Eric Stenbock – Die andere Seite (Gruselkabinett Folge 183)

Eine Initiation durch die Königin des Waldes

Frankreich, in der Bretagne, 1837: Was ist das Geheimnis des verbotenen Flussufers, dessen Bäume nie grüne Blätter tragen und das selbst am Mittag im Schatten liegt? Magisch angezogen von der Schönheit einer geheimnisvollen Blume traut sich der junge Gabriel, das Gewässer zu überqueren, und wagt sich in die dunklen Schatten, aus denen allabendlich die Wölfe heulen… (Verlagsinfo)

Der Autor

Count Eric Stanislaus (or Stanislaus Eric) Stenbock (12 March [O.S. 29 February] 1860 – 26 April [O.S. 14 April] 1895) war ein baltisch-schwedischer Dichter und Autor makabrer Phantastik.

Text online: http://gutenberg.net.au/ebooks06/0606601h.html#s2

Die Sprecher / Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher

Gabriel als Erzähler: Jean Paul Baeck
Mère Pinquèle: Ursula Wüsthof
Mère Yvonne: Kathryn McMenemy
Gabriel als Knabe: Edward McMenemy
Carmeille: Marlene Bosenius
Abbé Felicien: Bodo Primus
Wolfswärter: Marc Gruppe
Lilith: Antje von der Ahe

Die Macher

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand im Titania Medien Studio und in den Planet Earth Studios statt und wurde bei Kazuya abgemischt. Die Cover-Illustration stammt von Ertugrul Edirne.

Handlung

Frankreich 1837, ein Dorf in der Bretagne. Hier wächst der Knabe Gabriel vaterlos bei Mère Yvonne auf, die wiederum auf die Ratschläge der alten Mère Pinquèle hört. Deren düstere Geschichten faszinieren Gabriel und entzünden seine Phantasie. Da ist die Rede von schwarzen messen, bei denen der Wolfswärter die Opferung eines Kindes fordert, während seine Schützling ein unheiliges Geheul anstimmen. Da wird Mutter ganz wütend und warnt ihren Sohn.

Aber die Oma hat recht: Wenn Gabriel mit seiner Freundin Carmeille an jenen Bach spaziert, vor dem sie ihn immer warnt, kann er dort verdorrtes Gras und heulende Wolfswesen hören. Es ist eindeutig eine Grenze, doch wie heißt das Land, das jenseits des Bachs liegt. Abbé Felicien ist der einzige Erwachsene, der Gabriel sagt, dass er trotz seiner Sensibilität in Ordnung sei, sagt es ihm nicht, aber auch er warnt ihn.

An der Grenze

Als Gabriel eines Abends eine schöne blaue Blume erblickt, die jenseits des Bachs wächst und vom Mond beschienen wird, springt er über den Bach. Das Ufer ist voller blauer Blumen. Ein Knall ertönt, und eine Wolke schiebt sich vor den Mond. Die Wilde Jagd zeiht vorüber: der Wolfswärter und die Wolfsmenschen. Sobald die Jagd vorüber ist, singt eine Nachtigall ihr Lied. Da erscheint eine schöne nackt Frau mit goldenem Haar und blauen Augen vor Gabriels Augen. „Komm mit mir“, fordert sie ihn. Und weil sie ihn schön genannt hat, geht er mit ihr. Doch als sie sich in einen Wolf verwandet, flieht er zum Bach.

Unterwegs hat er eine schöne blaue Blume gepflückt, die er nun seiner Mutter zeigen will. Die ist entsetzt: „Eine Hexenblume! Weg damit!“ Gleich darauf zerfällt die Blume, und er wird mit einem Gebet ins Bett gesteckt. Doch als er nachts die Blume unbeobachtet hervorholt, erblüht sie wieder. Da hört er die Stimme der lachenden Frau.

Frevel

Gabriel dient bei Abbé Felicien als Messdiener, doch als er an diesem Sonntagmorgen einen Fehler in der Litanei macht, fällt er in Ohnmacht. Der Küster bringt Gabriel weg, so dass er sich erholen kann. Gabriel lehnt Feliciens besorgtes Hilfsangebot ab. Als Gabriel das nächste Mal mit Carmeille zum Bach geht und ihr seine blaue Blume zeigt, meint sie, dass etwas nicht damit stimme. Gleich darauf erscheint die Wolfsfrau – auf der hiesigen Seite. Dies löst im Dorf Alarm aus, Carmeille hat Angst, während die jungen Männer zur Jagd rüsten.

Das Beten ist ihm unmöglich geworden, stellt Gabriel abends fest und wandert nur halb bekleidet zum Bach. Er trifft die schöne nackte Frau und überschreitet zusammen mit ihr die Grenze. Zwei Wölfe erscheinen, Gabriel bekommt Angst und er schlägt die Frau mit einem Stein nieder. Er küsst aus Reue ihre blutende Stirnwunde, daraufhin fällt er in Schlaf. Im Traum erblickt er die Wilde Jagd erneut. Der Wolfswärter und die schöne Frau, die er Lilith nennt, beratschlagen, was sie mit Gabriel machen sollen. Schließlich nehmen sie ihn mit.

Auf Abwegen

Im Traum glaubt er sich in seinem Zimmer, doch dort ist das Kruzifix von der Wand verschwunden, und er kann nicht mehr beten. Stattdessen findet er sich im Wald neben der schönen Frau, die ihm Geschichten erzählt. Es gefällt ihm, endlich im Mittelpunkt zu stehen und eine Frau zu haben, die ihn zu lieben scheint. Doch der Durst und eine Erinnerung treiben ihn zurück zum Bach. Das Wasser fließt indes nicht, und als er hinüberschaut, erblickt er eine Totenvesper. Er pflückt eine Schlafblume.

Es sind Carmeille, Mutter Yvonne und Abbé Felicien, die für ihn und seine Seele beten. Ist er denn tot? Er betäubt Lilith mit der Schlafblume und geht an ihr vorbei zum Bach. Als er diesen überspringt, verwandelt er sich in einen Wolf. Nun endlich nennt ihn der Wolfswärter schön. Aus Gabriels Kehle bricht triumphales Geheul hervor…

Mein Eindruck

Die Handlung um Gabriel und Lilith ist anders als im mittelalterlichen Versepos „Bisclavret“ (ca. 1170) keine Treue-und-Rachegeschichte, sondern dreht sich um die Initiation des jungen Knaben in das Reich der sexuellen Erfüllung, die ihren Preis hat: die Verwandlung in ein heidnisches Monster. Lilith, Gabriels neue Freundin, ist alles andere als harmlos. Schon ihre Nacktheit deutet an, dass sie sich nicht um die Ver- und Gebote der christlichen Menschen schert, wenn sie in der Wildnis lebt. Ihr Name ist von der ersten Frau des ersten Mannes Adam abgeleitet. Und weil Lilith ihm keine Kinder schenkte, verstieß er sie und nahm er sich Eva, von der das Menschengeschlecht abstammt. Fortan verschrien die Bibelautoren Lilith als „Mutter von Dämonen“.

Nun, in dieser Geschichte tritt Lilith alles andere als dämonisch auf, denn sie lacht und singt, angetan mit engelhaften Goldhaar. Ihre dunkle Seite ist im Wolfswächter zu finden. Dieser beherrscht die dunkle Seite der Wildnis, während Lilith die helle Seite verkörpert. Als sich Gabriel von den Christen abwendet und in der Wildnis bei Lilith und dem Wolfwächter lebt, befreit er seine inneren Wünsche und verwandelt sich in die Gestalt, die die Christen am meisten fürchten: in einen Wolfsmenschen.

Dass Lilith sexuellen Wünsche hervordringen lässt, dürfte auf der Hand liegen, denn warum sollte sie sonst nackt sein und ihren Astralkörper zeigen? Was da zwischen der schönen Lilith und dem wölfischen Jüngling läuft, wollen wir lieber gar nicht wissen. Interessant ist vielmehr, wie die beiden wieder getrennt werden. Eine Schlafblume spielt eine ebenso wichtige Rolle wie die geweihten Objekte, die Abbé Felicien bringt: eine Hostie und ein Ziborium (in dem Hostien aufbewahrt werden).

Vor diesen Dingen hat Lilith Angst, und zum Vorschein kommt sofort ihre dunkle Hälfte, der Wolfswärter. Zum Erstaunen des Hörers hebt diese eine Monstranz empor, um dem Abbé Paroli zu bieten. Das Aufeinandertreffen der christlichen und der heidnischen Priesterschaft kann nicht gut gehen. Es kommt zum Brand des wilden Waldes, in dem tiefe Schreie ertönen.

Gabriel muss wieder zurück in die Gemeinde. Doch der Wolfsmensch in ihm erwacht regelmäßig und es drängt ihn, den Mond anzuheulen. Warum das nur neun Mal im Jahr statt dreizehn Mal bei Vollmond geschieht, bleibt unklar. Aber das unterdrückte Es, um in der Begrifflichkeit S. Freuds zu sprechen, das von den Ver- und Geboten der christlichen Religion verdrängt wurde, lässt sich nie vollständig eliminieren, denn sonst könnten Menschen einander nicht lieben.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Die Handlung wird als Rahmen- und als Binnenhandlung erzählt, d.h. der aktuelle Erzähler berichtet von seinen Erlebnissen, die er als Knabe anno 1837 hatte.

Jean Paul Baeck ist der „Gabriel als Erzähler“ aus der Rahmenhandlung. Edward McMenemy spricht „Gabriel als Knabe“. Das ist leider nur eine sehr kleine Rolle. Gabriels besorgte Mutter Mère Yvonne wird von Kathryn McMenemy einfühlsam gesprochen. Sie hört auf die Ratschläge der alten Mère Pinquèle, die von Ursula Wüsthof gesprochen wird. Mitunter hörte ich sie lallen, denn die Mère hat dem Alkohol zugesprochen.

Marlene Bosenius, die Tochter des Mitregisseurs, spricht Carmeille, Gabriels besorgte Freundin. Abbé Felicienwird von Bodo Primus als väterliche Figur gesprochen – Väter fehlen durchweg. Marc Gruppe hat als Wolfswärter nicht viel zu sagen, aber dafür sehr viel zu knurren. Die schöne Lilith wird von Antje von der Ahe gesprochen, die mit ihrem Lachen sehr viel zur sympathischen Erscheinung dieser zentralen Figur beiträgt.

Geräusche

Eine große Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Häusliche Geräusche wie etwa Geschirr, das Geplätscher des Grenzbachs, Glocken, jede Menge Wölfe und Vögel – all diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Den Eröffnungsakkord setzt ein fürchterliches Wolfsgeheul. Dies lässt das Grundmotiv des Gegensatzes zwischen christlicher Gemeinde und wilder, heidnischer Wildnis anklingen. Das Finale wird vom Prasseln eines Waldbrandes bestritten.

Die Musik

Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Gleich nach dem anfänglichen Geheul beginnt ein Piano eine barock anmutende Melodie zu spielen. Dieses Piano wird sehr vielseitig eingesetzt: Mal spielt es harmonische Akkorde, dann wieder entführt es den Hörer in zauberische Phantasien.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt den Wolfsmenschen, der unter dem Einfluss des Mondes steht, welcher im Hintergrund gelb leuchtet. Eindeutig befindet sich der Wolf in der Wildnis, die Normalsterblichen leben in der Gemeinde, deren Kirche und Burg im Hintergrund zu sehen sind.

Im Booklet sind die zahlreichen Titel des GRUSELKABINETTS und der SHERLOCK HOLMES Reihe bis Frühjahr 2023 verzeichnet. Die Vorschau wird online auf der neugestalteten Homepage bestens dargeboten. Die letzte
Seite des Booklets zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Das Programm von Herbst 2022 bis Sommer 2023

Folge 176: Das Lächeln des Toten
177: Furia Infernalis
178: Das unheimliche Turmzimmer
179: Der Fall Medhans Lea – Flaxman Low 3
180: Das unbewohnte Haus (1/23)
181: Das gefährlichste Spiel der Welt (2/23)
182: Sarahs Grabmal (3/23)
==>183: Eric Stenbock: Die andere Seite (4/23)
184: Das Haar der Sklavin (5/23)
185: Lovecraft: Die Musik des Erich Zann
186: Der Ghoul
187: Blackwood: Die Weiden

Unterm Strich

Schon die Handlung des Werwolf-Hörspiels „Bisclavret“ (Gruselkabinett Folge 166) spielte in der Bretagne, allerdings etwa 600 Jahre vor Gabriels Erlebnissen. Auch in „Bisclavret“ tritt eine zentrale Frauenfigur auf, und diese wird ebenfalls von Antje von der Ahe gesprochen. Die vorliegende Handlung um Gabriel und Lilith ist jedoch keine Treue-und-Rachegeschichte, sondern dreht sich um die Initiation des jungen Knaben in das Reich der sexuellen Erfüllung, die ihren Preis hat: die Verwandlung in ein heidnisches Monster. Wer genau aufpasst (und das Original kennt), wird entdecken, dass auch Mère Pinquelle Reißzähne aufweist. Woher hat sie ihr Wissen über schwarze Messen des Satans?

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Die Atmosphäre, die von Stimmen, Sounds und Musik erzeugt wird, ist unheimlich und stellenweise sogar beklemmend.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen von Antje von der Ahe, Bodo Primus und Jean Paul Baeck vermitteln das richtige Kino-Feeling. Schön, dass die einst so kleine Marlene Bosenius schon ein richtiger Profi
geworden ist.

CD: 45:09 Minuten.
O-Titel: „THE OTHER SIDE: A BRETON LEGEND“
Aus dem Englischen von unbekannt
ISBN-13: 9783785785294

www.titania-Medien.de

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