Lee Child – UNDERGROUND (Jack Reacher 13)

New-York-Thriller: Kampf im Dschungel der Großstadt

New York City, zwei Uhr nachts. Jack Reacher sitzt in der U-Bahn. Neben ihm befinden sich noch fünf weitere Personen im Abteil. Vier davon sind harmlos. Die fünfte erregt Reachers Aufmerksamkeit. Minutenlang beobachtet er sie genau – und ist sich sicher, eine Selbstmordattentäterin vor sich zu haben. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes, und ausgerechnet Reacher selbst gerät ins Kreuzfeuer …

Der O-Titel bezieht sich auf die Redewendung „Here today, gone tomorrow“, also etwa „heute hier, morgen dort“. Was ziemlich genau Reachers Lebensstil beschreibt. Man kann die Redewendung aber auch anders verstehen: Wer heute groß und laut auftritt, kann schon morgen weg vom Fenster sein.

Der Autor

Lee Child verdankt seine außerordentliche Karriere als Krimiautor einer eher unangenehmen Lebenssituation: 1995 wurde ihm wegen einer Umstrukturierung sein Job beim Fernsehen gekündigt. Der Produzent so beliebter Krimiserien wie „Prime Suspect“ („Heißer Verdacht“) oder „Cracker“ („Für alle Fälle Fitz“) machte aus der Not eine Tugend und versuchte sich als Schriftsteller.

Was selbst wie ein Roman klingt, entspricht in diesem Fall der Wahrheit: Bereits mit seinem ersten Thriller um den Ermittler Jack Reacher landete Child einen internationalen Bestseller. Er war zugleich Auftakt der heute mehrfach preisgekrönten „Jack-Reacher“-Serie. Child, der 1954 in Coventry in England geboren wurde, ist heute in den USA und Südfrankreich zu Hause. (Amazon.de)

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. A Wanted Man (2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)


Handlung

Nachts um zwei Uhr ist selbst die U-Bahn in Manhattan fast menschenleer. Deshalb schaut sich Jack Reacher seine Mitreisenden genau an, denn er weiß, es kann immer was passieren. Es sind fünf: Drei gehören zur Gemeinschaft der Putzkolonnen, der vierte ist ein eher militärisch aussehender Typ (mit denen sich der Ex-Militärpolizist Reacher bestens auskennt), doch Nummer 5 ist eine Selbstmordattentäterin.

Zumindest weist die etwa 40 Jahre alte Frau alle elf Anzeichen der Liste auf, die für weibliche Selbstmordattentäter angefertigt und weltweit verteilt wurde. Sie zeigt alle Anzeichen von Angst und Panik, betet in einem fort, ist ganz in Schwarz gekleidet, trägt im Hochsommer einen schwarzen Wintermantel (unangemessene Kleidung), hat die Hände in einer Tasche stecken. Befindet sich darin ihre Bombe, ihr Zünder, ihr Handy?

Reacher mustert die zehn Meter entfernt sitzende Frau. Sie wäre die ideale Selbstmordattentäterin, gäbe es nicht einen gravierenden Faktor, der sie disqualifiziert: richtiger Ort, falsche Zeit. Morgens um acht könnte sie die maximale Zahl an Opfern mit in den Tod reißen, aber nachts um zwei ist kaum ein Mensch unterwegs. Was also macht sie hier? Und wohin will sie überhaupt?

Tödlicher Zwischenfall

Bevor er lange spekuliert, fragt er sie lieber einfach. Als er sich ihr auf zwei, drei Meter genähert hat, zieht sie einen Revolver. Sie zielt auf ihn, und er erstarrt. Er bietet seine Hilfe an, doch sie ist offenbar derartig in Panik, dass sie nicht zuhört. Als der Zug in die nächste Station einzurollen beginnt, richtet sie die schwere Waffe gegen ihren Kopf und drückt ab. Reacher ist bestürzt und erschüttert.

Der Zugführer holt die Polizei aus dem nächstgelegenen Revier. Es ist der 13th Precinct, und Sgt. Theresa Lee befragt Reacher als erste. Er soll auch über die anderen vier Passagiere angaben machen. Als er einwendet: „Da waren fünf“, widerspricht sie ihm: „Da waren nur vier.“ Was merkwürdig ist, denn die eingetroffenen Cops hatten alle Passagiere unter größter Aufmerksamkeit hinaus eskortiert. Wo ist der militärisch aussehende Typ abgeblieben?

Wer ist Lila Hoth?

Dem FBI sagt Reacher nichts anderes als Lee. Es dauert zwei Stunden bis zum nächsten Verhör auf der Wache. Das sagt Reacher einiges: Die nächsten Typen kommen aus der Hauptstadt und sind demzufolge nicht vom FBI, denn dieses hat in jeder Stadt eine Filiale. Als die Pappnasen mit ihren dämlichen Sprüchen, er solle die ganze Sache vergessen, fertig sind, schickt er sie nach Hause. Aber sie fragten nach einer gewissen Lila Hoth, von der er noch nie gehört hat, und nach einer kanadischen Telefonnummer, die mit 600 beginnt. Reacher ahnt, dass dies keine Telefonnummer sein kann, sondern etwas völlig anderes ist.

Theresa Lee berichtet, Susan Mark, die Selbstmörderin, habe in der Personalverwaltung des Pentagons gearbeitet. Was sie in New York City wollte, wisse man nicht. Wenige Stunden später wird ihr Wagen in der Nähe des Holland Tunnels gefunden. Auf der Wache taucht ein älterer Mann auf, der sich als Jacob Mark, Susan Marks Bruder, erweist. Susan hat einen Sohn in einem kalifornischen Football-Team. Diesen Sohn, Peter Molina, will Jake als vermisst melden. Die Cops haben erfahren, dass Peter mit einer gut aussehenden Frau abgetaucht ist. Reacher sieht ganz klar, dass dieser Sohn ein Druckmittel ist, um Susan Mark zu ihrer letzten Fahrt zu nötigen. Etwas ging schrecklich schief. Was hat die Frau getan? Die Feds wollen wissen, ob sie Reacher etwas gegeben hat, einen USB-Stick vielleicht.

Wer ist John Sansom?

Als er wieder auf die Straße tritt, nähern sich ihm vier Männer in mittelguten Anzügen. Auch sie fragen nach Lila Hoth. Ein weiterer Name fällt: der des Abgeordneten John Sansom aus North Carolina, der sich derzeit um einen Senatorenposten bewirbt und mitten im Wahlkampf steht. Da Reacher nichts für diese Männer tun kann, lässt er auch sie stehen und recherchiert über Sansom. Der hat von der Army vier Medaillen für seinen Militärdienst erhalten, aber wofür, steht nicht in seiner Biografie. Diese Lücke lässt nur einen Schluss zu: Sansom war Angehöriger der Delta Force, der supergeheimen Eliteeinheit der Army, die nur auf Spezialeinsätze geschickt wird.

Irgendwie hängen die Militärs, Sansom und Nr. 5, Lila Hoth und Susan Mark miteinander zusammen. Reacher ist zu persönlich betroffen, um die Sache auf sich beruhen lassen zu können. Was, wenn sein Eingreifen erst Susan Marks Selbstmord ausgelöst hat? Er muss ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen, um diese Schuld abzutragen.

Doch niemand legt sich mit der mysteriösen Delta Force an, ohne schwerste Konsequenzen gewärtigen zu müssen…

Mein Eindruck

Der Schlüssel zu diesem Rätsel-Krimi scheint die Frau zu sein, die sich „Lila Hoth“ nennt. Doch dieses bildschöne Weib, das Reacher in einem schicken Hotel kennenlernt, erweist sich auch nur als vorgeschobener Posten einer alten Frau, die sich Swetlana Hoth nennt. Sie will eine Politkommissarin bei den sowjetischen Truppen in Afghanistan (1980-1983) gewesen sein. Dort hätten ihr Mann und ihr Bruder als Scharfschützenteam gegen die Mujaheddin gekämpft – und gegen die Amerikaner.

Das kann unmöglich sein, widerspricht Reacher, denn es gab keine US-Truppen in Afghanistan, um die Russen zu bekämpfen. Das hätte nämlich den Dritten Weltkrieg ausgelöst. Wie man heute in dem Spielfilm „Charlie Wilsons Krieg“ nachschauen kann, lieferten die Amis den Mudschaheddin Anti-Hubschrauber-Raketen der Marke „Stinger“. Und zu den so Beschenkten gehörte auch ein gewisser Usama Bin Laden, seines Zeichens der Sohn eines saudischen Milliardärs.

Was der Film verschweigt und was wir nun von Lee Child erfahren: Die Sowjets hatten angeblich das beste Scharfschützengewehr der Welt. Dieses VAL Silent Sniper genannte Gewehr verschoss Neun-Millimeter-Geschosse auf 400 Meter genau und zwar so leise wie ein Schatten. Dafür, was es an Opfern forderte, rächten sich die Afghanen – besonders die Witwen – an den Gefangenen, indem sie diese bis zu 18 Stunden lang folterten.

Swetlanas Vorwurf lautet nun: Die Delta Force, der John Sansom angehört habe, nahm ihren Mann und ihren Bruder gefangen, nahm ihnen ihr Wundergewehr ab und – statt sie gnädig zu erschießen (was natürlich streng verboten war) – übergab sie den Mudschaheddin. Dort erwartete sie ein langer, qualvoller Todeskampf. Diese fehlerhafte Behandlung wirft Swetlana den Amis vor.

Der Haken dabei ist natürlich, dass all diese Infos Top Secret sind. Reacher geht damit aber trotzdem zu Sansom, um sie bestätigen zu lassen – und sticht damit in ein Wespennest…

Wachsende Spannung

Doch wie könnte es bei Child anders sein: Alles verhält sich ganz anders. Lila und Swetlana Hoth sind keineswegs aus der Ukraine, sondern aus Afghanistan. Sie und ihre 20 „Mitarbeiter“ arbeiten für Al-Kaida und haben nur eine Mission: Den USB-Stick zu beschaffen, den Susan Mark für sie aus dem Pentagon geschmuggelt hat.

Der Grund, warum Susan Mark in Panik war, als sie in der U-Bahn begegnete, war wohl die Information, dass Lila Hoth ihren Sohn gefangen genommen hatte und nun zu foltern begann. Indem sie sich erschoss, nahm sie den letzten Ausweg aus einer ausweglosen Situation. Lila Hoth hätte sie ebenso wenig am Leben gelassen wie Susans Sohn.

Das Kommando

Sobald Reacher erst einmal die anfänglichen Ausmaße der Bedrohung durch das Al-Kaida-Kommando erkennt, läuft er nicht etwa hilfesuchend zu FBI, Polizei, Pentagon oder gar Delta Force (die natürlichen eigenen Militärischen Armee-Geheimdienst hat). Nein, er versucht sich mit seinen beiden Verbündeten Theresa Lee und Jacob Mark zusammenzutun. Leider tappt er in eine Falle…

Der finale Kampf findet im Dschungel der großen Stadt New York City statt. Immer wieder ruft uns der Autor das Ausmaß dieser Stadt ins Gedächtnis: acht Millionen Einwohner, soundsoviele Quadratkilometer, unzählige Kilometer von U-Bahnenstrecken. Ein anderer Kämpfer als Reacher wäre von der Aufgabe, die berühmte Nadel in diesem gigantischen Heuhaufen zu finden, abgeschreckt. Doch Reacher ist das Aufspüren von Deserteuren und anderen Missetätern gewöhnt. Er teilt die Stadt in Viertel und dann in Straßenblocks auf und sucht die wahrscheinlichsten Verstecke. Zwischen diesen bewegt er sich nur nachts und bevorzugt per U-Bahn. (Daher lautet der deutsche Buchtitel völlig zurecht „Underground“ – im doppelten Sinne.)

Das Kommando der Al-Kaida ist, ähnlich wie Mudschaheddin in den Bergen, ständig in Bewegung, um so einen gewissen Grad von Unsichtbarkeit zu erzielen. Nicht unsichtbar genug für einen Mann wie Reacher! Das Buch gipfelt in einem fulminanten Showdown, der sich über mindestens hundert Seiten hinzieht. Seine Gegner: 20 Männer und zwei Frauen. Jede(r) davon ist ein ausgebildeter Killer – natürlich auch die beiden Frauen.

Downside

Die Downside, also die Kehrseite der Medaille, dieser heißen Story ist der Einblick, den uns der Autor in das Geflecht und die Aktivitäten der diversen Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden gewährt. Diese können nach dem Patriot Act von ca. 2001 nahezu schalten und walten, wie es ihnen beliebt, ohne sich selbst identifizieren zu müssen.

„Früher hatte ich noch Rechte“, murrt Reacher. Heute bekommt er ohne gefragt zu werden einen Betäubungspfeil verpasst und landet in einem Käfig irgendwo in einem New Yorker Keller. Aus Bürgern sind Opfern geworden. Und die Täter sind anonyme Agenten einer Herrschaftsschicht, eines Regimes, das sich von allen Seiten bedroht sieht. Auch von innen.

Unterm Strich

Ich habe den Thriller in wenigen Tagen gelesen, und während des langen und minutiös geschilderten Showdowns konnte ich in nicht mehr aus der Hand legen. Die Wendungen nahmen kein Ende und so blieb die Handlung bis zum Schluss spannend. Der Erzählstil ist, wie stets bei Child, sehr einfach. Die Kapitel haben nur wenige Seiten, die Sätze sind häufig kurz, es sei denn, sie sollen gedrechselt wirken. So etwas nennen die Amis einen „Pageturner“.

Der Underground, den Reacher so ausgiebig als Bewegungsmöglichkeit nutzt, ist eine Metapher für alle die verborgenen Aktivitäten, die das Leben des freien Bürgers heute wie eine fragile Fassade wirken lassen. Auf der einen Seite ist ein Al-Kaida-Kommando in New York eingedrungen, auf der anderen Seite suchen mehrere Geheimdienste der Regierung fieberhaft nicht nur nach diesem Kommando, sondern auch nach dem von Susan Mark entwendeten USB-Stick. Dies ist ein klassischer MacGuffin, wie in Hitchcock definierte: Ein Objekt, um das sich alle reißen, das aber selbst völlig unschuldig ist und wenig bis nichts zur Handlung beiträgt.

Zwischen diesen Fronten versucht Reacher, nicht unter die Räder zu kommen. Es gelingt ihm nicht immer. Er landet selbst einmal in besagtem Underground, doch der erweist sich als sehr ungastlicher Käfig in einem uralten Keller. Es dauerte nur wenige Stunden, bis sich unser Held aus seiner misslichen Lage befreit hat. Danach ist klar, dass er nur den USB-Stick als Köder anbieten muss, um in Ruhe gelassen zu werde und Unterstützung zu bekommen.

So sieht also das Amerika von heute aus. Ein Glück, dass es – angeblich – noch Leute wie Reacher gibt, die nicht mal ein Handy besitzen und kaum einen Computer bedienen können. Mit traditionellen Methoden und einem einfachen Messer gelingt es ihm (wieder einmal), die freie Welt zu retten, pardon: die angeblich freie Welt. Das ist zwar für den Reacher-Fan vorauszusehen, allerdings so unterhaltsam und spannend präsentiert, dass man dem Autor seine vielen Tricks verzeiht.

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)

Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
Info: Gone Tomorrow, 2009
Aus dem US-Englischen von Wulf Bergner
ISBN-13: 978-3764503680

www.randomhouse.de/blanvalet