Die Geschichte vom märchenhaften Aufstieg und bodenlosen Fall des Zeitungsmagnaten Charles Foster Kane, dem beruflich (scheinbar) alles gelingt, während man sein Privatleben nur als Jahrzehnte währendes Desaster bezeichnen kann, wurde vom Regisseur/Drehbuchautor/Hauptdarsteller Orson Welles im Jahre 1941 als Filmdebüt in Szene gesetzt. Dem gerade 26-Jährigen war an den Kinokassen wie in der Presse zunächst wenig Erfolg beschieden; zu weit war Welles der Bildsprache und den Erzählstrukturen seiner Zeit voraus. Fast zwei Jahrzehnte dauerte es, bis sich zumindest unter den Kritikern die Erkenntnis durchsetzte, dass Welles mit „Citizen Kane“ eines der wenigen echten Meisterwerke der Filmgeschichte gelungen war – ein Film, der nicht nur für sich selbst stehen konnte, sondern stilbildend und vorbildlich ganze Generationen von Filmschaffenden prägen sollte.
„Citizen Kane“ ist heute weniger ein Film als eine Legende. Seit um 1960 die moderne Filmkritik „erfunden“ wurde, ist Orson Welles‘ Meisterwerk auf den ersten Rang jeder Kritikerliste der „besten Filme der Geschichte“ quasi abonniert! Schon diese beinahe blinde Liebe ließ es der Filmhistorikerin und -journalistin Laura Mulvey ratsam erscheinen, zum 60. „Geburtstag“ von „Citizen Kane“ einen kritischen Blick auf diesen Film zu werden. Plappern die Kritiker ein Lob nach, das ihre Vorfahren und Kollegen seit vier Jahrzehnten wie ein Mantra anzustimmen pflegen? Oder kann „Citizen Kane“ auch im 21. Jahrhundert seinem Ruf gerecht werden?
Das hier in der Filmbuch-Reihe des |Europa|-Verlags vorgelegte Bändchen aus der Feder Mulveys kann diese Frage beantworten – uneingeschränkt und überzeugend positiv, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Zum einen ist es schwer, einen Film-Monolithen dieses Kalibers auf etwas über einhundert Seiten zu bewerten, zum anderen ist „Citizen Kane“ in den USA bereits im Jahre 1992 erschienen. Mehr als ein Jahrzehnt Rezeptionsgeschichte fehlt also, doch hier steht Ihr Rezensent mutig Gewehr bei Fuß, um in die Bresche zu springen …
Wer heutzutage das Glück hat, „Citizen Kane“, den Film, zum ersten Mal zu sehen (und dann womöglich in einem Programmkino, d. h. auf der „richtigen“ Leinwand, für die er geschaffen wurde!), mag kaum glauben, dass dieser Streifen vor mehr als einem halben Jahrhundert entstanden ist. Er ist gealtert, keine Frage, aber dennoch lässt sich noch gut nachvollziehen, welcher Quantensprung der Filmgeschichte dank Orson Welles im Jahre 1941 gelang. Vor und hinter der Kamera ereignete sich künstlerisch Revolutionäres – nicht, dass Welles und seine genialen Mitstreiter (die von den Chronisten gern verschwiegen werden, auf dass der Stern des verehrten Meisters um so heller strahle) das Rad neu erfunden hätten: Die meisten (erzähl-)technischen Tricks und Kniffe gab es schon vor 1941, doch niemals zuvor hatte jemand ihr Potenzial entdeckt, wurden sie so konsequent und furios eingesetzt wie in „Citizen Kane“.
Über die USA des Jahres 1941 brach der Film herein wie ein kultureller Feuersturm. Seit knapp zehn Jahren schwang das Hayes-Office die Knute der Zensur und hatte in Hollywood praktisch jeden künstlerisch-subversiven Funken erstickt. Das Publikum war eingelullt und abgestumpft; Experimente verschreckten es eher statt es zu inspirieren. Dabei könnte niemand den Schöpfern von „Citizen Kane“ vorwerfen, sie hätten ihren Zuschauern bleischweres Kopf-Kino vorgesetzt. „Citizen Kane“ erzählt eine mitreißende Geschichte und geizt wahrlich nicht mit Schauwerten. Aber Welles kaut seinem Publikum diese Geschichte nicht vor, sondern fordert Aufmerksamkeit und die Bereitschaft mitzudenken – und das ist seit jeher riskant.
Orson Welles (1915-1985) war gerade 25 Jahre alt, als er mit den Dreharbeiten zu seinem ersten Film begann – ein Wunderkind, das als Unterhaltungskünstler bereits mit allen Wassern gewaschen war, seine Landsleute am Theater mit kühnen Inszenierungen klassischer und moderner Stücke und 1938 mit dem Radio-Schocker [„Krieg der Welten“ 1475 in Angst und Schrecken versetzt hatte und sich nun anschickte, Hollywood zu erobern. Seitens des RKO-Studios mit unerhörter Autonomie ausgestattet, spielte Welles mit der sprichwörtlichen Unbekümmertheit des jungen Genies mit den Konventionen des Kinos, definierte es (teilweise) neu und scherte sich wenig um geschriebene oder ungeschriebene Regeln oder gar Tabus. Das Ergebnis ließ ihn an prominenter Stelle in die Kinoannalen eingehen. Freilich zahlte Welles bis zu seinem eindeutig verfrühten Tod einen bitteren Preis dafür. Nie wieder sollte ihm ein Werk wie „Citizen Kane“ gelingen, obwohl ihm die Filmgeschichte auch später noch manchen Meilenstein verdankt.
Schlimmer noch: „Citizen Kane“ zerstörte Welles‘ Karriere, bevor sie in Gang kommen konnte. Er hatte seinen Charles Foster Kane ein wenig zu offensichtlich an William Randolph Hearst, den ungekrönten (und reizbaren) Zeitungszaren, angelehnt und sich außerdem deutlich auf die Seite Präsident Franklin D. Roosevelts und dessen Politik des „New Deal“ geschlagen, die Hearst, Erzkapitalist der ersten Stunde und eingeschworener Gegner jeglicher Bemühungen, zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise die Reichen und Superreichen zur Kasse zu bitten, erbittert bekämpfte. Dazu kamen die von Welles eher als Inspiration denn als Herausforderung verstandenen Anspielungen auf das gesellschaftlich eigentlich unhaltbare, aber von der devoten Presse totgeschwiegene Verhältnis Hearsts zum mehr als fünfzig Jahre jüngeren Filmsternchen Marion Davies, das er später auch heiratete. Der alte Mann, der sich rühmte, in seinen zahlreichen Zeitungen den spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 inszeniert zu haben, begann nach 1941 einen vernichtenden und objektiv kriminellen Medienfeldzug gegen Welles, der sich davon auch nach Hearsts Sturz nicht mehr erholen konnte.
Aber hier geht es ja nicht um Orson Welles‘ Niedergang, sondern um „Citizen Kane“. Mulvey skizziert knapp aber umfassend die Vorgeschichte, die Umsetzung und die unmittelbare wie langfristige Rezeption des Films, der bei allem überbordenden Ideenreichtum durchaus ein zuverlässiger Spiegel seiner Zeit ist. Die bedrückende geistige Enge von „God’s Own Country“ wird ebenso offenbar wie die Mechanismen der gut geölten Hollywood-Maschinerie, die sich über Jahrzehnte an der Quadratur des Kreises versuchte: der industriellen Produktion lukrativer Träume. „Citizen Kane“ spiegelt drastisch wider, was dem blühte, der es wagte, Hollywood als die wunderbare Spielzeugeisenbahn zu betrachten, als die es von den großen Studios in der Öffentlichkeit gern dargestellt wurde. Unter diesen Bedingungen ist es erstaunlich, dass ein Film wie dieser überhaupt zustande kommen konnte.
Ein wenig störend wirkt hier und da Mulveys Versuch, „Citizen Kane“ und seinen Schöpfer auf Biegen und Brechen mit den Mitteln der Psychoanalyse zu „entschlüsseln“. Solche nachträglichen Interpretationen lösen oft „Rätsel“, die sehr elegant wirken, an die ihre Schöpfer allerdings selbst im Traum nicht gedacht haben: Eine Rose ist manchmal nur eine Rose, wie es so schön heißt. Dennoch kann Mulvey trotz der gebotenen Kürze – „Citizen Kane“ erschien quasi als Begleitheft des renommierten „British Film Institute“ zum Neustart des Films – mit einigen Entdeckungen aufwarten. Die zahlreichen und sehr schönen Schwarzweißfotos runden das Lektürevergnügen des überdies sorgfältig übersetzten Bandes ab, der einmal mehr traurig macht, dass die „Film-Bibliothek“-Reihe (sowie der „alte“ |Europa|-Verlag) selbst längst Geschichte sind.
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