Greg Bear – Das Darwin-Virus. Zukunftsroman

Kein weiteres „Outbreak“, sondern eine Vision

Ein Massengrab in Georgien, in dem etliche Leichen schwangerer Frauen gefunden werden. Die sensationelle Entdeckung einer mumifizierten prähistorischen Familie, die verwirrende biologische Merkmale aufweist. Eine rätselhafte Epidemie, die ausschließlich werdende Mütter befällt. Und der furchtbare Verdacht, dass sich in der menschlichen Erbsubstanz etwas verbirgt, das nun zum Leben erwacht – und die Welt für immer verändern wird … (Verlagsinfo)

„Das Darwin-Virus“ stellt eine faszinierende und erschreckende Vision von der nächsten Phase der menschlichen Evolution dar. Am Ende konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen und las bis morgens um zwei Uhr weiter. Es hat sich jedoch absolut gelohnt! Dieser Roman war 1999 für den |Hugo Gernsback Award|, den Preis der amerikanischen Science-Fiction-Leser, nominiert und hätte den Preis verdient gehabt. (Das Rennen machte Vernor Vinge’s Roman „Eine Tiefe am Himmel„.)

Der Autor

Greg Bear wurde 1951 in San Diego, einer wichtigen US-Marinebasis, geboren und studierte dort englische Literatur. Unter den Top-Hard-SF-Autoren ist er der einzige, der keine naturwissenschaftliche Ausbildung hat. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute dennoch als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren.

Sein „Das Darwin-Virus“, der hierzulande zuerst in einem Wissenschaftsverlag erschien, wurde zu einem preisgekrönten Bestseller. Erst damit konnte sich Bear aus dem Science-Fiction-Ghetto herausschreiben, so dass man ihn heute ohne weiteres mit Michael Crichton vergleicht. Nur dass Bear da anfängt, wo Crichton aufhört. Dieses Jahr erscheinen bei uns „Die Darwin-Kinder“, die Fortsetzung von „Darwin-Virus“, sowie der Horrorthriller [„Stimmen“. 743

Bear hat eine ganze Reihe von Science-Fiction- und Fantasyzyklen verfasst. Die wichtigsten davon sind (HSF = Heyne Science Fiction):

– Die Thistledown-Trilogie: Äon (HSF 06/4433), Ewigkeit (HSF 06/4916); Legacy (bislang unübersetzt).
– Der Amboss-Zyklus: Die Schmiede Gottes (HSF 06/4617); Der Amboss der Sterne (HSF 06/5510).
– Der Sidhe-Zyklus: Das Lied der Macht (06/4382); Der Schlangenmagier (06/4569).

Weitere wichtige Werke: „Blutmusik“ (06/4480), „Königin der Engel“ (06/4954), „Slant“ (06/6357) und „Heimat Mars“ (06/5922). Er hat zudem Beiträge für die Buchreihen des Foundation-, Star-Trek- und Star-Wars-Universums geschrieben. Witzige Einfälle sind u. a. in der Storysammlung „Tangenten“ (Heyne Science Fiction) zu finden.

Handlung

Uralte Krankheiten, die im Erbgut der Menschen einkodiert sind, warten nur darauf, wieder geweckt zu werden und auszubrechen – das zumindest glaubt die Molekularbiologin Kaye Lang. Und jetzt, wenige Jahre in der Zukunft, sieht es so aus, als ob ihre in Fachkreisen heftig umstrittene Theorie grausame Realität geworden sei.

Denn Christopher Dicken, quasi ein „Virenjäger“ beim amerikanischen Epidemic Intelligence Service, ist einer grippeähnlichen Infektion auf der Spur, die werdende Mütter ebenso wie ihre Föten befällt und zu Fehlgeburten führt. Sie wird „Herodes‘ Grippe“ genannt, aus naheliegenden Gründen. Ein Massengrab in Georgien, in dem etliche Leichen schwangerer Frauen gefunden werden, verstärkt seine Furcht vor einer Epidemie. Eine der an der Untersuchung dieses Virus beteiligten Gesundheitsbehörden nennt den die Grippe verursachenden Virus SHEVA, nach Shiva, dem hinduistischen Gott der Zerstörung und Wiedererschaffung. Das Virus erscheint ebenso verheerend wie das HIV.

Mitchell Rafelson, ein in Fachkreisen wegen „Leichenraubs“ in Ungnade gefallener Archäologe, entdeckt zur selben Zeit auf einem österreichischen Gletscher in einer tiefen Höhle die mumifizierten Leichen einer prähistorischen Familie, die hier vor rund 15.000 Jahren umkam. Sie wurde ein Opfer der Verfolgung ihres Stammes. Die Geflohenen waren anders als der Rest des Stammes. (Das ist natürlich eine Parallele zum Fund des „Ötzi“ auf einem Gletscher zwischen Österreich und Italien.)

Mitch und Kaye bemerken eine schockierende Verbindung zwischen den zwei Entdeckungen. Das „Virus“ SHEVA, das damals die Neandertaler verändert hatte, ist erwacht und hat inzwischen nicht nur im Kaukasus seine Opfer gefordert, sondern breitet sich nun, geweckt durch Einflüsse der modernen Zivilisation, auch in den USA aus.

Ein Wettlauf mit der Zeit und gegen die Behörden beginnt. Während die Mütter millionenfach Fehlgeburten erleiden und eine ganze Generation ausfällt, versuchen die Gesundheitsbehörden das Richtige zu tun. Und das, was sie tun, sieht sehr nach Faschismus und Diktatur aus. Der Autor lässt durch die eingestreuten Assoziationen keinen Zweifel an seiner ablehnenden Haltung demgegenüber.

Christopher Dicken, Mitch und Kaye sind sich in einer Geheimunterredung über die Lage klar geworden. Doch während Dicken zweifelt und einknickt, verlieben sich Kaye und Mitch ineinander und Kaye wird schwanger – ist ihre Handlungsweise verantwortunglos? Fest steht nur: Es wird ein SHEVA-Baby werden.

Während Mitch und Kaye vor den Polizisten, die sich wie einst Herodes‘ Soldaten aufführen, wie einst Joseph und Maria fliehen, scheint der Ausbruch SHEVAs die ganze Welt zu erfassen. Hat die Menschheit noch eine Chance?

Mein Eindruck

Wieder einmal hat es einer der großen Autoren in der Science-Fiction geschafft, eine umfassende Veränderung in den Vorgaben für die menschliche Existenz zu skizzieren und bis zur endgültigen Konsequenz durchzudenken. Das Buch scheint zwar vorzeitig zu enden, und mancher Erzählstrang wird nicht weiter – oder erst in der Fortsetzung „Die Darwin-Kinder“ (2004) – verfolgt, doch das, was bereits verraten wird, ist als Idee und Vorstellung wunderbar, weitreichend und für den einen oder anderen Leser sehr positiv.

Bears Figuren sind vielschichtig, sie haben eine plausible Psychologie, ein gemeinsames Schicksal, und sie verändern sich. Ich empfand es als spannend und von größtem Interesse, ihren Werdegang zu verfolgen. Anders als in „Slant“, wo der Leser sechs Schicksale zu verfolgen hat, sind es hier nur vier – im Mittelpunkt nur Mitch und Kaye. Dadurch liest sich das Buch einfacher, weil zusammenhängender und konventioneller.

Zusatzinformationen

Mit Hilfe wirklich ausgetüftelter Erzählstrukturen gelingt es Bear, die Spannung durchgehend aufrechtzuerhalten und gegen Ende sogar noch zu steigern. Man merkt, dass Bears Verlag, Ballantine, das Feedback der Probeleser ernstgenommen und in die Endfassung aufgenommen hat. Das wäre hierzulande wohl nur schwer denk- und umsetzbar. Sogar ein „Kurzes Glossar biologischer Fachbegriffe“ findet sich, das es dem weniger geschulten Leser erleichtert, sich im wissenschaftlichen Hintergrund zurechtzufinden. Ein kurzes Kapitel über „Biologische Grundlagen“ führt das Glossar ein und unterrichtet den Leser über einfache Molekularbiologie, also über alles, was mit Vererbung und Zellen zu tun hat.

Unterm Strich

Man merkt es dem spannenden Roman an, dass sich hier Greg Bear von der Science-Fiction, seiner bisherigen Spielwiese, auf das Territorium Michael Crichtons vorwagt. Doch anders als die Plagiatoren Crichtons wirkt Bear nicht spekulativ um der reißerischen Unterhaltung willen, sondern bleibt der wissenschaftlichen Methode und ihren Vertretern in der Molekularbiologie verpflichtet. Dies ist keine weitere Version von „Outbreak“, sondern geht viel, viel weiter: Es ist eine Evolutionstheorie.

Das bedeutet für den Leser zwar weniger „Menschen, Tiere, Sensationen“, aber dafür kühnere und höhere Höhenflüge, wie es mit der Menschheit weitergehen könnte, als bei zehn Crichton-Plagiatoren zusammen. Daraus ergibt sich allerdings auch, dass der Autor hier – anders als in seinen Romanen „Stimmen“ und [„Jäger“ 487 – einen hohen Anspruch an das Begriffsvermögen des Lesers stellt. Das habe ich stellenweise durchaus als anstrengend empfunden, und zwar besonders im actionarmen Mittelteil. Wer sich mit Molekularbiologie nicht befassen will, sollte sowieso die Finger von diesem Buch lassen.

Etwas mehr Realismus, bitte!

Was ist von alldem zu halten, was Bear hier als mögliche künftige Katastrophe ausmalt? In seinem Nachwort und in der Danksagung berichtet der Autor von seinen Besuchen in entsprechenden Instituten, die für solche Epidemien zuständig sind – allen voran das bekannte Center for Disease Control in Atlanta, wo die gefährlichsten Viren und Bakterien der Welt weggeschlossen lagern.

In einschlägigen Fachmagazinen werden entsprechende Viren diskutiert, beispielsweise zu der Frage: Wie kommt es, dass sich das HI-Virus ständig anpassen kann? Welche Mechanismen helfen ihm? Wie kommt es, dass sich Taufliegen an radikale Klimaänderungen binnen weniger Generationen anpassen können? Was hilft ihnen dabei? Bear äußert die Überzeugung, das ein SHEVA-ähnlicher Ausbruch nicht innerhalb von Jahrzehnten erfolgen wird, sondern binnen Jahren. Na, Prost Mahlzeit!

Originaltitel: Darwin’s Radio, im Hardcover 1999, Taschenbuchausgabe 2000
Deutsch zuerst im Verlag Spektrum der Wissenschaft 2001
Aus dem US-Englischen übersetzt von Sebastian Vogel
ISBN-13: 9783453520585

www.heyne.de

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