Guy Gavriel Kay – Der Fluch & Der Hofnarr (Tigana 01 + 02)

Spannende Fantasy vom Tolkien-Gelehrten

Vor Jahren gab Guy Gavriel Kay bei uns mit einer Fantasy-Trilogie um die Parallelwelt Fionavar ein fulminantes Debüt – siehe meinen Bericht zu „Die Herren von Fionavar 1. Silbermantel“. Nun lässt er mit dem Doppelroman Tigana einen ebenso durchdachten wie bewegenden Fantasyroman folgen. Der Verlag hat den umfangreichen Roman „Tigana“ in die Bände „Der Fluch“ und „Der Hofnarr“ aufgeteilt. Ich bespreche die beiden Bände zusammen.

Der Autor

Der kanadische Autor Guy Gavriel Kay, geboren 1954, erlangte frühe Verdienste, indem er Christopher Tolkien half, den Nachlass J.R.R. Tolkiens so aufzubereiten, dass die riesige Vorgeschichte des „Herrn der Ringe“ in einem Band namens „The Silmarillion“ 1977 veröffentlicht werden konnte. Ein schönes Stück Arbeit, aber eigentlich nur etwas für Tolkien-Fanatiker.

Acht Jahre später begann Kay, selbst eine Fantasy-Trilogie zu veröffentlichen „The Fionavar Tapestry“: Fünf amerikanische Studenten geraten in eine Anderwelt, die zwischen einem Patriarchat und einem Matriarchat zerrissen ist. Die mythischen Gestalten, auf die sie stoßen, erweisen sich als Vorbilder für unsere eigenen Götter und Mythen, quasi die Vorlagen. (Dies erinnert an Robert Holdstocks Mythago-Gestalten in „Mythenwald“ und den nachfolgenden Romanen.)

Auch seine späteren Romane erkunden Konflikte zwischen unterschiedlichen Kulturen, ebenfalls in Welten, die von unserer leicht abweichen, allerdings in neuzeitlichen Dimensionen. Fantasy und historischer Roman vermischen sich in den Büchern „Tigana“, „Das Lied von Arbonne“, „Die Löwen von Al-Rassan“ und zuletzt „Die Reise nach Sarantium“ sowie „Die Herren des Nordens“ und „Ysobel“

Dies sind keine eskapistischen Fantasien, sondern realistische Spekulationen, in die sich fantastische Elemente ebenso mischen wie die dunkleren Aspekte des Lebens. Der Leser muss darauf gefasst sein, dass die eine oder andere seiner Lieblingsfiguren den Ausgang nicht erlebt, ähnlich wie bei George R.R. Martin.

The Fionavar Tapestry – Die Herren von Fionavar

Alle übersetzt von Bernd Müller.

1. The Summer Tree, McClelland & Stewart 1984, ISBN 0-7710-4472-0
Silbermantel, Goldmann 1989, ISBN 3-442-23939-7
2. The Wandering Fire, Arbor House 1986, ISBN 0-87795-785-1
Das wandernde Feuer, Goldmann 1989, ISBN 3-442-23940-0
3. The Darkest Road, Arbor House 1986, ISBN 0-87795-822-X
Ein Kind von Licht und Schatten, Goldmann 1989, ISBN 3-442-23941-9

The Sarantine Mosaic – Die Reise nach Sarantium

Alle übersetzt von Irene Holicki.

1. Sailing to Sarantium, Earthlight 1998, ISBN 0-684-85169-5
Das Komplott, Heyne 2001, ISBN 3-453-18806-3
Das Mosaik, Heyne 2001, ISBN 3-453-18811-X
2. Lord of Emperors, Earthlight 2000, ISBN 0-684-86156-9
Der Neunte Wagenlenker, Heyne 2002, ISBN 3-453-19627-9
Herr aller Herrscher, Heyne 2002, ISBN 3-453-19634-1

Under Heaven

1. Under Heaven, Harper Voyager (UK) 2010, ISBN 978-0-00-734202-0
Im Schatten des Himmels, Fischer Tor 2016, Übersetzer Birgit Maria Pfaffinger and Ulrike Brauns, ISBN 3-596-03570-8
2. River of Stars, Roc / New American Library 2013, ISBN 978-0-451-46497-2
Am Fluss der Sterne, Fischer Tor 2017, Übersetzerin Ulrike Brauns, ISBN 3-596-03572-4

Einzelromane

Tigana, Penguin Books 1990, ISBN 0-14-013010-1
Der Fluch, Heyne 1995, Übersetzerin Irene Holicki, ISBN 3-453-08009-2
Der Hofnarr, Heyne 1995, Übersetzerin Irene Holicki, ISBN 3-453-08010-6
A Song for Arbonne, Viking Canada 1992, ISBN 0-670-83303-7
Das Land unter den zwei Monden, Scherz 1995, Übersetzerin Monika Curths, ISBN 3-502-10362-3
Ein Lied für Arbonne, Heyne 1996, Übersetzerin Irene Holicki, ISBN 3-453-10841-8 (ungekürzte Neuauflage)
The Lions of Al-Rassan, Viking Canada 1995, ISBN 0-670-85896-X
Die Löwen von Al-Rassan, Heyne 1996, Übersetzerin Irene Holicki, ISBN 3-453-09738-6
The Last Light of the Sun, Roc / New American Library 2004, ISBN 0-451-45965-2
Die Fürsten des Nordens, Piper 2007, Übersetzerin Irene Holicki, ISBN 3-492-26668-1
Ysabel, Penguin Canada 2007, ISBN 978-0-14-301669-4
Children of Earth and Sky, Hodder & Stoughton 2016, ISBN 978-1473628137
A Brightness Long Ago, Berkley 2019, ISBN 978-1-473-69233-6

Handlung

Der Autor erzählt von der Halbinsel „Die Hand“, die zwanzig Jahre vor den erzählten Geschehnissen von zwei rivalisierenden Reichen besetzt und aufgeteilt wurde, bis auf die Provinz Senzio, die neutral bleiben konnte.

Tigana war eine Provinz im Westen, die stolzeste und schönste. Zur Erzählzeit erinnern sich nur noch ihre versprengten Bewohner an sie, denn ein Fluch des Magiers Brandin verbannte die Erinnerung an sie aus den Köpfen der Menschen. Aus Rache für die Ermordung seines Sohnes löscht Brandin jedoch nicht nur psychologisch die Erinnerung, sondern auch physisch aus, so etwa durch Zerstörung seiner Städte.

Den Massakern entkommen nur wenige, darunter der jüngste Sohn des totgeglaubten letzten Fürsten von Tigana, Alessan. Der gesamte Roman (also Band 1 und 2) handelt davon, wie es Alessans Widerstandsbewegung gelingt, Tigana zu rächen, die „Hand“ von den Besatzern zu befreien und Tigana in die Erinnerung der Menschen zurückzuholen, indem er die Aufhebung des alten Fluchs erreicht. Dass sein totgeglaubter Vater zum Hofnarren Brandins gemacht worden war, erfährt er allerdings nicht…

Mein Eindruck

Die verwickelte, von Action wie von Rückblenden gleichermaßen erfüllte Handlung wiedergeben zu wollen, würde definitiv zu weit führen, zumal sie an mindestens drei bis vier Schauplätzen zugleich stattfindet – auf einer ebenso poetisch wie lebendig geschilderten Welt, in der die Magie ebenso ihren – meist leidvollen – Platz hat wie die Religion und die Musik bzw. Dichtung. Hierin erinnert „Tigana“ an Ritterepen à la Artus-Sage oder „Orlando Furioso“.

Doch die Weltsicht von Kays Charakteren ist eigenständig: Es geht um Erlösung: für Alessan von dem Fluch Brandins und von der Unterdrückung durch fremde Besatzer; für die junge Catriana, seine Braut, um die Rechtfertigung ihres vermeintlich feigen Vaters, der vor Brandins Truppen geflohen war.

Doch so wie sich ihre alte Ablehnung in Verständnis wandelt, so kann sich auch Hass in Liebe entwickeln. Dies erfährt beispielsweise die junge Tiganerin Dianora, die an Brandins Hof als Konkubine im Serail lebt. Die Schilderung ihres Schicksals ist einer der bewegendsten Teile eines an anrührenden Momenten nicht gerade armen Buches. Durch ihr Opfer gelingt es Alessan, sein Ziel zu erreichen, obwohl sie einander nie kennenlernen. So hat auch die Ironie ihren festen Platz bei Kay.

Die Figuren

Im Gegensatz zur sogenannten Sword & Sorcery-Fantasy sind Kays Romangestalten nicht bloße Schablonen, die den Zweck haben, irgendwelche Action voranzutreiben – nein, sie sind die Handlung selbst. Indem sich die liebevoll mit aller Schärfe und Tiefe gezeichneten Charaktere entwickeln, ändern sie ihre Umwelt und bringen die Handlung zuwege.

Das Ziel der Charaktere liegt nicht selten in der Erfüllung eines tief empfundenen Bedürfnisses, sei es geistiger oder seelischer Natur. Doch genauso sind sie zu tiefer Einsicht und somit auch zu Entsagung fähig. Es ist ein Wesenszug von Kays Gestalten, dass sie alle – fast ohne Ausnahme – tiefen Schmerz und Leiden kennen. Deshalb streben sie alle nach Erlösung davon, in der Liebe, in der Schlacht, um Rache zu üben, im Freitod, um letzte persönliche Freiheit zu erlangen.

Unterm Strich

Kays Bücher zu lesen, ist keine leichte Aufgabe, aber sie ist enorm spannend und ihr Lohn für die eigene persönliche Erkenntnis ist stets befriedigend. Jedem Liebhaber guter Fantasy sei „Tigana“ wärmstens ans Herz gelegt.

Ich freue mich schon jetzt auf „Das Lied von Arbonne“, Kays nächsten Roman, den Heyne im Oktober 1996 veröffentlichte, und auf die Lektüre von „Die Löwen von Al-Rassan“. Die Besprechung gibt es hier auf BUCHWURM.

Taschenbuch: 543 + 382 Seiten
O-Titel: Tigana, 1990.
Aus dem amerikanischen Englisch v. Irene Holicki.
ISBN-13: 978-3453080102 + 978-3453080096

www.heyne.de

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