Brian W. Aldiss – Helliconia: Frühling (Helliconia 1)

Auftakt zur besten Planeten-Trilogie der SF

Der erste Band der Trilogie, die als ein zusammenhängender Roman zu lesen ist, stellt das komplizierte Doppelsternsystem vor, das den Schauplatz des dramatischen Geschehens um Klimawandel und Kulturfolgen auf der Welt Helliconia darstellt. Eine Raumstation verfolgt das geschehen und berichtet der weit entfernten Erde davon: Dies ist ihr Bericht. In der Einleitung lernen wir einen der Helden kennen: Yuli, den abtrünnigen Priester, der zum Gründer der Stadt Oldorando wird. Doch verhilft neues Denken der menschlichen Rasse auch zu erfolgreichem Überleben?

Der Autor

Brian W. Aldiss (1925-2017) ist nach James Graham Ballard und vor Michael Moorcock der wichtigste und experimentierfreudigste britische SF-Schriftsteller. Während Ballard nicht so thematisch und stilistisch vielseitig ist, hat er auch nicht Aldiss’ ironischen Humor.

Aldiss wurde bei uns am bekanntesten mit seiner Helliconia-Trilogie, die einen Standard in Sachen Weltenbau in der modernen SF setzte. Das elegische Standardthema von Aldiss ist die Fruchtbarkeit des Lebens und die Sterilität des Todes. Für „Hothouse“ („Am Vorabend der Ewigkeit“) bekam Aldiss den HUGO Award. Er hat auch Theaterstücke, Erotik, Lyrik und vieles mehr geschrieben. Er starb im August 2017 in der Nacht nach seinem 92. Geburtstag.

Mehr Infos über Helliconia in englischer Sprache finden sich hier.

Handlung

Teil 1: Yuli

Der neunjährige Yuli ist mit seinem Vater Alehaw in der klirrenden Kälte des Helliconia-Winters unterwegs, um Jagd auf jenes Wild zu machen, das wir wohl als „Rentiere“ bezeichnen würden. Alljährlich kommt die große Herde an jenem Flusstal durch, an dem sich die beiden Jäger auf die Lauer legen. Doch wie so häufig machen ihnen auch diesmal wilde Phagoren einen Strich durch die Rechnung: große, halbintelligente Jäger, deren Kopf wie der eines Ziegenbocks aussieht. Es kommt noch schlimmer: Alehaw wird von den Phagoren gefangen genommen und versklavt.

Pannoval

Yuli wächst als Halbwaise bei einem Ehepaar auf, bis auch dieses ihn an Menschenhändler verkauft. Auf dem Weg zur Stadt Pannoval gelingt es dem mittlerweile starken Yuli in der Nacht, die zwei Kaufleute mit Speeren zu töten und mit dem Hundeschlittengespann weiterzufahren. Den Zugang zu der Höhlenstadt Pannoval erschwindelt er sich. Nach einer Weile tritt er in den Priesterorden ein, dem er sich als Doppelmörder anvertrauen muss. Unter der Führung von Vater Sifan erkundet Yuli die Höhlenstadt, die 7000 Bewohner beherbergt. Hier sind die fiesen Phagoren die Diener der Priester von Akha, dem Obergott.

Nach seinem Noviziat wird Yuli als erstes zum Polizei- und Verhördienst eingeteilt. Dabei stellt er schnell fest, dass die Gesellschaft auf Unterdrückung und Ausbeutung beruht, was ihn anwidert. Als Atheist sieht er sich nicht mehr an Akhas Gebote gebunden und beschließt, mit einem oder mehreren Gefangenen zu fliehen. Zu seinem Erstaunen ist Pater Sifan mit seinem Vorhaben einverstanden und zeichnet ihm sogar eine Karte des verschlungenen Wegs, der nach draußen an die Oberfläche führt.

Zusammen mit zwei Sträflingen und einer schönen Bogenschützin namens Iskador gelingt es Yuli, viele Gefahren zu überwinden und zu einem Dorf an der Oberfläche zu gelangen. Doch der Zwist mit den Exsträflingen lässt sich nicht beilegen, und so zieht Yuli mit Iskador in einem anderen Dorf den Ort Oldorando, wo er die erworbenen Kenntnisse weitergibt und Iskador Schützinnen ausbildet. So gelingt es ihnen, die plündernden Nachbarn zu besiegen und das Dorf prosperieren zu lassen. Höchste Zeit, dass der Frühling beginnt. Schon werden die Tage des Doppelsonnensystems länger…

Teil 2: Embruddock

Klein-Yuli, der Urenkel des Gründers Yuli, ist gestorben, und die gesamte Gemeinde von Embruddock ist gekommen, ihn zu verabschieden. Layntal Ai ist sein mannbarer Sohn und lauscht bei der Leichenfeier den Erzählungen, wie es dazu kam, dass Yuli und seine Frau aus dem Bauch der Erde kamen und sich zunächst in Oldorando niederließen. Doch die ständigen Angriffe der Phagoren forderten viele Opfer, so dass Yulis Stamm weiterzog, bis sie schließlich nach Embruddock gelangten, das sie Oldorando nennen.

Hier sorgen heiße Quellen für ein angenehmes Klima und höhere Überlebenschancen. Außerdem hat der hiesige Stamm es in früheren Warmzeiten verstanden, hohe Türme zu bauen, die sowohl wehrhaft als auch beheizt sind. Nach einem kurzen Kampf vereinten sich die beiden Stämme unter der Führung der beiden Anführer Yuli und Dresyl. Zusammen gelingt es ihnen nicht nur, die Stadt wehrhaft zu machen, sondern auch weitere Angriffe der Phagoren in siegreichen Schlachten abzuwehren.

Nun ist eigentlich die Aufgabe Laintal Ais, die Führung zu übernehmen, doch daran scheitert er. Denn ihm kommen erst zwei Thronräuber zuvor, die aber wiederum von dem großen Jäger Aoz Roon ermordet werden. Nicht genug damit: Er tötet auch den Anführer des Volkes der Phagoren, der aus dem hohen Norden gekommen war, um Embruddock, das in einem früheren Jahreszyklus Phagorengebiet war, einzunehmen. Dieser Mord beschwört die Rache des Enkels herauf: Das Volk der Phagoren zieht in den Krieg gegen die Menschen. Der Zug dauert allerdings viele Jahre. Am Ende dieses Bandes ist der gewaltige Heerzug gerade mal vor die Tore Embruddocks gelangt.

Unterdessen

Die Raumstation „Avernus“ überträgt alles, was ihre Teleskope und Sensoren empfangen können, zur heimatlichen Erde. Allerdings braucht das Signal Tausende von Jahren, bis es die Heimatwelt erreicht. Dort hat sich ebenfalls viel geändert. Als die Bilder von der „Avernus“ eintreffen, werden sie zur Sensation, die einer Wochenschau gleicht: Sie lenkt die Menschen von ihrer deprimierenden Wirklichkeit ab. Doch die Realität auf helliconia soll nicht allzu lange für Optimismus sorgen…

Verhängnisse

Das Erscheinen der Phagoren im Süden geht einher mit der stetigen Erwärmung des Klimas. Die Menschen schweifen auf pferdeähnlichen Kreaturen weit umher und pflegen Umgang mit Kaufleuten. Die Frau Shaytal Lan gründet eine Akademie der Wissenschaften, in der vor allem Frauen Kenntnisse erlangen, die bis dato verschüttet oder verborgen waren. Eine ihrer Kenntnisse betrifft die astronomische Entwicklung des Weltensystems, zu dem Helliconia gehört. Ihr beängstigende und daher ignorierte Vorhersage lautet: 20 aufeinanderfolgende Sonnenfinsternisse kündigen den Frühling des Großjahres an.

Zusammen mit den Phagoren wird eine neue Seuche verbreitet, denen nur etwa jeder zweite Mensch etwas entgegenzusetzen hat. Das Helico-Virus wird von den Zecken übertragen, die im Fell der Phagoren leben und dort von den Kuhreihern vertilgt werden. Aber wenn eine Zecke einen Menschen beißt, hat das Helico-Virus freie Bahn: Binnen der Tage und Wochen, die das Knochenfieber wütet, magert der Mensch ab. So ergeht es auch Aoz Roon, als er auf einen Phagoren trifft, der ihm das Territorium einer Insel streitig macht. Aoz Roon hat Glück im Unglück: Der Phagor meidet Wasser und greift ihn nicht an. Aoz Roon überlebt und versucht die Menschen von Embruddock vor dem Kriegszug der Phagoren wie auch vor der Seuche zu warnen.

Zu spät: Die Seuche hat Embruddock bereits in den Klauen. Laintal Ay scheitert mit seinem Umsturzversuch, doch seine Angebetete Oyre entkommt – nur um sich dem Heer der Phagoren gegenüberzusehen…

Die Anhänge

Die Anhänge sind von großer Bedeutung für das Verständnis dieses Weltenentwurfs. Nicht nur finden sich hier die exzentrischen Umlaufbahnen des Doppelsternsystems Batalix / Freyr und seiner Planeten dargestellt, sondern auch Helliconia selbst mit mehreren thematischen Landkarten dargestellt. So kann der Leser schnell verstehen, wie die Kontinente verteilt sind und wie sich die klimatischen Zonen verteilen – und verändern.

Als wäre dies nicht genug, erklärt der Autor in verschiedenen Texten die zahlreichen Aspekte seiner Schöpfung Helliconia, insbesondere dessen Bewohner. Dazu gehört auch das Helico-Virus, das das Knochenfieber auslöst. In den Folgebänden werden diese Anhänge beträchtlich erweitert. Diese Anhänge sind unverzichtbar und wohl mit ein Grund für den immensen Erfolg der Trilogie, nicht zuletzt im wichtigsten SF-Markt der Welt: in den USA.

Mein Eindruck

Es ist ein schmaler Grat, den der Erzähler hier wandelt. Einerseits bemüht er sich, eine glaubwürdige und bis ins letzte Detail stimmige Weltkonstruktion (er hat vielfältige Hilfe, u.a. von Dr. Desmond Morris) als Hintergrund zu etablieren, die aber doch zugleich ausgefallen genug ist, dass sie mit zahlreichen erstaunlichen Phänomenen aufwartet. Dazu gehört das ungewöhnliche lange Großjahr, das an die 10.000 Sol-Jahre dauert.

Diese Dimensionen gemahnen an den Maya-Kalender. Die Bahnen der beiden Sonnen und der Planeten sorgen eine große Anzahl von Sonnenfinsternissen, die nicht nur den menschlichen Bewohnern Helliconias Angst einjagen, Verschiedene kosmogonische Mythen sind die Folge, die uns an unsere eigenen Entstehungsmythen erinnern. Die Mächte dahinter werden theologisch begründet und verbrämt. Wer darf es wagen, sie zu hinterfragen und so infragezustellen? Die Wissenschaftlerin tut es und wird dafür verbannt. Der Vorgang erinnert an Galileo Galilei.

Klimawandel

Der große Faktor im Leben aller Bewohner dieser Welt ist der Klimawandel, und das macht diese Trilogie heute aktueller denn je. Es ist, als hätte Aldiss schon 1982 vorausgesagt, was wir heute hautnah erleben. Mit der Verschiebung der Klimazonen breiten sich neue Tierarten ebenso aus wie unbekannte Seuchen, die den Einwohnern von Embruddock zu schaffen machen. Wie alle Menschen sind sie jedoch Meister der Anpassung. Aber können sie sich auch an das Knochenfieber anpassen, das, vom Helico-Virus ausgelöst, jeden zweiten Menschen das Leben kosten wird?

Drama, Romanze, Humor

All das zählt zum Hintergrund und ist als Entwicklungsfaktor konstant wirksam. Doch wo bleibt das Drama, wo der Humor, wo die Romanze? Ohne diese Aspekte kann eine Erzählung, wie schon Homer und Aristoteles zeigten, nicht auf menschliche Gemüter einwirken. Ein Glück, dass sich der Autor auch als ein einfallsreicher und einfühlsamer Schilderer unterschiedlichster Charaktere erweist. Jede Generation bringt ihren Ketzer, Oberjäger, Fürsten, Thronräuber oder Rebellen hervor. Und die Frauen sind nicht bloß fürs Bett und die Heimwirtschaft gut, sondern entdecken auch etwas, was man nur als Wissenschaft bezeichnen kann. Shaytal Lan gründet die Akademie und ergründet die Geheimnisse der Astronomie, ja, sie baut sogar ein Modell des Sonnensystems. Bis sie vom Herrscher dafür verbannt wird (s.o.).

Aspekte der Ironie

Doch was wäre ein britisches Drama ohne Ironie? Dafür sorgt der Standpunkt der menschlichen Beobachter im Weltraum. Sie sitzen da in ihrer Raumstation und verfolgen alle Entwicklungen aus der Ferne mit. Sie erkennen auch die nahende Katastrophe, die in Gestalt des Heerzugs der Phagoren gen Embruddock zieht. Doch sie können für die Menschen keinen einzigen Finger rühren, als die begleitende Seuche des Knochenfiebers wie eine Pest ausbricht, etwa indem sie ein Antiserum per Expedition bereitstellen würden. Sie würden ja selbst Opfer der Seuche werden. Dann wäre es aus mit dem Beobachten und nur noch Computer würden Berichte schreiben und zur Erde senden.

Ironisch ist auch der große zeitliche Abstand, den die Erde zu all diesem dramatisch werdenden Geschehen auf einer fernen Welt einnimmt. Erst wird es dort immer wärmer, was den Zuschauermassen Anlass zu Hoffnung gibt. Doch der glühend heiße Sommer auf Helliconia dauert nur 238 Jahre, dann wird es wieder kühler, und der Winter kehrt zurück. Wie wird sich diese unheilvolle Entwicklung auf die Erdbevölkerung auswirken? Durch die große Zeitdistanz von über tausend Jahren können auch die Erdbewohner nicht eingreifen: Das Geschehen liegt schon tief in der Vergangenheit, bevor man es auf der Erde registrieren kann.

Die Übersetzung

Walter Brumm hat das Mammutwerk in verständliches Deutsch übertragen. Die Karten und Diagramme zeichnete Erhard Ringer. Von den Druckfehlern, die Brumm unterliefen, konnte ich an die 20 Stück notieren, allerdings fehlten mir bei etlichen Fehlern Stift und Papier. Es wäre müßig und langweilig, alle Fehler aufzulisten, daher lasse ich die Liste weg.

Die Erstausgabe in der Heyne SF Bibliothek ist mit vielen Illustrationen von Klaus D. Schiemann versehen.

Unterm Strich

Die Helliconia-Trilogie ist ein maßgebliches Werk in Sachen Planetenkonstruktion – und ein mitreißendes Stück Science Fiction, das eine Menge Stoff zum Nachdenken liefert. Wer jedoch den Autor Brian W. Aldiss kennt, der ahnt, dass er sich nur wenig um die Gesetze scherte, die für heute erfolgreiche Unterhaltungsliteratur gelten. Seine Dramen und Romanzen sind eher an den alten Leitfiguren Shakespeares und der viktorianischen Erzähler wie etwa Thomas Hardy orientiert. Das Vorbild in der SF-Literatur ist eindeutig Olaf Stapledon. Das hauptsächliche Zugeständnis des Autors an die Verlagsindustrie ist die Aufteilung des 1700 Seiten starken Mega-Romans auf drei etwa gleich umfangreiche Bände (ähnlich wie bei Tolkiens „Herr der Ringe“ 1954/55).

Das Leben auf Helliconia stellt die Menschen, die hier das Großjahr von zehntausend Jahren Dauer überleben wollen, auf harte Proben. Das gilt nicht nur für die kurzfristige Ernährung, sondern auch für die Anpassung an die Verschiebung der Klimazonen. Die Vorhersage des Klimawandels und seiner Folgen macht die Helliconia-Trilogie besonders heute so aktuell. Die ewige Frage steht im Mittelpunkt, die da lautet: Prägt die Gesellschaft den Menschen vorrangig, oder sind es die Vorgaben der Natur („nurture vs. nature“)?

Wie sich schon im ersten Band zeigt, ist es das komplexe Zusammenspiel beider Faktoren, das das Überleben der Menschen sichern muss. Kann die Wissenschaft vor dem eigenen Untergang bewahren? Diese Frage stellt sich auch heute wieder. Galilei musste seinerzeit widerrufen, doch Shaytal Lan geht nur in die Verbannung. Wird sie irgendwann einmal Gehör finden? Die weiteren zwei Bände werden es hoffentlich erweisen. Denn der Sommer wird brutal heiß werden – und der eisige Winter Jahrtausende währen. Werden die Menschen jemals klüger werden und sich auf das unausweichliche Schicksal besser vorbereiten als ihre Vorgänger? Es steht zu hoffen.

Für die zahlreichen Druckfehler im Text gibt es einen kleinen Punktabzug.

Taschenbuch: 684 Seiten
Originaltitel: Helliconia: Spring, 1981.
Aus dem Englischen von Walter Brumm.
ISBN-13: 9783453311572

www.heyne.de

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