, Larry“, „Arrested Development“, „Parks and Recreation“) verfremdet werden.

Verschmelzungsprozesse

Der technische Fortschritt ermöglicht inzwischen ein Fernsehen, das in Bild und Ton dem Kino gleichkommt. Die quäkende Flimmerkiste ist Vergangenheit. Immer größer werden die Bildschirme, immer höher die Bildauflösungsraten. Einschränkungen gibt es auch für ehrgeizige Geschichtenerzähler nicht mehr. Längst entstehen TV-Serien, deren Budgets viele Kinoproduktionen tief in den Schatten stellen. Vorbei sind die Zeiten, als sich vor allem Kino-Stars im Abwind vor die Fernsehkamera locken ließen. Heute wechseln prominente Schauspieler, die komplexe und vielschichtige Geschichten als Herausforderung schätzen, gern und problemlos zwischen Spielfilm und Serie.

Auf diese Weisen beginnen Kino und Fernsehen sich anzugleichen bzw. zu ergänzen: Serien sind das ideale Fundament für Geschichten geworden, die sich nicht in zwei Stunden erzählen lassen. Faktisch gleichen viele Serien überlangen Spielfilmen, weshalb sie das moderne Publikum nicht wie früher in wöchentlicher Ein-Episoden-Dosis goutiert. Es zieht „binge watching“ – neudeutsch eher schräg als „Koma-Glotzen“ übersetzt – vor: Die Folgen einer Serienstaffel werden am Stück angeschaut. Episodenüberlappende Handlungsstränge sind selbstverständlich geworden. Konflikte werden weder ‚happy‘ noch binnen 30 oder 45 Minuten gelöst, sondern wie in der grauen Wirklichkeit mitgeschleppt.

Dieses Fernsehen ist anspruchsvoll. Wer Serien wie „Die Sopranos“, „Mad Men“ oder „The Bridge“ verfolgen möchte, kann nicht mehr wie einst irgendwann ‚einsteigen‘. Auch zwischenzeitliche Auszeiten sind riskant, da sie den Zuschauer buchstäblich den Faden verlieren lassen. Nach Meinung der Autoren ist auch dies ein Qualitätsmerkmal: Die Serie stellt Ansprüche, statt sich anzubiedern; sie fordert Zeit, ist sperrig, will Emotionen auch jenseits von Zustimmung wecken.

Natürlich muss und kann man sich den Aussagen der 30 Autoren nicht in jedem Fall anschließen. Darüber hinaus repräsentiert dieses Buch (nur) „Taschens Auswahl“ der besten Serien. Andere Autoren würden andere Serien wählen – statt „The Walking Dead“ beispielsweise „American Horror Story“ sowie beinahe jede Sitcom außer „Two and a Half Man“ – und damit ebenfalls richtig liegen. Auf jeden Fall gültig bleiben freilich die übergreifenden Aussagen: Zukünftig dürfte es dem Leser leichter fallen, eine ‚gute‘ TV-Serie aufgrund hier vorgestellter Qualitätsmerkmale zu erkennen.

Gebunden: 744 Seiten
www.taschen.com

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