Lee Child – Die Abschussliste (Jack Reacher 8)

Der tote General und seine Verschwörer

Silvester 1989/90: Statt Neujahrswünschen erhält Jack Reacher die Meldung, dass ein ranghoher General tot aufgefunden wurde. Bei seinen Ermittlungen wird Reacher bald klar: Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich die Machtkämpfe verlagert – nun finden sie innerhalb der Army statt. Und er nähert sich dem Machtzentrum … (Verlagsinfo)

Der Autor

Lee Child verdankt seine außerordentliche Karriere als Krimiautor einer eher unangenehmen Lebenssituation: 1995 wurde ihm wegen einer Umstrukturierung sein Job beim Fernsehen gekündigt. Der Produzent so beliebter Krimiserien wie „Prime Suspect“ („Heißer Verdacht“) oder „Cracker“ („Für alle Fälle Fitz“) machte aus der Not eine Tugend und versuchte sich in den USA als Schriftsteller.

Was selbst wie ein Roman klingt, entspricht in diesem Fall der Wahrheit: Bereits mit seinem ersten Thriller um den Ermittler Jack Reacher landete Child einen internationalen Bestseller. Er war zugleich Auftakt der heute mehrfach preisgekrönten „Jack-Reacher“-Serie. Child, der 1954 in Coventry in England geboren wurde, ist heute in den USA und Südfrankreich zu Hause. (Amazon.de)

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. A Wanted Man (2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)
20. Make Me (2015)
21. The Night School (2016)

Handlung

Man schreibt das Jahr 1990, und in Berlin fällt gerade die Mauer: eine Zeitenwende. Militärpolizist Jack Reacher ist kurzfristig aus Panama nach Fort Bird in North Carolina beordert worden. Den Grund für so eine Verlegung teilt einem die Army nie mit, aber nun ist Leon Garber sein Vorgesetzter. Das erfährt Reacher aber erst, als Garber ihn kurz nach Silvester in der Neujahrsnacht anruft und ihn losschickt, um sich um den Tod eines Zwei-Sterne-Generals zu kümmern.

Die Leiche liegt nackt und auf dem Bauch in einem Zimmer eines schäbigen Stundenhotels, wo sich die Nutten vom Truck Stop gegeben mit ihren Freier vergnügen. Herzinfarkt, kein Zweifel. Was hat also ein Zwei-Sterne-General mitten im Hinterland zu suchen, 300 km entfernt von Washington, D.C.? Das ist nur eine der Fragen, die sich Reacher zu stellen beginnt. Die nächste lautet: Mit wem war der General, der extra aus Deutschland eingeflogen war, in seinen letzten Momenten zusammen? Das Kondom an seinem Schwanz verrät, womit er sich gerade beschäftigte, als ihn der Schnitter besuchte, um ihm den Lebensfaden durchzuschneiden.

Ein paar Antworten findet Reacher im Truck Stop auf der anderen Straßenseite. Der Klub dort war zu Silvester natürlich brechend voll, und jeder der Besucher, der Tänzer sowie jede der Nutten und Striptänzerinnen hatte ein Alibi. Als Reacher ein zweites Mal wiederkommt, legt er sich mit dem Besitzer des Ladens an und in dem folgenden Kampf bricht er ihm das Knie. Die prostituierte, die Reacher nach dem General hat fragen lassen, hat nichts herausgefunden, aber nun zwei blaue Veilchen im Gesicht. Sie verflucht den Militär-Cop.

In Fort Bird hilft ihm Lt. Summer, eine farbige Polizistin aus Alabama. Sie fährt ihn auch zu General Kramers Haus in Green Valley, Virginia. Dort finden sie eine gespenstische Szene vor. Die Hintertür ist aufgebrochen worden, und auf dem Boden der Küche liegt eine alte Frau mit einer Schrotflinte in der Hand. Die Generalswitwe muss einen Eindringling gehört haben, war aber zu langsam. Der Blutfleck unter ihrem eingeschlagenen Kopf ist schon seit Stunden kalt. Reacher ruft die lokalen Cops.

Ungereimtheiten

Über Garber findet er heraus, dass General Kramer nicht alleine aus Deutschland zurückkam, um zu einer Konferenz in Kalifornien weiterzufliegen: zwei weitere Offiziere waren bei ihm. Vassal und Coomer tragen jeweils Aktentaschen, Kramers Aktentasche aber fehlte bei seinen Sachen. Keiner von den Dreien hat eine Agenda für die Konferenz, was Reacher sehr untypisch für die Army findet. Das Duo will aber nichts von einer Agenda wissen – eine glatte Lüge. Was ihr Boss 300 Meilen von Washington entfernt wollte, können oder wollen sie auch nicht verraten.

Summer findet aber heraus, dass Kramers Sexpartner mit einem Militärwagen, einem schweren Humvee, unterwegs war – das unverwechselbare Geräusch wurde von dem Rezeptionisten wiedererkannt. Reacher lässt Summer alle Logs prüfen und stößt auf den Namen der Psychologin Andrea Norton, die in Fort Bird bei der Delta Force psychologische Kriegsführung durch Untergrabung des männlichen Selbstbewusstseins unterrichtet.

Unerlaubte Entfernung

In diesem Moment ruft ihn sein Bruder Joe aus dem Schatzamt in Washington an: „Mutter liegt im Sterben.“ Mutter lebt in Paris. Paris, Frankreich, nicht Paris, Texas/Kentucky/Tennessee. Nachdem ihm Joe ein paar gute Ratschläge hinsichtlich seines aktuellen Falles gegeben und dien Ablauf des neuen Jahres vorausgesagt hat, treffen sie ihre Mutter. Mom ist erst 60, sieht aber aus wie hundert, findet Jack. Sie hat Krebs im Endstadium und will sich von ihren Söhnen stilecht verabschieden. Das tun sie alle zusammen bei einem feinen Abendessen in einem traditionsreichen Pariser Restaurant. Nur dass Mom nichts ist.

Rückschlag

Kaum zurück in Washington, wird Jack sofort, nachdem er sich von Joe verabschiedet hat, durch die MP verhaftet. Die Cops bringen ihn in Leon Garbers Büro, nur dass Garber nach Korea verlegt und durch einen Sesselfurzer aus der Hauptstadt ersetzt worden ist. Willard klagt Reacher wegen unerlaubter Entfernung von der Truppe an, ohne ihn jedoch zu bestrafen, was an sich bereits seltsam ist. Zudem vergattert er ihn dazu, seine Finger von dem aktuellen Fall des toten Generals zu lassen, was noch seltsamer ist.

Auf dem Antrag um Reachers Überstellung aus Panama steht Garbers Unterschrift. Aber warum wusste Garber dann in der Silvesternacht nicht, mit wem er es im Büro der Microprozessor zu tun hatte? Die Unterschrift wurde gefälscht, wird Reacher klar. Summer will wissen, welches Spiel hier gespielt wird, aber auch Joe hat keine Antwort.

Die nächste Leiche, zu der man Reacher ruft, findet sich auf dem riesigen Gelände des Stützpunkts, mitten im Wald. Auch diesem Mann wurde der Schädel eingeschlagen, doch was man danach mit ihm machte, dürfte die Psychologin Andrea Norton sehr interessieren…

Mein Eindruck

Flüssig zu lesen

Das Buch liest sich unglaublich flüssig, weshalb es schier unmöglich ist, das Buch beiseite zu legen. Sich die Szenen vorzustellen ist sehr einfach, denn der Autor, der 20 Jahre lang britische Krimisendungen fürs TV produzierte, beschreibt jedes wichtige (und unscheinbare) Detail genau und mit treffenden Worten. Auffallend sind die genauen Beschreibungen von Kleidung und Innenausstattungen. So etwas findet man selten in US-Krimis.

Außerdem benutzt Child gerne kurze Sätze. Der Leser braucht sich also nicht den Kopf über syntaktische Konstruktionen zu zerbrechen, sondern kann einfach und direkt jeden Satz verstehen – auch auf Englisch. Ich habe das Buch in zwei Tagen ausgelesen. Die Kürze bezieht sich allerdings nicht auf die Länge der Kapitel. Anders als bei James Patterson sind die Kapitel nicht nur drei bis vier Seiten lang, sondern mitunter 20.

Ein Berg von Lügen

Anspruchsvolle Leser sollten sich von der Einfachheit und Ausführlichkeit nicht täuschen lassen. Der Autor versucht sie an der Nase herumzuführen. Der Mörder versucht das Gleiche mit Reacher, und Reacher das Gleiche mit seinen Gegnern, etwa mit Willard. Doch es ist wie bei einer Schnitzeljagd: Solange Reacher sich Willard entzieht und Lt. Summer an seiner Seite ist, hat er einen Vorsprung, was Informationen und Aktionen angeht.

Garbers Spur und die Suche nach der verschwundenen Konferenz-Agenda führen Reacher und Summer erst nach Frankfurt/Main, wo General Garber als ein hoher Befehlshaber der Panzereinheiten (XII. Korps) stationiert war. Hier macht der Aufmarsch der tonnenschweren Abrams-Panzer großen Eindruck auf Reacher. Doch der Gesuchte, Garbers Fahrer, ist schon wieder weg, wahrscheinlich von Willards vorgewarnt. Inzwischen gelangt Reacher zu der Erkenntnis, dass er es mit einer ausgewachsenen Verschwörung innerhalb der Armee zu tun hat. Er ahnt es nicht, aber es gibt bereits das erste Opfer auch in Deutschland. Die Spur führt nach Fort Irwin in Kalifornien, wo ein Truppenübungsgelände für Abrams-Panzer den Schauplatz für den Showdown liefert.

Militärstrategie

Die Mauer ist gefallen, als nächstes steht die Vereinigung der beiden Deutschlands auf dem Programm, mit Genehmigung der Alliierten. Der Kalte Krieg ist vorüber. Natürlich sagt es der Autor schlauerweise nie explizit, aber es geht ihm unter anderem um die künftige Rolle der Panzerdivisionen, die in Europa als Bollwerk gegen den Ostblock stationiert sind, besonders an der berüchtigten „Fulda Gap“, einer ebenen Lücke zwischen den Mittelgebirgen. Hier haben die Amis ihre Abrams-Panzer unter Gen. Garber aufgestellt, um die Sowjetarmeen aufzuhalten, sollten sie durch diese Lücke vorstoßen.

Es mehren sich Anfang 1990 bereits die Stimmen, die diese Panzerarmeen für überflüssig halten. Da die Russen unter Gorbatschow und Jelzin selbst mehr mit sich selbst beschäftigt sind, braucht keiner mehr eine Panzerarmee, sondern vielmehr schnelle Eingreiftruppen. Gen. Garber hat, als Reacher ihn fand, ein Buch über die Panzerschlacht von Kursk gelesen, die im Juli 1943 zwischen Deutschen und Russen stattfand.

Schon damals (so erläutert nun der Autor) erwiesen sich die schwer gepanzerten „Tiger“ und „Panther“ der deutschen Wehrmacht als den schnellen, leichten T-34 der Russen unterlegen. Die T-34 stießen einfach unablässig gegen die Stellungen der Wehrmacht und ließen sie links und rechts liegen. Kursk war die größte Panzerschlacht, die die Welt je gesehen hatte – und die letzte. Welche Perspektive sah Garber also noch für seine Panzertruppe? Reacher beginnt zu ahnen, was Garber und seine Verschwörer vorhatten…

Die Rache der Panzer

Ich habe in den sechziger Jahren diese rollenden Festungen selbst an mir vorüberdonnern gesehen. In Bayern brauchte man damals nicht weit zu fahren, um auf einen Stützpunkt der Amis zu stoßen, und rund um Nürnberg gab es davon viele – manche existieren bis heute. Wenn so ein Tank auf seinen Ketten auf einen zurollt, bebt nicht nur die Erde, sondern beginnen auch die Zähne zu klappern und die Ohren zu klingen.

Genauso ergeht es Reacher auf der Frankfurter Militärbasis. Dutzende Tonnen Stahl rollen an ihm vorüber. Es ist von folgerichtiger Ironie, dass er ihrem Granatenbeschuss während des irren Showdowns in Fort Irwin persönlich ausgesetzt ist. Er kann die Granaten über seinen Kopf hinwegheulen hören und ihren Einschlag in nächster Nähe beobachten. Bloß weg hier! Eine grandiose Szene!

Der menschliche Faktor

Dies ist der Band in der Reacher-Reihe, in der die beiden Reacher-brüder ihre französische Mutter verlieren. Sie erliegt einem Krebsleiden. In mehreren Etappen beschreibt der Autor, durch Reachers Augen schauend, den langen Abschiedsprozess mit Würde und Mitgefühl. Die beiden Erben erleben eine ziemliche Überraschung, als ihn ein alter Mann, der einen Résistance-Orden trägt, ein Geschenk macht: einen Zeitungssauschnitt und ein Buch über den französischen Widerstand in Paris unter der deutschen Besatzung. Mama, so die verblüffende Erkenntnis, war eine der besten Widerstandshelferinnen, die dafür sorgte, dass abgeschossene und sonstige verfolgten Soldaten der Alliierten es durch Paris schafften, ohne von den Besatzern entdeckt zu werden.

Was bedeutet dies in Bezug auf den Rest des Buches, könnte sich der Leser fragen. Es geht einfach um die Definition von Heldentum: Mama Reacher riskierte ihr Leben für die alliierten Soldaten, doch wofür riskieren es Karrieresoldaten wie Garber und seine Mitverschwörer? Nein, dies sind keine Helden, ganz im Gegenteil: Garber wendet sich gegen die Opposition in den eigenen Reihen – und beginnt, sie aktiv aus dem Weg zu räumen, nur um seine völlig überholte Position zu halten. Die Parallele zur Position der Deutschen in der Schlacht von Kursk ist unübersehbar.

Unterm Strich

Als Thriller ist „Die Abschussliste“ („The Enemy“) gut gelungen. Das Buch ist äußerst spannend, steckt voller Rätsel und ist eine rasante Schnitzeljagd, die nur von den Paris-Szenen, die als Verschnaufpausen dienen, unterbrochen wird. Unerwartete Wendungen halten bis zum Schluss an, so dass der Leser nichts vorhersagen kann. Lt. Summer tut, was Reacher, ihr Vorgesetzter, ihr sagt – und noch einiges mehr. So schafft sie es ohne weiteres auch in sein Bett. Das kann man jetzt für sexistisch oder chauvinistisch halten, aber in jedem Fall ist es sehr republikanisch-amerikanisch.

Es gibt indes auch eine knifflige und ernsthafte Erörterung der Frage, was nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Deutschlands sowie dem Untergang der Sowjetunion mit der amerikanischen Militärpräsenz passieren wird. Diese Zeitenwende kann nicht ohne Folgen für die Streitkräfte bleiben, die die Amis in Deutschland stationiert haben. Die Verschwörung des Panzergenerals Garber richtet sich offenbar gegen Überlegungen auf der Ebene des Generalstabchefs (der persönlich auftritt) und des Verteidigungsministers (der erwähnt wird), die Panzerarmee zugunsten von schnellen, flexiblen Eingreiftruppen abzulösen. Das Konzept solcher „Strike Forces“ ist bei den Flugzeugträgern schon längst umgesetzt, warum also nicht auch zu Lande?

Der Thriller ist ein echter Reacher-Band, entführt den Leser aber aus der Vagabunden-Phase des Helden in seine Dienstzeit bei der Army. Innerhalb der Reihe ist der Band also recht bedeutsam. Wer diesen Faden aufgreifen möchte, sollte „Night School“ lesen: Reacher ist zurück in Deutschland und zwar anno 2001, vor einer weiteren Zeitenwende: dem elften September.

Lee Child wird zwar noch eine Weile brauchen, bis er in die literarische Klasse von John Le Carré oder Fredrik Skagen aufgestiegen ist, doch wer will das schon? Das würde ja Langeweile bedeuten. Child kann es locker mit Michael Connelly („Schwarze Engel“, „Dunkler als die Nacht“) und Dennis Lehane („Regenzauber“) aufnehmen, bietet aber vielmehr Action und Erotik.

Taschenbuch: 480 Seiten
Info: The Enemy, 2004
Deutsch von Wulf Bergner
www.randomhouse.de/Verlag/Blanvalet

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