Lee Child – 61 Stunden (Jack Reacher 14)

Ermittlungen in Eiseskälte: Reacher sucht den Zeugenkiller

Winter in South Dakota. Der Bus, in dem Jack Reacher unterwegs ist, gerät auf einer Brücke ins Schleudern und landet im Straßengraben. In der Kleinstadt Bolton schlüpft Reacher bei einem Cop unter – und erfährt, dass die Polizei eine Seniorin zu schützen versucht, die Zeugin eines Drogendeals wurde. Reachers Alarmglocken schrillen, als kurz vor der Gerichtsverhandlung eine Gefängnisrevolte ausbricht und ein stillgelegtes Army-Flugfeld vor den Toren der Stadt von Schnee und Eis befreit wird. In klirrender Kälte krempelt Reacher die Ärmel hoch … (Verlagsinfo)

Der Autor

Lee Child verdankt seine außerordentliche Karriere als Krimiautor einer eher unangenehmen Lebenssituation: 1995 wurde ihm wegen einer Umstrukturierung sein Job beim Fernsehen gekündigt. Der Produzent so beliebter Krimiserien wie „Prime Suspect“ („Heißer Verdacht“) oder „Cracker“ („Für alle Fälle Fitz“) machte aus der Not eine Tugend und versuchte sich in den USA als Schriftsteller.

Was selbst wie ein Roman klingt, entspricht in diesem Fall der Wahrheit: Bereits mit seinem ersten Thriller um den Ermittler Jack Reacher landete Child einen internationalen Bestseller. Er war zugleich Auftakt der heute mehrfach preisgekrönten „Jack-Reacher“-Serie. Child, der 1954 in Coventry in England geboren wurde, ist heute in den USA und Südfrankreich zu Hause. (Amazon.de)

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. A Wanted Man (2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)
20. Make Me (2015)
21. The Night School (2016)

Handlung

Jack Reacher, der ehemalige Militärpolizist, hat die Army schon längst verlassen und streift nun durch die Weiten Amerikas, ohne Ziel, ohne Gepäck, aber mit viel Erfahrung. Gerade befindet er sich in South Dakota auf dem Weg zum Mount Rushmore, als der Touristenbus, in dem er mitfährt, plötzlich ausweichen muss und auf einer vereisten Böschung liegenbleibt. Hier ist Endstation für die Senioren und für Reacher selbst.

Das Gefängnis

Der Polizist, der für die Stadtpolizei des nahegelegenen Bolton arbeitet, befragt alle Passagiere auffällig eingehend. Der Grund für diese Neugier wird Reacher bald erklärt: In unmittelbarer Nachbarschaft von Bolton befinden sich nicht weniger als drei Gefängnisse, dieses Landkreises, des Bundesstaates und des Bundes selbst. Als der Polizist Peterson merkt, dass Reacher sachdienliche Fragen stellt und kompetente Ansichten vertritt, erzählt ihm auch, welche Verbindung zwischen der Stadt und diesem Gefängniskomplex besteht. Bolton bekam den Bauauftrag nur, als sich der Bürgermeister verpflichtete seine Polizei im Falle eines Alarms vollzählig in den Dienst der Knastverwaltung zu stellen. „Unglaublich“, findet Reacher kopfschüttelnd.

Dieses Arrangement ist deshalb so verhängnisvoll, weil sich in Bolton die Kronzeugin Janet Salter unter ständigem Polizeischutz befindet. Sie ist bereit, wegen der Übergabe einer großen Menge Methamphetamin auszusagen – in etwa vier Wochen. Ein Alarm im Gefängnis würde den vollständigen Abzug ihres Personenschutzes bedeuten – und so kommt es auch.

Zwei Morde

Dass nicht alles zum Besten steht im eisig kalten Bolton, wird Reacher spätestens dann klar, als er den wachsweichen Polizeichef Tom Holland gegen ein Paar aggressiver Biker verteidigen muss. Holland hat zwar seine Frau durch Krebs verloren, aber das ist doch kein Grund, so nachgiebig zu sein, findet der Ex-MP. Peterson ist da schon aufgeweckter und hoffnungsvoller. Doch die beiden sind nicht in der Lage, den Mord an einem Biker und dann die Erschießung eines Anwalts zu verhindern, geschweige denn aufzuklären.

Das Loch in der Stirn des Anwalts verrät Reacher etwas Wichtiges: Der Killer, den ein Meth-Drogenbaron namens Plato geschickt hat, befindet sich bereits in der Stadt. Klar, dass die Kronzeugin sein nächstes Ziel sein muss. Reacher bietet sich als Leibwächter an, und Janet Salter, schon weit über siebzig, aber immer noch voll da, überrascht ihn mit zwei gut versteckten Polizeirevolvern.

Das Geheimnis in der Tiefe

Aber weit mehr noch als die Kronzeugin beschäftigt Reacher die Siedlung der Biker, die von einem geheimnisvollen Steinhaus ergänzt wird. Niemand scheint den Schlüssel für dieses Haus zu haben, das die Biker offenbar bewachen. Doch als die Biker das Gelände räumen und abziehen, wird klar, wozu das Gelände dient: Es ist eine zwei Meilen lange Landebahn. Reacher beschließt, seine Kontakte bei der Militärpolizei spielen zu lassen. Nach einigen mühsamen Recherchen erkennt er, dass sich unter dem Steinhaus ein riesiges Materialdepot verbirgt. Eines, das für einen Drogenbaron wie Plato aber von größtem Interesse ist…

Mein Eindruck

Das wichtigste Merkmal dieser Geschichte ist der Countdown. Das verrät j schon der Originaltitel: 61 Stunden dauert der Countdown, und der Leser ist neugierig, was am Ende dieser Frist wartet. Würde man die unterirdische Anlage, die sich unter dem Steinhaus am Ende der Landebahn befindet, für ein Raketensilo halten, wie es sie in den beiden Dakota-Staaten zu hunderten gibt, dann könnte der Countdown einem Raketenstart gelten. Was es in Wahrheit ist, darf hier nicht verraten werden.

Drogenbaron

Es könnte etwas mit der Reise des Drogenbarons Plato zu tun haben, rätselt der Leser. Der Mexikaner ist ein Viertel kleiner als der durchschnittliche Amerikaner, hat aber wesentlich mehr Grips und vor allem Skrupellosigkeit. Sein Netzwerk von Pfandleihgeschäften erstreckt sich von Chicago bis St. Louis. Die Läden dienen nicht nur seiner Bereicherung, sondern auch für sein Verteilernetz für Methamphetamin. Mit seinem immensen Reichtum kauft er sich Macht, Einfluss – und Menschen.

Wie sonst, so fragt sich Reacher, ist es zu erklären, dass im Gefängniskomplex von Bolton immer dann der Alarm losgeht, wenn der Auftragskiller Platos letzten Widerstand, die Kronzeugin Janet Salter, zu beseitigen hat. Doch wer ist dieser Killer eigentlich? Der Anwalt senkte vor seiner „Hinrichtung“ das Fenster, stellte das Radio leiser und stellte sein Automatikgetriebe auf „Parken“. Er vertraute seinem Mörder. Und wem vertrauen die Bürger am meisten? Einem Polizisten, der für Ruhe und Ordnung sorgt. Ein schlimmer Verdacht beschleicht Jack Reacher, und er bewaffnet sich bis an die Zähne. Bolton befindet sich praktisch im Belagerungszustand. Doch dieser wird von jetzt auf gleich aufgehoben, sobald im Knast die Sirene losheult. Eine absurde Situation.

Das Geheimnis unter der Landebahn

Während Reacher, der gerade aus dem Süden kommt, noch mit den ständig weiter fallen Minusgraden kämpft, beginnt er sich zunehmend für das Steinhaus am Ende der Landebahn zu interessieren. Schließlich muss es einen Grund dafür geben, dass die Motorradgangs quasi über Nacht erst die Landebahn freilegen und dann bis auf den letzten Mann, das letzte Kind, die letzte Frau wegfahren. Eine Ankunft wird erwartet, womöglich sogar die von Plato höchstpersönlich. Doch was kann ein Drogenbaron in dieser eisigen Einöde wollen? Es muss wichtig sein.

Doch als er bei der Militärpolizei anruft und bei der Luftwaffe Nachforschungen veranlasst, findet man nichts außer der Angabe „Ausschussmaterial aus dem 2. Weltkrieg“. Aber 40 Tonnen sind kein Pappenstiel, und Reacher weiß aus deiner Zeit in Deutschland, dass die Army über sogenannte Surplus-Läden Unmengen von Kleidung, Ausrüstung und Gerät zu Tiefstpreisen verscherbelte. Was also unter dem Steinhaus lagert, muss wertvoll, wichtig oder gefährlich genug gewesen sein, um es in die Mitte von Nirgendwo zu transportieren, es zu deponieren und dann den Schlüssel wegzuwerfen. Ein „Waisenhaus“ für die Zeit nach dem Atomkrieg, heißt es. Alles ist möglich, denkt Reacher, aber nicht alles ist auch wahrscheinlich.

Als Plato mit seiner privaten Boeing 737 einfliegt, kommt es im Labyrinth unter dem Steinhaus zu einem explosiven Showdown. Denn auch ein Drogenbaron hat Feinde, die ihn linken wollen…

Unterm Strich

Ein Zwerg als Feind, eisige Minusgrade, ein Schatz in Aladins Höhle und ein unsichtbarer Killer – die Zutaten, die der Autor diesmal zusammenmixt, ergeben eine unwahrscheinliche Kombination, die sich kein anderer Autor trauen würde. Hinzu kommt der Countdown, der die Stunden hinunterzählt, um noch den letzten Leser merken zu lassen, dass Reachers Zeit abläuft. Mehr Spannung geht eigentlich nicht, sollte man meinen.

Und doch fand ich mich eigentümlich unbeteiligt bei diesem Plot. Das liegt vielleicht an dem Fehlen einer Romanze, wie sie noch in „Echo Burning“ im Doppelpack anrührend geboten wurde. Reacher ist ein einsamer Kämpfer, der von den Cops vor Ort im Stich gelassen wird und der seine weibliche Unterstützung (die er immer und überall bekommt) nur über die Telefonleitung bekommt. Dass die uralte Janet Salter, eine ehemalige Oxford-Professorin, unantastbar ist, dürfte wohl klar sein. Sie stellt vielmehr eine moralische Instanz dar, deren Ansichten Reacher später vielfach in den Sinn kommen.

Der Leser kann also nur noch auf einen anständigen Showdown hoffen. Den gibt es in der Tat auf den letzten hundert Seiten in gewohnt explosiver und actionreicher Qualität. Das Besondere daran: Dies ist kein Labyrinth für einen Minotaurus, und doch ist der Riese Reacher (er misst 1,95 m) durch die niedrigen Tunnelgänge derartig im Nachteil, dass der Zwerg Plato einen großen Vorteil genießt. Wie also kann Reacher den hinterlistigen Gnom, der es locker mit Gollum aufnehmen könnte, bezwingen, ohne sich selbst ein paar Knochen zu brechen oder eine Schulter auszurenken? Das darf hier nicht verraten werden.

Ob der Held es aus dem Inferno unter der Landebahn schafft, wird in diesem Band übrigens an keiner Stelle verraten. Das macht den Band ebenfalls recht ungewöhnlich. Aufklärung erhält der Leser nur, indem er den nächsten Band kauft. Der trägt den Titel „Wespennest“ (Worth Dying For).

Taschenbuch: 448 Seiten
Originaltitel: 61 Hours (14 Reacher)
www.randomhouse.de/Verlag/Blanvalet

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