Robert Charles Wilson – Darwinia. Zukunftsroman

Europa ist verschwunden, das British Empire existiert nicht mehr, es schlägt die Stunde der Neuen Welt: Der Kontinent Darwinia, der an der Stelle der Alten Welt aufgetaucht ist, lädt zur Erkundung ein. Dieser Roman vereinigt Elemente aus Büchern von Joseph Conrad, Stephen King und Arthur C. Clarke zu einer ganz eigenen, faszinierenden Mischung.

Der Autor

Robert Charles Wilson wurde 1953 in Kalifornien geboren und lebt in Toronto. Er gehört seit seinem mehrfach preisgekrönten Roman „Darwinia“ zu den bedeutendsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart. Für diesen Roman erhielt er den Philip K. Dick Award für das beste Science-Fiction-Taschenbuch. Er schrieb auch den Bio-Thriller „Bios“ (1999), der bei uns Anfang 2003 erschien.


Handlung

Der Handlungszeitraum umfasst 87 Jahre. Das ist eine ganze Menge, aber die Episoden werden auf immerhin vier Buchteile, einen Pro- und einen Epilog verteilt.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht meist Guilford Law, geboren 1898 in Boston. Im März 1912, also kurz vor dem Untergang der „Titanic“, ändert sich jedoch das Schicksal der Welt auf ebenso dramatische wie unerklärliche Weise. Denn in dieser Märznacht, nach bemerkenswerten Himmelserscheinungen, existiert das alte Europa nicht mehr. Dort wo man es zu finden gewohnt war, stoßen die ersten Handelsschiffe nurmehr auf wilde Vegetation: Das British Empire ist Vergangenheit, ein neues Afrika wartet darauf, erobert und aufgeteilt zu werden. Die Amerikaner wittern Morgenluft.

Terra incognita

Der neue Kontinent wird von der amerikanischen Sensationspresse ironisch „Darwinia“ genannt, nach dem viel geschmähten Verfechter der so genannten „Evolutionstheorie“. Auch auf diesem Kontinent finden sich Fauna und Flora, doch besonders die Tiere sind dem Menschen meist feindlich gesinnt: Ihr Biss kann tödlich sein. Dennoch beginnt die britische Exilregierung unter dem hochdekorierten General Kitchener mit der Eroberung und Besiedelung des jungfräulichen Kontinents, der sich bis nach Ägypten erstreckt.

Die Finch-Expedition

Zurück zu Guilford Law. Im Jahr 1920 ist er inzwischen verheiratet mit Caroline und hat eine geliebte Tochter, Lily. Er hat sich als Fotograf auf Expedition im US-Westen einen Namen gemacht und wurde deshalb auf die aktuelle Finch-Expedition mitgenommen. Die Amerikaner haben sich unter Leitung von Preston Finch vorgenommen, das unbekannte Innere des Kontinents zu erforschen, vor allem, indem sie den Rhein bis zum Rheinfall hochfahren und dann versuchen, wie weiland Hannibal die Alpen zu überqueren.

Doch das Unternehmen ist eine perfide List der amerikanischen Regierung und steht von Anfang an unter einem Unstern. Nachdem Guilford Law seine Familie im armseligen New London an der Themse zurückgelassen hat, fährt man mit einem widerwilligen Grenzer namens Tom Compton den Rhein hinauf. Es zeigt sich, dass Preston Finch ein recht eigenwilliger und selbstherrlicher Mann ist: Ein theologischer Wissenschaftler, der das Erscheinen Darwinias als „Wunder“ einerseits betrachtet, andererseits aber auch Spuren einer stammesgeschichtlichen Entwicklung nicht zu leugnen vermag. Sein Modell nennt er Theognosie: der Versuch, Gott in dieser merkwürdigen Erscheinung Darwinias zu erkennen. Viel Glück dabei.

Londons Untergang

Am Rheinfall endet die Schifffahrt, man sattelt auf stinkende Reit- und Lasttiere um, die „Wollschlangen“ genannt werden, nach ihrem ergiebigen Fell. An den Ufergestaden des Bodensees gerät die Expedition in den Hinterhalt von Einheimischen, später aber auch von Kopfgeldjägern. Wie Guildford zu seinem Entsetzen erfährt, hat man diese Killer auf die Expedition angesetzt, damit die US-Regierung behaupten kann, ihre Bürger seien von britisch unterstützten Partisanen angegriffen und vernichtet worden – ein Vorwand, um mit Kriegsschiffen die amerikanischen Bürger und Interessen zu schützen. [Anm. d. Lektors: Na, das kommt uns doch real vertraut vor.] Caroline, daheim in London, erlebt den Artillerieangriff der amerikanischen Kanonenboote auf New London hautnah und muss fliehen.

Die Alien-Stadt

Doch die schwere Zeit ist für Guilford noch lange nicht zu Ende. Er und seine Freunde stoßen auf eine merkwürdige Stadt, die geradewegs aus einem Buch von H.P. Lovecraft stammen könnte. Alle Gebäude sind würfelförmig und konzentrisch um einen Tempel über einem Brunnenschacht angeordnet. Als Kollege Sullivan in den Brunnen steigt, wird er von einem Wesen besessen; auch Guilford ergeht es nicht anders. Seine Wunden heilen auf wunderbare Weise, und keine Krankheit kann ihm etwas anhaben. Doch während Sullivan im Brunnen stirbt, schafft es Guilford als einziger zurück zum Rheinfall. Dort warten bereits Tom Compton und ein Schiff…

Die galaktische Perspektive

Doch weiterhin begleiten ihn diese merkwürdigen Alpträume: Er sieht sich selbst auf einem Schlachtfeld und weiß, dass er dort gestorben ist. Später, zunächst nur aus dem Augenwinkel, dann auch genauer, sieht er einen Wachsoldaten, der genau wie er in jungen Jahren aussieht. Er hatte die Tatsache seiner Träume die ganze Zeit zu verbergen und zu leugnen gesucht. Doch als ihm Tom Compton gesteht, auch er sei einmal tot gewesen und habe solche Träume, muss auch Guilford der Wahrheit ins Gesicht sehen: Er, Tom und viele andere ihresgleichen wurden auf diese Erde geschickt, um hier eine Aufgabe zu erfüllen.

Doch wer hat solche Macht, Seelen von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zu holen und auf einen Kontinent zu versetzen, der erst Jahre nach ihrer Geburt auftauchten würde? Guilford schreibt in sein Tagebuch, das er an die inzwischen nach Australien abgereiste Caroline schickt: Das intergalaktische Bewusstsein hat ein gigantisches Archiv für alles geschaffen, besonders für die Geschichte des Universums. Doch mathematische Kräfte, die wie Computerviren funktionieren, haben das Archiv infiltriert. Sie zerstören nicht nur die Speichermechanismen, sondern fälschen sogar dessen Inhalte selbst. Dabei kamen solche Konstrukte wie Darwinia zustande, mit allen negativen Folgen.

Und der Brunnenschacht in der Alien-Stadt in den Alpen ist ein entscheidender Zugang dieser negativen Kräfte (Psionen genannt), um auch das Konstrukt (den Archivinhalt) Erde unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie haben bereits Menschen übernommen, so etwa im Pentagon (das war ja klar). Sie versuchen die Erde in einer finalen Schlacht zu übernehmen: Harmageddon naht. Guilfords Stunde schlägt, ob er will oder nicht.

Mein Eindruck

Die Erzählstruktur des Buches ist ein wenig vielschichtiger, als meine knappe Zusammenfassung dies hier darzustellen vermag. Neben Guilfords Perspektive bietet uns der Autor auch den Blickwinkel Carolines und eines Besessenen in den USA an. Außerdem finden vor dem Beginn eines neuen Buchteils so genannte „Zwischenspiele“ statt. Jedes Interludium beschäftigt sich mit den Vorgängen auf galaktischer Ebene, ist also relativ abgehoben und anspruchsvoll.

Doch der Großteil des Buches bleibt sehr nah dran an den Dingen, die die einzelnen Figuren in menschlicher Hinsicht interessieren. Guilford und Caroline sind im Grunde völlig unpolitisch, und so haben sie erhebliche Mühe, die gewalttätige Ereignisse, denen sie sich ausgesetzt sehen, als politische Machenschaften anzusehen und zu bewerten. Ohne Unterlass flehen sie Gott, Jesus und sämtliche Heiligen an, alles möge gut ausgehen und ihr Töchterchen Lily überleben. In dieser Hinsicht sind beide wie jeder andere Durchschnitts-Viktorianer auch und keineswegs Bürger des 20. Jahrhunderts. Das Phänomen des Faschismus ist in dieser Epoche völlig unbekannt. Die Nationen machen Kanonenbootpolitik wie zu Kaisers Zeiten. Joseph Conrad hat diese Politik in seinem Roman „Herz der Finsternis“ ad absurdum geführt.

Während diese Aspekte das Buch zu durchaus anrührender Lektüre à la Dickens machen, verknüpft der Autor diese Ebene mit zwei anderen. Die galaktische Perspektive erinnert an Arthur C. Clarke („2001“) oder Vernor Vinge („A fire upon the deep“ und „A deepness upon the sky“, beide bei Heyne). Hier wird der Leser mit extrem großen Dimensionen und abstrakten Konzepten bekannt gemacht. Damit hatte auch ich als geübter Science-Fiction-Leser meine Mühe, aber es ist zu bewältigen. Man muss sich eben Zeit dafür nehmen, diese Ebene zu begreifen.

Die Schilderung des von einer Gottheit Besessenen Elias Vale gemahnt schon an Stephen Kings beste Geschichten, etwa an „Tommyknockers“ oder „Duddits“. Dieser Handlungsstrang wird mit der Lebensgeschichte von Guilfords Tochter Lily verknüpft, und sie erlebt als Sekretärin Agentin der „Guten“ (= die Hüter des Archivs) eine äußerst eklige Auseinandersetzung mit einem der Besessenen im Pentagon. So schließt sich der Kreis mit Guilford und seiner Tochter im Jahre 1999.

Doch da offenbar auf dem Mars eine ähnliche Alien-Invasion vonstatten geht, ist hier ein Anknüpfungspunkt für eine Fortsetzung gegeben. Nur, dass diese Fortsetzung bereits existiert: Es handelt sich natürlich um den Invasionsroman „Krieg der Welten“ von H. G. Wells. Womit sich ein weiterer Kreis schließt.

Die Übersetzung

Das Ehepaar Linckens hat jeden schwierigen Begriff in einer Fußnote kommentiert bzw. erklärt. Das ist sehr hilfreich, weil sich die Wenigsten in der Zeit um 1912 auskennen dürften. Die Textübersetzung selbst war gewiss nicht einfach, besonders bei den „Zwischenspielen“, in denen der Autor mit abstrakten Begriffen um sich wirft, die man leicht falsch verstehen kann. Dennoch ist ein durchweg verständlicher und gut eingedeutschter Text entstanden. Saubere Arbeit.

Unterm Strich

Über weite Strecken ist „Darwinia“ ein interessanter, fesselnder und sehr schön erzählter Erkundungsbericht à la Joseph Conrad. Das wäre aber zu kurz gegriffen, denn wie beschrieben, ist das Buch wesentlich mehr: ein veritabler Horrorroman, ein Science-Fiction-Roman mit galaktischer Perspektive und natürlich auch eine Familiengeschichte – die der Laws, von Guilford über Caroline bis hin zu Lily.

Aber unterm Strich ist es auch die Geschichte eines Jahrhunderts, das es nicht gegeben hat. So hätte sich die Welt auch entwickeln können, nur dass dieses 20. Jahrhundert in Darwinia wie eine Wiederholung des 19. aussieht, mit allen entsprechenden Umwelt- und Gesellschaftssünden. Der Autor sagt dies zwar nie ausdrücklich, aber kritisiert durchaus die politischen Vorgänge in der US-Regierung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Allerdings nimmt er sich die Freiheit, die schlechte Entwicklungen den Besessenen in die Schuhe zu schieben, und das ist eine unzulässige Vereinfachung: die allseits beliebte Verschwörungstheorie. Und die haben die Science-Fiction- und anderen Autoren noch nie so eng gesehen.

Wenn man so will, ist Gott also der oberste Bibliothekar für die Bücher, die er selbst geschrieben hat. Und zu diesen zählt jeder von uns, wie auch der Rest der Schöpfung. Das ist ein schönes Bild (wie schon bei J.L. Borges) und ergäbe Stoff für alle möglichen witzigen Geschichten.

Taschenbuch: 397 Seiten
ISBN-13: 9783453196599

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)