Als die liebevolle Terry Painter der zwölf Jahre jüngeren Alison Simms ihr Gartenhäuschen vermietet, ahnt sie nicht, welchen Ärger sie sich damit einhandelt. Denn Alison lebt nicht nur in schlechter Gesellschaft, sondern ruft in Terry die Dämonin ihrer Vergangenheit wach: Terrys unbarmherzige Mutter. – Das Buch ist ein Drei-Generationen-Roman, der auch als Thriller zu überzeugen weiß, wenn auch erst spät.
_Die Autorin_
Joy Fielding lebt mit ihrer Familie in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida, also quasi in der Gegend, in der ihr zehnter Roman „Schlaf nicht, wenn es dunkel wird“ spielt. Mit ihrem Roman „Lauf, Jane, lauf!“ gelang ihr international der Durchbruch.
_Handlung_
Die Krankenschwester Terry Painter lebt ein scheinbar ruhiges Leben in einer kleinen ruhigen Küstengemeinde namens Delray in Florida. Seit ihre Mutter fünf Jahre zuvor gestorben ist und ihr das Haus vererbte, lebt sie allein. Sie hat keine Kinder, keinen Mann, keine Freunde – nur ihren Patienten widmet sie sich mit aller Herzenswärme, die sie aufbringen kann. Eine 87 Jahre alte Dame namens Myra Wylie ist ihr die liebste. Unter anderem auch deshalb, weil Myras fescher Sohn Josh gerade von seiner Frau verlassen wurde und somit ein begehrtes Objekt von Terrys liebeshungrigen Tagträumen ist. Wie gern hätte sie mal ein Date mit ihm!
Hin und wieder fühlt sie sich einsam und verspürt den Wunsch, ihr geräumiges Gartenhäuschen zu vermieten. Alison Simms, die geschiedene junge Frau, die dort nun einzieht, gewinnt Terrys Herz, und zwischen beiden entsteht eine Freundschaft. Terry schenkt ihr sogar das kleine Goldkettchen mit dem Herzen dran, das die Vormieterin Erica Hollander offenbar unterm Bett vergessen hat. Erica hat die letzten zwei Monatsmieten nicht bezahlt, als sie einfach abhaute.
Doch Alison, 28, arbeitet in einer Kunstgalerie und zahlt ihre Miete pünktlich. Doch scheint sie auch eine kleine Diebin zu sein, die in Terrys Hospital schon mal eine Brieftasche mitgehen lässt. Und ob sie und ihre Freundin Denise die neuen Ohranhänger selbst bezahlt haben, bezweifelt Terry auch ein ganz klein wenig. Terry beschleicht der Verdacht, dass Alison ihr etwas verheimlicht. Die anonymen Anrufe, die sie wegen Erica Hollander von einem Unbekannten erhält, beruhigen sie auch nicht gerade.
Immer öfter muss sie an ihre unduldsame, tyrannische Mutter zurückdenken. Immer noch hat sie die Lieblingsnippesfiguren ihrer Mutter im Regal stehen, lauter alberne, streng dreinblickende Kopfvasen: „Du dummes, dummes Mädchen!“ pflege ihre Mutter zu Terry zu sagen. Stets musste sie ihre Sexualität unterdrücken, und an das Intermezzo mit ihrem Klassenkameraden Roger Stillman auf der Rückbank seines Wagens darf sie schon gar nicht denken.
Als bei Alison ein junger Mann namens Lance Palmay auftaucht, der vorgibt, ihr Bruder zu sein, wird Terry stutzig. Sonderlich wie ein Bruder benimmt er sich nicht, sondern nimmt sich bei Alison Intimitäten heraus und macht Terry Avancen. An Thanksgiving bringen die beiden unangemeldet auch Denise und einen zweiten jungen Mann mit, K. C., der angeblich Kenneth Charles heißt. Allmählich fühlt sich Terry in die Enge getrieben, und Josh ist auch nicht gerade die Stütze, auf die Terry gehofft hatte.
In der Silvesternacht nehmen die Ereignisse eine tödliche Wendung.
_Mein Eindruck_
Man sollte den Originaltitel wörtlich nehmen: „Whispers and Lies“, also Geflüster und Lügen, darum geht es, nicht etwa um einen Mordfall, den es aufzuklären gilt. Folglich bestehen die ersten 200 Seiten aus genau diesem: Andeutungen, Vermutungen, zahllosen Lügen und Gerüchten. Terry, die uns ihre Geschichte aus ihrem Blickwinkel erzählt, behält dennoch die Übersicht. Die meiste Zeit bewahrt sie ein erstaunliches Stehvermögen, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie neigt nicht schnell zu Verfolgungswahn, doch wer weiß schon, was sie uns in ihrem Bericht alles verschweigt?
|Die jüngere Generation|
Ihre Auseinandersetzung mit der jüngeren Generation und deren Lügen, Vorspiegelungen und üblen Absichten führt Terry bravourös. Denn sie sie hat noch Hoffnung, die Hoffnung, dass der liebe Josh, mit dem sie zu Mittag essen durfte, dermaleinst aus dem Familienurlaub zurückkehren und sie wie ein Ritter in schimmernder Rüstung in Sicherheit bringen werde. Als sich um die Seite 300 auch diese letzte Hoffnung verflüchtigt, zerbricht etwas in Terry Painter. Was dann geschieht, muss man selbst gelesen haben, um es glauben zu können.
Denn möglicherweise – wir haben ja nur ihr Wort im Bericht – stimmt etwas grundsätzlich nicht mit Krankenschwester Terry Painter. Ein Hinweis darauf ist Terrys Gedanke, dass sie ebenso wie die meisten Frauen um die 40 für Männer und fast alle anderen Wesen unsichtbar ist. Dies erinnert mich an die Story „Die Frauen, die Männer nicht sehen“ von Alice Sheldon, einer amerikanischen SF-Autiorin.
|Schatten der Vergangenheit|
Der langsam und unmerklich Spannung aufbauende Thriller erinnert in seinem allmählichen Aufbau aus alltäglichen Begebenheiten ein ganz klein wenig an Robert Zemeckis Film „Schatten der Vergangenheit“, in der die Hauptfigur, gespielt von Michelle Pfeiffer, dem Rätsel ihres eigenen Scheiterns auf die Spur kommt.
Doch dieser Film ist ungleich spannender und subtiler erzählt als Joy Fieldings Roman. Ich war etliche Male versucht, das Buch beiseite zu legen, weil 200 Seiten lang einfach nichts passierte. Erst dann schienen ein paar merkwürdige Details Bedeutung zu erhalten, und ab Seite 300 oder 320 ging dann die Post ab. Danach aber war ich in Versuchung, das Buch nochmals von Anfang an zu lesen, denn ich musste ein paar Hinweise offenbar übersehen haben.
_Unterm Strich_
Die Autorin oder vielmehr der Bericht ihrer Hauptfigur hat mich sauber aufs Kreuz gelegt. Ohne den überraschenden Schluss verraten zu wollen / dürfen, kann ich doch sagen, dass es im Finale noch recht thrillermäßig zugeht. Wer hätte das der ruhigen, liebevollen Krankenschwester zugetraut? Der Autorin gelingt eine doppelbödige Handlung, in der dem Leser oder vielmehr der Leserin, die sich viel besser in Terrys Lage versetzen kann als ein Mann, nie ganz klar wird, was hier eigentlich gespielt wird: Geflüster und Lügen sind die fragile, flüchtige Substanz, aus der die Handlung aufgebaut wird.
Und deshalb können wir als Leser noch bis zum bitteren, äußerst tragischen Schluss glauben, dass alles, was hier geschieht, ein schrecklicher Irrtum – oder eine ausgemachte Lüge – sein muss. Doch die einzige Wahrheit, die übrig bleibt, ist viel schlimmer als alle hier ausgebreiteten Lügen. Beim nächsten Mal werdet ihr eine Krankenschwester mit anderen Augen sehen …
|Die Übersetzung|
Fast durchweg gelungen finde ich Kristian Schulzes sprachlich einwandfreie Übersetzung. Mal von irgendwelchen vereinzelten Druckfehlern abgesehen, hat mich nur eine einzige Sache verwirrt: Lance Palmay, Alisons „Bruderherz“, wird bei seinem ersten Auftritt als „Lance Palmer“ (erinnert ein wenig an „Laura Palmer“ nicht wahr?) vorgestellt. Im Rest des Buches, also ab Seite 153, heißt er durchgehend Lance Palmay, was ich für einen ziemlich unwahrscheinlichen Namen halte – weder richtig spanisch noch englisch.