Lee Child – Tödliche Absicht (Jack Reacher 6)

Reacher und der Secret Service: Showdown in Wyoming

Jack Reacher, legendärer Spitzen-Ermittler bei der Militärpolizei, quittierte vor Jahren den Dienst. Seither ist er »abgetaucht«, führt ein rastloses Leben als Einzelgänger ohne festen Wohnsitz. Dennoch wird er eines Tages von der ehemaligen Lebensgefährtin seines verstorbenen Bruders aufgespürt. Und sie überrascht ihn mit dem Anliegen, er möge im Auftrag des Secret Service ein Attentat auf den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten vorbereiten … (Verlagsinfo)

Der Autor

Lee Child verdankt seine außerordentliche Karriere als Krimiautor einer eher unangenehmen Lebenssituation: 1995 wurde ihm wegen einer Umstrukturierung sein Job beim Fernsehen gekündigt. Der Produzent so beliebter Krimiserien wie „Prime Suspect“ („Heißer Verdacht“) oder „Cracker“ („Für alle Fälle Fitz“) machte aus der Not eine Tugend und versuchte sich als Schriftsteller. Was selbst wie ein Roman klingt, entspricht in diesem Fall der Wahrheit: Bereits mit seinem ersten Thriller um den Ermittler Jack Reacher landete Child einen internationalen Bestseller. Er war zugleich Auftakt der heute mehrfach preisgekrönten „Jack-Reacher“-Serie. Child, der 1954 in Coventry in England geboren wurde, ist heute in den USA und Südfrankreich zu Hause. (Amazon.de)

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. A Wanted Man (2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)
20. Make Me (2015)
21. ? (2016)

Handlung

Nur weil sich Jack Reacher in Atlantic City einen Wintermantel kaufen muss, finden sie ihn. Er besitzt keine Kreditkarte, keinen Pass oder Führerschein, zahlt nur bar. Doch um an Bares ranzukommen, geht er immer zu der jeweiligen lokalen Agentur der Western Union Bank, bei der er seine bestellte Summe abholt. „Sie“ erweisen sich als die ziemlich hübsche und kompetente Agentin M. E. Froelich und ihr Boss Stuyvesant (genau, wie die Zigarettenmarke).

Die beiden arbeiten für den Secret Service der Vereinigten Staaten, für den auch Jacks inzwischen verstorbener Bruder Joe (siehe Reacher Band 1) einst tätig war. M. E. Froelich – sie sagt ihm nie, wofür diese Initialen stehen – war sogar Joes Lebensgefährtin, und jetzt ist sie von den Socken, wie ähnlich Jack ihrem Verflossenen ist. Reacher ist das zunächst gleichgültig, aber er hätte ahnen sollen, dass Frauen im allgemeinen auf ihn fliegen und Froelich im besonderen auf ihn steht.

Natürlich hat Froelich ein Anliegen, mit dem sie zu Jack, den ehemaligen Militärpolizisten, kommt: Armstrong, der Vizepräsident der gerade neu gewählten Regierung erhält seit seiner Wahl Morddrohungen. Das heißt: nicht direkt, denn alle Schreiben solcher Art werden von der Personenschutzabteilung des Secret Service abgefangen. Die sagt dem Bedrohten auch nie, dass er bedroht wird. Was Jack für eine ziemlich beknackte Richtlinie hält. Stuyvesant besteht darauf: Auf diese Weise bleibe der Beschützte berechenbar, könne daher effektiver beschützt werden, und es entstünde kein politischer Flurschaden. Na schön, seufzt Reacher.

Die Botschaften sind in ein großes Rätsel gehüllt: Keiner weiß, wie sie auf den Schreibtisch Stuyvesants gelangen konnten. Die Putzkolonne kommt als einzige in Frage, aber das ist eine Sackgasse. Immerhin findet Reacher heraus, dass die Überwachungsvideos manipuliert wurden. Die Putzkolonne braucht für jedes Zimmer rund neun Minuten, nur für das fragliche 15 Minuten? Unwahrscheinlich. Der Manipulator der Videobänder ist einer vom Secret Service. Er will sich bei seiner Entdeckung sofort umbringen. Sein Motiv: Seine Frau wurde entführt und man hat ihn unter Druck gesetzt.

Aber wer ist „man“? Ist es ein Insider oder sind es Außenseiter? Es scheinen zwei Meisterschützen zu sein, denn zum Beweis ihres Könnens legen sie zwei unbescholtene Bürger um, die zufällig den gleichen Anfangsbuchstaben tragen wie Armstrong selbst: B. Sie benutzen hochspezialisierte, teure Scharfschützengewehre mit Schalldämpfer – Waffen, wie man sie nur beim Secret Service bekommt. Weil es also Insider sein könnten, muss ein außenstehender Berater mithelfen, die Gefahr abzuwenden, jemand wie Reacher. Gegen ein gutes Honorar, versteht sich. Und Spesen, insistiert Jack.

Reacher besteht darauf, eine ehemalige Standeskollegin hinzuziehen. Neagley, die heute im Personenschutz tätig ist, war zu seiner Zeit ebenfalls bei der Militärkripo. Sie ist taff im Nehmen und weiß alles über Waffen. Außerdem ist sie emotional in keinster Weise mit dem Paar Froelich-Joe Reacher involviert, was ihr eine gewisse Distanz ermöglicht, die sich Reacher nur in gewissem Maß erlauben kann, ohne Froelich zu verletzen.

Armstrong zu beschützen und zugleich gegen seine Attentäter zu ermitteln erweist sich als nervenaufreibend. Der Thanksgiving Day wird ein Alptraum werden, ahnt Reacher: Armstrong und seine Frau wollen in einer Armenküche selbst Suppe ausgeben. In Reachers Augen ist die Umgebung eine Todesfalle. Doch nicht er ist es, der an diesem verhängnisvollen Tag ins Gras beißen muss…

Mein Eindruck

Mit diesem mittlerweile vierten Band der Jack-Reacher-Reihe wird allmählich ein Handlungsmuster erkennbar. Eigentlich will Reacher, der Außenseiter, nur seine Ruhe haben – und ab und zu Gerechtigkeit stiften. Einmal Cop, immer Cop. Aber selbst der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wenn es – äh, dem Secret Service, dem FBI oder einer anderen Behörde aus der Buchstabensuppe nicht gefällt.

Einmal ins Boot eingestiegen, kommt Reacher nicht so schnell wieder heraus. Und dann sind da noch die Frauen. Regelmäßig verliebt sich eine von ihnen in den Zwei-Meter-Burschen. Und da es diesmal die Ex seines Bruders ist, dauert es nicht lang, bis sie in seinen Armen liegt. Er ist Gentleman genug, keine der Damen von der Bettkante zu stoßen, sondern entgegenzunehmen, was ihm angeboten wird.

Regelmäßig kommt es in der Mitte des Buches zu einer katastrophalen Wendung, nach der Reacher allen Grund hat, die Gegenseite persönlich anzugreifen. Es geht um Vergeltung, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung. Deshalb ist ein Showdown mit Jack Reacher beileibe kein Kaffeekränzchen, sondern im Gegenteil eine langwierige, sehr blutige und bleihaltige Angelegenheit.

Der Autor weiß sowohl den männlichen wie auch den weiblichen Leser bestens zu manipulieren. Er führt in die Irre, deckt zahllose Spuren auf, präsentiert einen Verdächtigen nach dem anderen und kommt doch schließlich auf eine ganz andere Schiene als erwartet. So läuft der Hase auch in „Without Fail“. Allerdings mit ein paar interessanten Einfällen.

Ich kann mir die Faszination des Autors für Kirchtürme nicht erklären, aber hier tauchen gleich zwei auf, und beide spielen eine zentrale Rolle für den Plot. Am ersten Kirchturm, der in Armstrongs Heimatort steht, taucht nun einer der beiden Killer am hellichten Tag auf, läuft an Reacher vorbei und gelangt in die Kirche. Diese geistige Blindheit seitens Reacher ist typisch für ihn – und macht ihn zu einem von uns, die wir meist unter der gleichen Blindheit leiden. Wir sehen eben nur, was wir schon kennen. Und was wir kennen, passt ins gewohnte Muster, selbst wenn es sich nur um Tarnung handelt.

Der zweite Einfall ist die Sache mit den manipulierten Videobändern der Überwachungskameras. Es fängt schon merkwürdig an: Überall im Secret-Service-Gebäude beäugen Kameras die Besucher außer in einem: in Stuyvesants Büro. Als ob das eine No-go-Zone wäre. Videomanipulation kennen wir ja schon seit Michael Crichtons „Nippon Connection“, kongenial umgesetzt mit Sean Connery und Wesley Snipes. Aber wo die Japaner schon alles auf Laserdisc (dem Vorläufer der DVD-R) aufnahmen, operieren die Amis vom Secret Service immer noch mit Magnetbändern. Kein Wunder, dass man sie zusammenschneiden kann…

Auch ansonsten wirkt die Technikausrüstung vorsintflutlich: Keine Handys, nur Funk, obwohl es erste Handys schon in den achtziger Jahren gab. Kaum Internet, nicht mal Google. Datenbanken von anno dunnemals und vieles mehr. Nur Waffen – die sind alle erstklassig, wie es scheint. Die hat der britische Autor bestens recherchiert, damit er sich gegenüber der Waffenlobby in den USA keine Blöße gibt. Deshalb wird hier seitenlang über Tötungswerkzeug palavert. Und die Seiten mit den minutiösen Ortsbeschreibungen habe ich einfach überschlagen. Sie sind einfach zu langweilig.

Der obligatorische Showdown findet diesmal mitten in der Pampa statt und beginnt, wen wundert’s, auf einem Kirchturm. Das alte Katz-und-Maus-Spiel wird hier ebenfalls minutiös beschrieben, aber die Zeit drängt: Armstrong naht und ist im Visier der Killer. Außerdem hat Reacher noch mit den Killern ein Hühnchen zu rupfen. Aber bei diesem Spiel kommt es darauf an zu wissen, wer die Maus ist und wer die Katze…

Unterm Strich

Wie fast jeder Jack Reacher Band ist auch dieser ein Pageturner, der sich praktisch von alleine liest. Wer seinen Verstand abschaltet und einfach nur den Beschreibungen und Dialogen folgt, wird bestens unterhalten und mit Wendungen überrascht, die er nicht erwartet hat. Wer seinen Verstand, wie ich, nicht ab schaltet, findet doch einige Stellen ziemlich langweilig und obendrein vorhersehbar. Reacher selbst zitiert einige Male den Roman „Der Schakal“ von Frederik Forsyth – ein Scharfschütze verkleidet sich, um an den französischen Staatspräsidenten herankommen zu können. Genau verläuft die Sache auch in diesem Roman.

Die Aussage des Buches besteht wohl in einer ziemlich harschen Kritik an den Methoden, Richtlinien und Denkweisen des U.S. Secret Service. Immerhin ist das ja der Personenschutz für den Präsidenten und den Vizepräsidenten, sobald sie einmal gewählt worden sind. Sollte man deren Leben wirklich in die Hände von derart betriebsblinden Stümpern legen, scheint der Autor zu fragen. Hoffentlich nicht, demonstriert die Handlung und zeigt, wie leicht diese Agenten zu überlisten sind. Sie waren es zumindest bis zum Jahr 2000 und bis 9/11.

Leserinnen dürften die zwei Damen in der Figurenriege interessant finden. M. E. Froelich und Neagley interessieren sich beide für den Helden, als suchten sie etwas, was nur er ihnen geben könnte. Froelich sucht in ihm Joe, was doch ein wenig peinlich sein könnte. Sogar ihre letzten Worte gelten Joe – eine herzzerreißende Szene. Neagley ist eher unsentimental, ein Cop durch und durch. Selbst wenn sie mit Reacher langweilige Stunden auf einem zugigen Kirchturm verbringen muss, lässt sie sich keine Schwachheiten einfallen, sondern bleibt bei der Sache. Dass sie ihn kurz vor dem Abschied mal sachte berührt, ist für sie schon das höchste der Gefühle. Sie ist also das genaue Gegenteil zu Froelich, ein reizvolles Kontrastprogramm.

Man sollte Jack Reacher mögen, um diesen Pageturner gut zu finden. Aber es ist nicht schwer, Reacher zu mögen, einen Helden mit Macken, aber ohne Fehl und Tadel – „without fail“ eben.

Hinweis

Reacher-Fan können diesen 6. Band gleich im Anschluss zum ersten Band lesen, denn es ist praktisch die direkte Fortsetzung, was die Figur von Joe Reacher anbelangt. Und wer den Plot von Band 1 noch im Kopf hat, der tut sich mit Band 6 viel leichter.

Taschenbuch: 480 Seiten
Originaltitel: Without fail, 2002
Aus dem US-Englischen von Wulf Bergner
www.randomhouse.de/Verlag/Blanvalet

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