Susan Cooper – Der Graue König (Wintersonnenwende #4)

Showdown im Tal der Geister

Unheimliche graue Füchse wüten im Land. Sie haben ihren Auftrag vom mächtigen Grauen König erhalten. Will Stanton weiß: Er muss sich der gewaltigen Macht des Grauen Königs entgegenstellen. Dabei unterstützt ihn Bran, der Rabenjunge. Im Widerstand gegen die Mächte der Finsternis offenbart sich Brans Schicksal … (Verlagsinfo)

Die Autorin

Susan Cooper, geboren 1935, stammt aus der englischen Grafschaft Buckinghamshire und hat schon sehr früh mit dem Schreiben begonnen. Nach ihrem Studium in Oxford arbeitete sie als Redakteurin, brachte es zur ersten weiblichen Herausgeberin des Oxford University Newspaper und arbeitete dann sieben Jahre für die Sunday Times (wo ihr erster Chef der James-Bond-Erfinder Ian Fleming war). 1963 zog sie in die Vereinigten Staaten. Sie ist mit einem amerikanischen Wissenschaftler verheiratet, hat fünf Kinder (zwei eigene und drei Stiefkinder aus der ersten Ehe ihres Mannes) und lebt in der Nähe von Boston, Neuengland. Sie hat zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht.

Der Zyklus der Wintersonnenwende umfasst folgende Bücher:

1) Bevor die Flut kommt (1965)
2) Wintersonnenwende (1973)
3) Greenwitch (1974)
4) Der Graue König (1975)
5) Die Mächte des Lichts (1977)

Handlung

Will Stanton, der zwölfjährige „Uralte“, genest gerade von einer üblen Hepatitis, als der Arzt anregt, seine Mutter solle ihn zur Kur in die Berge oder ans Meer schicken. Und wo gibt es beides? Natürlich in Wales, bei ihrem Bruder David und dessen Frau Jen. Sie haben zwei Söhne, Rhys und John, mit denen sich Will bestimmt gut versteht. Der Ort Tywyn ist tatsächlich ziemlich abgelegen, und um dorthin zu gelangen, muss Rhys, der Will am Bahnhof abholt, einige Kilometer fahren. Auf der Straße, wo sie eine Panne haben, erfährt Will erstmals vom Grauen König. Dies ist ein legendäres Wesen, das den Mächten der Finsternis angehört und in den Bergen ringsum wohnt. Doch weil Will noch so geschwächt ist, fällt ihm nicht ein, warum dies so wichtig sein sollte.

Dies ist die Weissagung, an die sich Will erst nach Tagen erinnern wird und die er aus dem Buch Gramarye auswendig gelernt hat, bevor es zerstört wurde:

|Am Tage der Toten, wenn auch das Jahr stirbt,
Muss der Jüngste die ältesten Berge öffnen,
Durch die Tür der Vögel, wo der Wind sich bricht.
Feuer wird flammen von dem Raben-Jungen,
Und die Silberaugen, die den Wind sehen,
Und das Licht wird finden die Harfe aus Gold.

Am freundlichen See liegen die Schläfer,
Auf Cadfans Weg, wo der Turmfalke ruft;
Wohl wirft grimmige Schatten der Graue König,
Doch singend wird sie die goldene Harfe leiten,
Sie weckt sie auf und heißt sie reiten.

Wenn Licht vom verlorenen Land erstrahlt,
Werden sechs Schläfer reiten, sechs Zeichen brennen,
Und dort, wo der hohe Mittsommerbaum wächst,
Wird die Finsternis fallen durch Pendragons Schwert.|

Auf seinem ersten Ausflug in die von Bergen umsäumten Weiden und Almwiesen lernt Will den weißen Hund mit den silbernen Augen kennen. Cafall (sprich: Kawál) ist der einzige Freund, den der Junge Bran hat, ein Albino mit weißem Haar, blasser Haut, aber bernsteinbraunen Augen. Er ist der Sohn von Owen Davies, einem Arbeiter auf dem Bauernhof von Wills Onkel. Will sucht „Cadfals Weg“, also den Weg des Heiligen Cadfal (= kadwal), der über die Berge des Grauen Königs führen soll. Vielleicht kann Bran ihm helfen? Zumindest kann ihm Bran helfen, diese merkwürdigen walisischen Laute zu verstehen und auszusprechen.

|Die Füchse des Grauen Königs|

Schon bald merkt Will, dass einiges in dieser Gegend nicht stimmt, und er sucht den Grund dafür. Als er an einem Schafabtrieb teilnimmt, wird eines der Schafe Opfer eines Angriffs. Kaum jemand hat den Übeltäter gesehen: ein Hund, ein Wolf gar? Auch Will hat nur eine huschende Silhouette erblickt, die sogleich verschwand – ein Fuchs? Der Vorarbeiter John Rowlands deponiert das verletzte Schaf in einer verlassenen Kate, um es später mit dem Auto zum Tierarzt zu fahren. Doch als sie zurückkehren, finden er und Will das Tier nicht mehr vor. Wie kann es halbtot verschwinden? Doch Cafall findet eine Spur – nur dass es im Gras der Wiese keine Fährte gibt. Die Spur verliert er im nahen Bach.

Als sie am Grundstück des Nachbarn entlangwandern, bedroht sie dieser mit einer Schrotflinte. Cadogan Prichard ist wütend, weil ihm ein Hund, wie er sagt, zwei seiner Schafe gerissen habe. Und wehe, er erwische den weißen Hund Brans dabei, dann sei er fällig. Cadogan meint es verdammt ernst. Und weil es nicht bei diesen zwei Schafen bleibt, wird er immer wütender. Diese Entwicklung führt zu einer Katastrophe. Denn Cadogan hat einen guten Grund, Bran, den Albino-Jungen, zu hassen. Auf Engländer wie Will ist er nie gut zu sprechen.

|Das Feuer|

Seit Wochen ist kein Regen mehr gefallen, was für Wales sehr ungewöhnlich ist. Im zundertrockenen Farn bricht eines Tages ein Brand aus, der sich rasend schnell ausbreitet. Die Farmarbeiter haben alle Hände voll zu tun, es erst einmal von der eigenen Farm fernzuhalten, doch als der Wind dreht, frisst sich die Feuerwalze in Richtung auf Cadogans Bauernhof voran. Erstmals sieht Will, was sich in den Rauchsäulen verbirgt: Es sind Füchse, graue Füchse mit intelligentem Blick, und ihr Anführer zeigt überhaupt keine Scheu, auch die beiden Jungs und ihren Hund Cafall anzugreifen. Auch Bran sieht sie, doch er denkt, jeder könne die Füchse sehen. Da täuscht er sich aber.

|Der Vogelfelsen|

Die drei finden eine Felsspalte, die auf den Vogelfelsen hinter Cadogans Hof führt. Auf einem kleinen Fleck endet der Spalt, und sie stehen vor einer glatten Wand. Will ist jetzt klar, dass der Vogelfelsen die „Tür der Vögel“ aus der Weissagung darstellt. Und die glatte Wand ist nur eine verborgene Tür in den Berg – die er mit einem Zauberspruch, den ihn sein Meister Merriman gelehrt hat, öffnet.

Sie treten in einen Tunnel und Will muss weitere Tore aus Stein öffnen, um in einen großen Saal zu gelangen, wo drei von Kapuzen vermummte Männer auf Thronen sitzen. Sind es Könige? Neben ihnen stehen zwei Truhen. Der Wortführer der drei begrüßt den Uralten Will und seinen Freund Bran. Er verspricht ihm ein Geschenk: die goldene Harfe, einer der vier magischen Gegenstände, die Will erringen muss, damit die Mächte des Lichts, für die er kämpft, über die sich erhebende Finsternis siegen können.

|Die Rätsel|

Doch die Harfe wird nicht an jeden verschenkt, sondern nur an jene, die durch Geburtsrecht ihrer würdig sind. Der Wortführer stellt Bran und Will drei schwierige Rätsel, wie es seit alters Brauch ist. Lösen sie sie, gehört die Harfe ihnen, verlieren sie, so wird die Finsternis siegen. Das erste Rätsel wird an Bran gerichtet: „Wer sind die drei Weltältesten?“

_Mein Eindruck_

Das Erlangen eines mächtigen Instruments der Mächte des Lichts ist nur die Hälfte des Werks, das Will vollbringen muss. Er muss die Finsternis, repräsentiert durch den Grauen König, bekämpfen, wo sie sich ausbreitet. Und das tut sie in diesem entlegenen Bergtal, wie es in der Weissagung beschrieben ist. Will ist also am richtigen Ort.

Nun folgt der zweite Teil: Der Einsatz der Harfe. Aber da er sie nicht spielen kann und die Finsternis bereits ihre Hände danach ausstreckt, kommt ein anderer Faktor ins Spiel: Das menschliche Drama, das hier vor zwölf Jahren stattfand, muss endlich seine Lösung finden. Und dadurch wird aus dem anfänglichen Suchspiel ein psychologischer Thriller, der dem Buch innerhalb des Zyklus eine Sonderstellung verleiht.

|Die Vergangenheit lebt|

Vor zwölf Jahren erschien eine junge Frau, die sich Gwen nannte, in der Kate des jungen Owen Davies. Sie hatte schwarzes Haar und so blaue Augen, dass sich der junge Owen, der sich noch nie fürs Heiraten interessiert hatte, bis über beide Ohren in sie verliebte und sie heiraten wollte. Sie gab ihm ihren kleinen Säugling, blieb nur drei Tage und verschwand dann wieder. Er fand nur den Zettel, den sie hinterlassen hatte: „Sein Name ist Bran. Lieben Dank, Owen.“ Owen suchte drei Tage in der Wildnis des Cader Idris nach „Gwennie“, doch vergebens. Er zog Bran als seinen eigenen Sohn auf und sagt ihm nie, dass er nicht sein leiblicher Vater war. Bis jetzt.

Doch der Grund, warum Gwen überhaupt gegangen war, war nicht, dass sie einen Termin beim Zahnarzt hatte oder so, sondern wegen der Rolle, die Cadogan Prichard dabei spielte. Als Owen gerade außer Haus war, fand Cadogan diese wunderschöne junge Frau ungeschützt in der Kate seines Angestellten Owen Davis vor. Und da Cadogan ein herrischer Mann und diese Frau nie zuvor hier aufgetaucht war, hielt er sie für ein leichtes Mädchen und wollte sie für sich nehmen. Owen kehrte zurück und verhinderte eine Vergewaltigung. Doch Owen in seinem Liebeswahn verletzte Cadogan ganz beträchtlich. Und seitdem hat Cadogan eine Wut auf Owen und seinen Sohn Bran.

Cadogan ist leichte Beute für die Finsternis, und der Graue König schnappt ihn sich, um die Vorgänge im Tal der Schaffarmen zu manipulieren. Der Graue König flüstert Cadogan Ideen ein, boshafte Ideen, und gibt ihm die neuesten Informationen über das, was vor sich geht. Diese Informationen sammelt der Graue König aus seinen „Wachsteinen“, die er an wichtigen Stellen versteckt hat, natürlich auch auf Cadogans Hof, aber auch in der alten Kate von Owen Davies.

|Ein Vertreter der Macht?|

Es ist Wills Job als Uralter, diese Steine der Finsternis unschädlich zu machen. Er findet den Wachsein in Owens Kate, lässt aber Bran mit dem Hund Pen daneben zurück, um Hilfe zu holen: seine magische Harfe. Als Will zurückkehrt, sind Bran, Pen und der Wachstein fort – ein Wachstein, den nicht einmal er selbst mit seiner Zaubermacht bewegen konnte. Welche Macht hat sich also hier gezeigt? Es kann nur die von Bran sein, oder? Wer ist denn dieser Bran, der über eine so besondere, geheimnisvolle Mutter und einen so außergewöhnlichen Hund wie Cafall verfügt?

Noch immer steuert der Graue König im seinem Kampf gegen den Uralten Will Stanton den wütenden Schafzüchter Cadogan Prichard. Der Showdown findet an jenem „freundlichen See“ statt, wie die Weissagung erwähnt, direkt unter dem Berg, den die Waliser Cader Idris nennen: den Sitz Arthurs. Es kann nur ein Arthur gemeint sein, weiß Will, und das ist der König Arthur, der in der zweiten Frage der drei Weisen erfragt wurde. Hier muss Will die sechs Schläfer aus dem Berg befreien. Er beginnt die Harfe zu schlagen.

Doch es ist Brans und Owen Davies‘ Aufgabe, mit Cadogan fertigzuwerden und den alten Streit, der zwölf Jahre Zwietracht ins Tal brachte, ein für alle Mal beizulegen. Und da Cadogans Seele und Bewusstsein fest in der Hand des Grauen Königs sind, müssen sie es an der Seite Wills mit einem Mächtigen der Finsternis aufnehmen. Das Psychodrama endet keineswegs mit der Tötung Cadogans, der ja nur ein Knecht des Bösen ist, sondern mit dessen Erlösung. Und die Wahrheit über Brans Identität wird enthüllt. Wer sonst kann jene schöne junge Frau gewesen sein, die einst Owen, dem ersten guten Mann, den sie traf, ihr einziges Kind, den Raben-Jungen, übergab, als Guinevere?

|Offene Fragen|

Allerdings bleiben die Beweggründe für diese tragische Tat im Dunkeln. Ist Bran der Sohn von Lancelot, was natürlich nur Guinevere weiß – und Merlin? Der Leser wird sich wundern, wie die Frau König Arthurs die Jahrhunderte überwunden hat, doch für den Leser der ersten drei Bände ist das kein Problem: Die Uralten wie Merlin alias Merriman können zwischen den Zeiten wandeln und dabei offensichtlich auch „Passagiere“ mitnehmen. Und ist Bran nun der „Pendragon“ der Weissagung? Der nächste Band wird es weisen.

|Sonderstellung|

„Der Graue König“ nimmt deshalb eine Sonderstellung im Zyklus ein, weil hier der zentrale Konflikt nicht durch Beschwörungen und Tricks herbeigeführt wird, sondern durch die Lösung eines psychologischen Traumas – jenes Gespinstes aus Hass und Lüge, das aus den Geschehnissen in Owens Kate erwuchs. Die Autorin findet für diesen schrittweisen Vorgang (im zweiten Teil des Buches) hervorragend geeignete Bilder und Szenen, vergisst aber dabei nicht, dramatische Szenen bis zu einem finalen Showdown aufzubauen.

„Greenwitch“ (Band 3) wartete mit einigen Horrorszenen auf, die alle irgendwie aufgesetzt wirkten, besonders der Angriff der Piraten. Und „Wintersonnenwende“ (Band 2) bestand aus zahlreichen Episoden äußerer Konflikte und etlicher Erkenntnisse, die aneinandergereiht wurden, um dann in einem Showdown zu kulminieren. Diese Phase hat die Autorin in „Der Graue König“ überwunden. Die Geschichte ist aus einem Guss – Teil 2 ergibt sich automatisch aus Teil 1. Was als Instrument der Macht erworben wurde, wird nun eingesetzt. Und was an Erkenntnissen erworben wurde, wird nun angewendet, bis sich alles zum Guten wendet, weil der Graue König seinen Diener aus psychologischen Gründen verliert.

Ist es da ein Wunder, dass ich das Buch in einem Rutsch zu Ende lesen musste, um zu erfahren, wie es endet?

|Die Übersetzung|

Annemarie Böll übersetzte die ersten drei Bände, Karin Polz die restlichen zwei. Vom sprachlichen Stil der Übersetzerin war ich nicht besonders beeindruckt. Auf Seite 96 reiht sie dreimal „dann“ aneinander, und das klingt entsprechend stumpfsinnig: „DANN drang von unten ganz allmählich schwaches Licht zu ihnen. Will erhaschte einen Blick auf die Wände, die sie umgaben, DANN sah er die Stufen unter seinen Füßen, und DANN erschien nach einer Biegung im langen tunnelartigen Treppenschacht der helle Kreis, der sein Ende markierte.“

Auch eine Formulierung auf Seite 109 zeugt nicht gerade von stilistischer Eleganz: „… Furcht davor, was das Licht mit diesem neuen Gegenstand der Macht ZU TUN FÄHIG SEIN WIRD.“ Man könnte fast meinen, ein Fremdsprachler hätte hier übersetzt.

Hilfreiche Hinweise zur Aussprache des Walisischen finden sich nur in der Geschichte selbst, und das ist relativ holprig umgesetzt, wird aber mit Humor garniert. Eine Liste solcher Aussprachehilfen wäre hilfreich gewesen. Wenigstens gibt es ein oder zwei Fußnoten der Übersetzerin zu schwer übersetzbaren Wortspielen.

_Unterm Strich_

„Der Graue König“ setzt die Auffassung, dass das Böse sich in den Seelen der Menschen einnistet und Wurzeln schlägt, wenn ein schwelender Konflikt wie der zwischen Cadogan Prichard und Owen Davies nicht beigelegt wird. Eng damit verknüpft ist das Rätsel um Brans Herkunft, des Ziehsons Owens. Beide Themen werden auf verschlungenen Pfaden ebenso gelöst wie die Aufgabe des Uralten Will Stanton, den Grauen König aus diesem Tal des Zwistes zu vertreiben.

Das sind eine ganze Menge Ziele für ein so schmales Buch, aber die Autorin schafft es mit Bravour, alle Fäden zu verknüpfen und zu einem guten Ende zu führen. Dass für so manchen sehr jungen Leser, der mit psychologischen Dramen keine Erfahrung hat, der Überblick verloren geht, muss die Autorin in Kauf genommen haben. Und ich kann das Buch daher ebenso wie der Verlag nur ab etwa zwölf bis vierzehn Jahren empfehlen. Innerhalb des Zyklus um die Wintersonnenwende kann ich es nur wärmstens empfehlen. Ich habe es binnen sechs Stunden gelesen, denn es ist ungemein spannend.

Leider ist die Übersetzung nicht ganz zu meiner Zufriedenheit ausgefallen, aber es sind nur stilistische Unsauberkeiten, nicht sprachliche Unzulänglichkeiten, die ich moniere. Druckfehler konnte ich keinen einzigen finden. Eine Aussprachehilfe zum Walisischen wäre aber sehr nützlich gewesen. Der kleine Grundkurs, den Bran Will erteilt, reicht bei weitem nicht.

|Originaltitel: The Grey King, 1975
221 Seiten
Aus dem US-Englischen von Karin Polz
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The Six Signs of Light

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