Lee Child – Make Me / Keine Kompromisse (Jack Reacher 20)

Alpträume: Tief im Deep Web und in den Weizenfeldern

Reacher steigt in einem Kaff namens Mother’s Rest aus, weil ihn der Name neugierig macht. Statt einer Erklärung stößt er auf eine ehemalige FBI-Agentin, die ihren vermissten Kollegen sucht. Aus der Stadt will man sie bald vertreiben, aber sie stoßen auf Notizen wie „200 Todesfälle“ und einen Journalisten der renommierten „L.A. Times“. Irgendein Geheimnis ist in Mother’s Rest verborgen, und jemand setzt einen Killer auf Reacher und seine neue Freundin, um dafür zu sorgen, dass sie das Geheimnis niemals lüften werden…

Der Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte und arbeitete dann viele Jahre als TV-Produzent. Heute lebt er mit Frau und Tochter im US-Bundesstaat New York. Mit seinen Jack-Reacher-Thriller hat er sich eine große Lesergemeinde erobert und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Anthony Award. Aktuelle Infos: http://www.fantasticfiction.co.uk/c/lee-child/

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. A Wanted Man (2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)
20. Make Me (2015)
21. Night School (2016)
22. The Midnight Line (2017)
23. No Middle Name (2017): Reacher-Stories

Handlung

Mother’s Rest

Die Züge halten nur zweimal am Tag in Mother’s Rest, und Reacher kommt im Frühzug. Er hat eine Art Pionierskaff erwartet, findet aber stattdessen einige riesige Getreidesilos vor, mit einem 1000-Seelen-Städtchen drumherum. Am Bahnsteig wartet eine Frau auf den Zug, und sie verwechselt Reacher mit jemandem, der die gleiche Körpergröße haben muss. Er spricht sie darauf an. Keever wird vermisst, ein Privatermittler, der wie sie früher mal fürs FBI arbeitete. Er hatte sie als Unterstützung angefordert. Sieht Keever nicht ähnlich, sie anzufordern und dann im Regen stehen zu lassen, findet Reacher. Obwohl von Regen weit und breit nichts zu sehen ist – hier gibt’s nur Weizen.

Reacher steigt im gleichen Motel ab wie Michelle Chang, muss aber den Wucherpreis herunterhandeln. Der Rezeptionist überwacht alle Gäste, aber für wen? Und was soll er melden? Bei seiner Suche nach Keever und dem Ursprung des Namens „Mother’s Rest“ wird Reacher abgewiesen und angelogen. Er will gerade mit dem Abendzug abreisen, als ein adrett gekleideter Mann aus dem Zug steigt, der lediglich eine kleine Tasche als Gepäck trägt. Auch er übernachtet im Motel. Es ist der Handschlag, mit dem einer der Lügner diesen Mann begrüßt: wie einen Übergeordneten.

Oklahoma City

Da in dem Kaff weder Infos über Keever noch Keever selbst zu finden sind – Chang will nicht zur Polizei – fahren sie nach Oklahoma City, wo Keevers Haus steht. Die Haustür ist erstaunlicherweise offen und die Alarmanlage abgeschaltet. Im ganzen Haus ist kein Fitzelchen Notizpapier zu finden, was für einen Ermittler ungewöhnlich ist. Folglich hat hier jemand bereits gründlich aufgeräumt, um keine Spuren zu hinterlassen. Durch puren Zufall stößt Reacher auf einen Zettel und zwei Buchlesezeichen, auf denen der Vermerk „200 Todesfälle“, die Zahl 4 und die Telefonnummer eines Journalisten in Los Angeles stehen. Gleich neben dessen Namen Westwood steht der Name „Maloney“.

Niemand in Mother’s Rest kennt einen Maloney, aber die Männer haben ja schon vorher gelogen. Reacher und Chang sind darauf gefasst, ein weiteres Mal auf der Straße gestoppt zu werden. Auf der Fahrt nach Oklahoma City machte Reacher die zwei Halbstarken fertig. Doch diesmal stehen Reacher und Chang 30 Männern gegenüber. Jemand muss die Bewohner gegen sie aufgehetzt haben, jemand, der im Hintergrund die Fäden zieht.

Los Angeles

Das nächste logische Ziel ist Los Angeles. Der Redakteur Westwood zeigt sich erst kooperativ, als ihm Buch- und Filmrechte winken. Er hat viele Anrufe aus dem Mittelwesten erhalten, aber nur wenige von jemandem, der den Namen Maloney benutzte. Sechs Nummern liefert seine Datenbank für Anrufe zum Namen Maloney, und seltsamerweise sind drei der Nummern Burner, also Prepaid-Handys. Eines der Handys ist noch unter einer dem Namen McCann registriert, doch die Handyvorwahl 501 lässt sich nicht orten. Ein Hinweis führt nach Chicago, zur Stadtbibliothek. Dort gibt es einen Peter McCann. Nächste Station: Chicago.

Chicago

Auf dem Flieger hat Reacher eine Erleuchtung. Er hat in L.A. das gleiche Gesicht zweimal gesehen, einmal bei einem vermeintlichen Taxifahrer, dann auf der Stadtautobahn. Beide Male verhielt sich der Mann ungewöhnlich, ja, Reacher hält es sogar für mich, dass er und seine Freundin um Haaresbreite einem Drive-by Shooting entgangen sind. Jemand überwacht und verfolgt sie – mithilfe Changs Handy. Als sie in Chicago auf ihr Handy verzichten und stattdessen lieber einen Burner benutzen, bleiben sie ungestört – bis sie nach mühevoller Suche an McCanns Wohnung auftauchen. Auch sie ist nicht abgeschlossen, aber immer noch voller Inventar: massenweise Computer.

Sie wollen die Wohnung gerade leise verlassen, als sie in die Mündung eines Schalldämpfers blicken – und in die kalten Augen des Killers, den sie bereits zweimal erspäht haben…

Mein Eindruck

Das Buch liest sich sehr einfach, was durch die kurzen Sätze erleichtert wird. Doch der Eindruck täuscht. Die Vorgeschichte ist nämlich wirklich verschlungen, ähnlich wie der Fall von Dominosteinen, von dem man zunächst nur den Schluss sieht. Oder wie ein Spiegelkabinett, das man zuerst durchschreiten muss, um an die Wirklichkeit dahinter zu gelangen.

Peter McCann, in dessen PC-bestückter Wohnung Reacher und Chang gestellt werden, ist auf der Suche nach seinem vermissten Bruder Michael gewesen. Diese Suche war jedoch nicht physisch wie bei Reacher, sondern rein elektronisch: Mit all den vielen Rechnern war er Michaels digitaler Fährte auf der Spur, die sich im hier sogenannten „Deep Web“ verloren hat. In anderen Medien und Publikationen wird das Deep Web, das nicht von Google werden kann (und auch nicht will) als „Dark Net“ bezeichnet.

Im Deep Web, behauptet der Autor, gibt es drei große Bereiche (in Wahrheit gibt es noch viel mehr): Pornografie, Waffen- und Drogenhandel sowie Selbstmörder. Zu den letzteren zählt Michael McCann, erzählt Peters Schwester Lydia Lair. Die Arztgattin weiß, dass Peter den Privatdetektiv Keever engagiert hat, um herauszufinden, wen Michael im Deep Web kennengelernt hat, der ihn schließlich nach Mother’s Rest lockte. Dieser jemand mit dem Decknamen Exit wollte Michael zu einem angenehmen und erfolgreichen „Abgang“ verhelfen. Der Dienstleister bzw. Sterbehelfer muss irgendwo in der Nähe von Mother’s Rest zu finden sein.

Reacher und Chang erinnern sich, wie der dünne Mann mit der kleinen Tasche vom Zug abgeholt wurde und dann im gleichen Motel wie Reacher und Chang übernachtete. Ein weißer Cadillac holte ihn ab. Einen tag später folgte eine attraktive Geschäftsfrau – das Geschäft mit dem Selbstmord floriert offenbar. Aber das Suizidzentrum muss demnach irgendwo in den endlosen Weizenfeldern versteckt sein. Und wie befördern diese Leute ihre Kunden ins Jenseits? Mit Schmerzmitteln für Rinder und Schweine, wie Westwood erzählt.

Aber das Geschäft mit der Sterbehilfe erklärt nach Reachers Meinung nicht, wie die hohen Summen zustande kommen, die erforderlich sind, um sich einen Killer leisten zu können, den ein Gangster aus L.A. oder Chicago verlangen würde. Neben der Sterbehilfe bietet der Service wahrscheinlich einen anderen Dienst an. Um herauszufinden, worum es sich dabei handelt, reicht es nicht, im Deep Web zu graben. Sie müssen sich direkt vor Ort begeben. Aber dort, in Mother’s Rest, werden sie bestimmt bereits erwartet. Reacher braucht jetzt einen guten Plan – und viel Geld, um ihn in die Tat umzusetzen…

Unterm Strich

Ich habe diesen Thriller in nur wenigen Tagen gelesen, ja, konnte ihn kaum noch aus der Hand legen. Wie gesagt, ist das Buch sehr leicht zu lesen, doch die Handlung ist verschlungen und steckt voller überraschender Wendungen. Am besten lässt man sich von Action-Höhepunkt zu Action-Höhepunkt geleiten. Jede dieser Szenen ist extrem sorgfältig vorbereitet, aber wegen des Protokollstils sieht man die Gefahr nicht kommen, sondern erst, wenn Reacher schon mittendrin steckt.

Abgesehen vom ultraspannenden Showdown, der lange hinausgezögert und ausgedehnt wird, war für mich die beste Szene der Überfall auf das traute Heim der Familie Lair. Wie erwähnt, soll niemand der Spur von Michael und Peter McCann folgen können oder gar den getöteten Keever finden. Lydia Lair, geborene McCann, weiß inzwischen zu viel, auf jeden Fall, nachdem sie Reacher und Chang kennengelernt hat. Drei maskierte Killer dringen in die Millionärsvilla ein und haben eindeutig mörderische Absichten. Aber die süße Emily ist eine verlockende Zugabe, die sie sich nicht entgehen lassen wollen. Diese Verzögerung weiß Reacher zu seinen Gunsten auszunutzen. Er schockt den Leser mit der Offerte, die süße Emily, gerade volljährig geworden und nur noch eine Woche von ihrer Hochzeit entfernt, auszuziehen. Währenddessen hält er eine Waffe versteckt…

Der Kontrast zwischen Idylle und Brutalität, zwischen Sein und Schein wird vom Autor immer wieder effektvoll ausgenutzt. Manchmal erzielt er dabei Ironie, manchmal Sarkasmus, am Schluss aber echte emotionale Tiefschläge. Denn was aus den hoffnungsfrohen Selbstmordkandidaten wirklich wird, ist alles andere als das, was selbst der wohlmeinende Leser ihnen wünschen würde. Aber, so lehrt der Autor, im Deep Web werden ALLE Wünsche erfüllt, solange nur der Preis hoch genug ist, egal wie pervers oder krank der Wunsch erscheint.

Die Botschaft lautet wieder mal, dass ein unerschrockener, aufrechter Mann wie Reacher – und seine ebenso wackere Helferin Michelle – nötig ist, um mit hartgesottenen Kriminellen fertigzuwerden. Dass es sie überall in den USA (und Übersee) gibt, zeigen Reachers Wanderungen durchs Hinterland – also dort, wo stramm Trump gewählt wurde – immer wieder. Kein Kaff ist zu klein für einen großen, fiesen Kriminellen, solange er das Internet bzw. dessen Deep Web zu seinen Diensten hat. Was der Name „Mother’s Rest“ wirklich bedeutet, wie Reacher immer gefragt hat, erfährt er erst ganz zum Schluss – eine weitere bittere Pointe.

Hinweis

Die direkte Fortsetzung von „Make Me“ (Reacher Nr. 20) ist nicht Nr. 21, „The Night School“, sondern Nr. 22, „The Midnight Line“ (2017).

Taschenbuch: 425 Seiten
Sprache: Englisch

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