Susan Cooper – Bevor die Flut kommt (Wintersonnenwende 1)

Spannender Jugendroman: Gralssuche in Cornwall

Auf dem Dachboden in einem Haus in Cornwall entdecken Jane, Barney und Simon ein uraltes Pergament. Es birgt verschlüsselte Hinweise auf den Ort, an dem der Heilige Gral des Königs Artus verborgen liegt. Die Geschwister wissen: Die Zeit ist gekommen, die Kraft des Grals gegen die Mächte der Finsternis einzusetzen. Die Suche nach dem Gral wird für sie zu einem gefährlichen Unterfangen, denn die Vertreter des Bösen haben sich an ihre Fersen geheftet. Aber vielleicht kann ihnen Großonkel Merry helfen, denn er sieht nicht nur aus wie der weise Zauberer Merlin, er kann auch das alte Pergament lesen …

Da ich im Februar 1984 selbst nach Cornwall gefahren bin, besitze ich eine Landkarte in großem Maßstab, die die beiden Grafschaften Cornwall und Devonshire zeigt. Darauf habe ich Trewissick gesucht, den Hauptschauplatz der Geschichte. Ich bin dabei auf Trelissick gestoßen, das im Mündungsgebiet des Flusses Fal liegt, unweit der Stadt Falmouth.

Die Autorin

Susan Cooper, geboren 1935, stammt aus der englischen Grafschaft Buckinghamshire und hat schon sehr früh mit dem Schreiben begonnen. Nach ihrem Studium in Oxford arbeitete sie als Redakteurin, brachte es zur ersten weiblichen Herausgeberin des Oxford University Newspaper und arbeitete dann sieben Jahre für die Sunday Times (wo ihr erster Chef der James-Bond-Erfinder Ian Fleming war). 1963 zog sie in die Vereinigten Staaten. Sie ist mit einem amerikanischen Wissenschaftler verheiratet, hat fünf Kinder (zwei eigene und drei Stiefkinder aus der ersten Ehe ihres Mannes) und lebt in der Nähe von Boston, Neuengland. Sie hat zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht.

Der Zyklus der Wintersonnenwende umfasst folgende Bücher:

1) Bevor die Flut kommt (1965)
2) Wintersonnenwende (1973)
3) Greenwitch (1974)
4) Der Graue König (1975)
5) Die Mächte des Lichts (1977)

Handlung

Simon, Barney und ihre Schwester Jane Drew dürfen mit ihren Eltern (Elly und Dick) im August das stickige London (der fünfziger oder frühen sechziger Jahre) verlassen und in die Sommerferien fahren. Es geht ins wildromantische Cornwall im Südwesten der britischen Inseln. Dies ist das legendenreiche Logres, das „Land des Westens“. Im Fischerdorf Trewissick beziehen sie das von ihrem guten alten Familienfreund Merry Lyons gemietete Graue Haus, das auf einer Anhöhe steht. Alle nennen Merry nur Großonkel, denn er sieht aus wie ein Patriarch aus dem Alten Testament. Dass er einiges auf dem Kasten hat, merken sie schon bald.

Als ihre Eltern weg sind, begeben sich die drei Geschwister auf eine Erkundungstour durch das verwinkelte Graue Haus. Sie fühlen sich wie Schatzsucher, und weil dies ein Land von Schmugglern war, fällt es ihnen nicht schwer. Sie stoßen auf eine Kammer, die genau wie eine alte Schiffskabine eingerichtet ist, inklusive Bullauge. Dann fällt ihnen an den Gängen etwas Seltsames auf, und hinter einem Kleiderschrank finden sie auch den Grund: Da ist eine kleine Kammer mit einer Treppe, die auf den Dachboden führt. Dort ist viel Gerümpel aus alter Zeit, voller Staub und Spinnweben. Als Barney seinen Apfelbutzen wiederholen soll, damit er keine Ratten anzieht, stößt er in einer Ecke der Bodendielen auf ein Loch, und darin steckt ein uraltes Pergament. Sie haben also doch noch einen Schatz gefunden.

Simon, der Älteste der drei, hat schon zwei Jahre Latein in der Schule gehabt, daher gelingt es ihm, die zwei Wörter „Marco Arturoque“ zu entziffern: von Marcus und Artur. Ob damit wohl König Arthur gemeint ist? Und wie jeder weiß, herrschte einst in Cornwall der legendäre König Marke, der Tristan und Isolde übel mitspielte. Außerdem ist eine kleine, verblasste Karte zu sehen, von der sich herausstellt, dass sie Trewissick und sein Vorgebirge Kenmare Head zeigt. Allerdings mit einem seltsamen Küstenverlauf.

Als Jane diese Unstimmigkeit anhand eines alten Reiseführers aufklären will, den sie zufällig in einer Truhe gefunden hat, fragt sie nach dem Pfarrer des Dorfes. Der hat bestimmt alte Aufzeichnungen, außerdem war der Autor des Reiseführers der Pfarrer von Trewissick selbst. Doch im Pfarrhaus trifft sie nur einen düster aussehenden und sehr neugierigen Pastor an, der ein richtiger Bücherwurm ist und eine Menge Fragen stellt. Weil sie ihm nicht verraten will, dass sie die alten Küstenumrisse aus ihrer geheimen Schatzkarte entnommen hat, macht sich Jane schnell wieder aus dem Staub. Niemand soll ihnen den Schatz wegnehmen, findet sie.

Doch schon in der nächsten Nacht wird in das Graue Haus eingebrochen. Simon ist der Erste, der das Chaos im Wohnzimmer und die Lücken an den Wänden bemerkt. Er ruft sofort seine Eltern sowie Merry und die Wirtschafterin Mrs Palk, doch keiner weiß, wer so brutal ist. Zahllose alte Bücher wurden aus den verschlossenen Bücherschränken des Kapitäns Toms, dem das Haus gehört, gerissen. Von den Wänden wurden bestimmte Bilderrahmen gerissen, seltsamerweise aber nur solche, in denen alte Landkarten steckten. Diese sind alle verschwunden. Ein Schuhabdruck in der Küche hilft dem herbeigerufenen Wachtmeister auch nicht weiter.

Der Verdacht der drei Geschwister fällt auf die Passagiere der Yacht „Lady Mary“, die seit kurzem im Hafen liegt und auf der auch nachts keine Lichter brennen. Mr. Withers und seine vorgebliche Tochter Polly haben dem Grauen Haus schon einen Besuch abgestattet und jede Menge Fragen gestellt – auch nach Landkarten. Doch man würde die Kinder für verrückt erklären, wenn sie unbewiesene Verdächtigungen ausstießen, das ist klar. Also vertrauen sie sich dem einzigen unvoreingenommenen Menschen an, den sie kennen: Großonkel Merry.

Er führt sie zu einem großen Felsen auf dem Hügel hinter dem Haus und entziffert für sie die Schrift auf dem Pergament. Der Text selbst sei schon 900 Jahre alt, das Dokument, eine Kopie, mindestens 600 Jahre. Wow! Und aus dem 11. Jahrhundert erfahren sie von einem Gralsritter namens Bedwin, der vor den vorrückenden Heiden, die aus dem Osten kamen und König Arthurs Heer schlugen, in den äußersten Westen floh. Denn er hatte etwas sehr Kostbares in Sicherheit zu bringen: einen heiligen Gral, einen Kelch, in den eine Botschaft von Artus eingeritzt war. Ritter Bedwin wurde in Trewissick begraben, aber sein Begleiter versteckte den Kelch, hinterließ den Schlüssel zum Versteck in diesem Pergament und floh in die Bretagne.

Großonkel macht den Geschwistern ihre große Verantwortung deutlich. Die Vertreter der Mächte der Finsternis seien bereits hier und hätten schon versucht, an dieses Dokument heranzukommen. Er stellt ihnen eine große Aufgabe: Sie müssten das Versteck vor diesen Halunken finden. Leider dürfe er ihnen nicht direkt helfen, sondern könne sie lediglich schützen. Sie übernehmen die Mission feierlich. Und zerbrechen sich den Kopf, wie sie das am besten anstellen.

Bei Sonnenuntergang fallen den Kindern die stehenden Steine auf dem Vorgebirge von Kenmare Head – das früher King Mark’s Head hieß – auf, die in einer Linie zwischen Sonne und Felsen stehen. Eindeutig ein erster Hinweis. Doch auch die Gegenseite schläft nicht und schon bald entwickelt sich auf und unter den Klippen des Vorgebirges ein heftiger Konkurrenzkampf, in dem mit harten Bandagen gekämpft wird.

Mein Eindruck

Zunächst lässt sich das Abenteuer der drei Geschwister so ähnlich an wie die [„Chroniken von Narnia“:]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?idbook=2036 Man findet ein Geheimnis und gelangt womöglich in eine andere Welt. Letzteres tritt nicht ein, denn es ist umgekehrt. Die fremde Welt bricht in Gestalt der Vertreter der Finsternis in unsere Welt ein! Der entführte Barney macht eine recht unangenehme Bekanntschaft mit „Mr. Hastings“, der sich als Kurator eines bedeutenden Museums ausgibt und als solcher Barneys Großonkel Merry als egoistischen Schatzsammler diffamiert.

Aber „Mr. Hastings“ ist noch mehr: ein mächtiger Gebieter über seine Untergebenen wie etwa die beiden Withers und deren Neffen Bill Hoover, ja, sogar über Mrs. Palk, die Haushälterin im Grauen Haus. Und Jane erkennt ihn jetzt mit Schaudern wieder: Sie hat ihn für den Pfarrer von Trewissick gehalten. Das ist er mitnichten. Eulenrufe sind sein Markenzeichen, und wie es scheint, kann er auch nach Belieben wachsen, bis er wie ein übermächtiger Schatten wirkt.

Recht rätselhaft finden die Kinder deshalb Onkel Merrys Bemerkung, er habe „Mr. Hastings“ schon mehrmals in den letzten Jahrhunderten getroffen, allerdings in anderen Gestalten. Diese Bemerkung, die sie lieber nicht hinterfragen, stellt den Kindern auch Onkel Merry in ein anderes Licht. Barney stolpert über den Namen Merry: Der Großonkel heißt in Wahrheit Merriman Lyon, und was wäre einfacher, als ihn als Mer-lin zu identifizieren. Oder wäre das zu weit hergeholt? Barney schüttelt den Kopf und lässt die Sache auf sich beruhen. Aber wir dürfen sicher sein, dass auch Merlin nicht weit ist, wenn es um irgendwelche Dinge geht, die mit König Arthur zu tun haben. Irgendwann, so verspricht es die Inschrift auf dem Pergament, werde der König wiederkehren, in Britanniens Stunde der Not. Und Merlin wird sich als „Secret Master“ herausstellen.

Der Anfang eines Zyklus

In der Tat entwickelt sich der fünfbändige Zyklus „Wintersonnenwende“ (O-Titel: The Dark Is Rising) aus diesem kleinen Vorgeplänkel zu einem großen Panorama, in dessen finaler Schlacht sich der ewige Widerstreit zwischen Licht und Finsternis entscheidet. Diese beiden Begriffe – LICHT und FINSTERNIS – sind bereits im vorliegenden Buch fett gedruckt, so dass man sie nicht übersehen kann. Die Handlung des ersten Bandes wird nicht direkt fortgesetzt. Im zweiten Band „Wintersonnenwende“ taucht der eigentliche Held des Zyklus auf: Will Stanton, begleitet von seinem Gefährten Bran, dem Rabenkrieger. Doch sie werden die Hilfe der Drew-Geschwister benötigen, wollen sie die Widersacher besiegen, denen sie in ihrer eigenen Zeit begegnen. Und wie soll das gelingen, wenn nicht durch eine Zeitreise?

Coming of age

Aber „Bevor die Flut kommt“ (der O-Titel „Over sea, under stone“ bezieht sich auf die Lage des Verstecks des Grals) ist auch ein schöner Coming-of-age-Roman. Alle drei Kinder machen nahe Bekanntschaft mit den Vertretern des Bösen und wachsen daran geistig wie auch moralisch. Jane und Barney begegnen dem düsteren Mr. Hastings und Simon wird von ihm und Bill Hoover verfolgt. Allerdings ist Gegenseite ebenfalls schlau, und skrupellos in ihren Mitteln.

Obwohl sich Großonkel Merry und sogar Rufus, sein Hund, für die Kinder einsetzen, bleibt am Ende nur die Probe aufs Exempel: Werden die Kinder den Forderungen des Mr. Hastings nachgeben und den Gral herausrücken? Aus kleinen Kinder, die Schatzsucher gespielt haben, werden verantwortungsbewusste Akteure in einem die Zeiten und Epochen überdauernden Drama. (Dass ihre Eltern davon wieder mal nichts mitbekommen, versteht sich von selbst. Sie würden sowieso kein Wort davon glauben!)

Historische Aspekte

Die Vergangenheit ist lebendig in Trewissick, dem Fischerdorf in Cornwall. Ich habe auf der Landkarte Trelissick gefunden, und wir können annehmen, dass die 1935 geborene Autorin die Gegend aus eigener Anschauung kannte, als sie das Buch schrieb. Das hat Vor- und Nachteile. Sie konnte noch das alte Brauchtum eines kostümierten Umzugs in dem Fischerdorf miterleben, das heute wahrscheinlich entweder ausgestorben oder zur Touristenattraktion verkommen sein dürfte. Im Buch wird der Umzug, obwohl er im August stattfindet, wie ein Karnevalszug beschrieben. Immerhin gibt es jedoch eine urbritische Figur, nämlich den Green Man. Er ist die Verkörperung der Naturkräfte in männlicher Gestalt. Sein weibliches Pendant ist in Cornwall die Greenwitch, die im gleichnamige dritten Roman des Zyklus eine Hauptrolle spielt.

Der Nachteil für die Autorin besteht darin, dass sie in der Artus-Forschung nicht auf dem heutigen Stand sein kann. Man kann dies an den lustigen Bemerkungen ablesen, die im Epilog von gelehrten Herrschaften im Britischen Museum gemacht werden. Dort wird der Gral ausgestellt. Immerhin ist von keltischen Wurzeln die Rede. Wie dies aber im Einklang mit der Datierung auf das 11. Jahrhundert zu bringen sein kann, ist noch unklar. Sir Bedwin tauchte damals auf, von einer von Artus’ Schlachten gegen die sächsischen Eroberer kommend. Dass diese Invasionen 600 Jahre früher stattfanden, gilt heute als gesichert. Und Bedwins Kelch, der Gral, kann ja auch schon viel älter gewesen sein, als er ihn nach Cornwall brachte.

Unterm Strich

Ich habe den Roman in nur zwei Tagen gelesen, denn er besteht fast nur aus Dialogen und ist sehr leicht zu lesen. Obendrein entwickelt die Handlung eine unerwartete Komplexität und Spannung, die in einem dramatischen Showdown gipfelt. Die Autorin nimmt ihre Figuren alle ernst und verrät keine davon. Im Gegenteil sind alle Figuren genau gezeichnet und sofort wiederzuerkennen. Die Geschwister entwickeln sich von kleinen verspielten Kindern zu verantwortungsbewusst handelnden Jugendlichen weiter. So ergeht es ja auch den Hobbits im „Herrn der Ringe“.

Gestört hat mich lediglich die Tatsache, dass das genaue Alter der Kinder nie angegeben wird. Wir können annehmen, dass sie alle zwischen zwölf und vierzehn Jahren alt sind, wobei Simon der Älteste ist. Dies wäre denn auch das optimale Lesealter. Auf dem Buchumschlag findet sich dazu keine Angabe.

Die Übersetzung stammt von Annemarie Böll, der Frau des Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll. Ihr gelingt ein lebendiger und anschaulicher Stil, der allerdings ein paar veraltete Wendungen enthält. Immerhin hat sie in Fußnoten das eine oder andere Wort erklärt, z. B. „Merry bzw. merry“. Das Buch erschien im |Ravensburger|-Verlag, aber |cbj| hat diesmal die Rechtschreibung den aktuell geltenden Regeln angepasst. Damit dürften aktuelle Schüler nicht mehr über „falsche“ Schreibungen stolpern.

Taschenbuch: 284 Seiten
Originaltitel: Over sea, under stone, 1965
Aus dem US-Englischen von Annemarie Böll|
https://www.penguin.de/Kinder-und-Jugendbuchverlage-cbj-&-cbt/aid77972.rhd