Valerio Evangelisti – Das Geheimnis des Inquisitors (Inquisitor-Zyklus Band 4)

Abenteuer eines Inquisitors

Auf Bitte des Königs von Aragón nimmt Großinquisitor Nikolas Eymerich an der Invasion Sardiniens teil. Dort wird er mit den fürchterlichsten Seuchen konfrontiert, aber auch mit wundersamen Heilungen, die ihren Ursprung im blauen Licht der Neptungrotte haben. Als der Inquisitor in dieser Grotte Augenzeuge vorchristlicher Rituale wird, ist er überzeugt, dass es sich bei den Wunderheilungen um Teufelswerk handelt. Es gelingt ihm, das unterirdische Höhlensystem zu fluten, doch er weiß, dass die Mächte der Finsternis nicht für immer gebannt sind … (Verlagsinfo)

Fans von „Der Name der Rose“ dürften diesen Roman ebenso mögen wie eingefleischte Fantasy- oder Science-Fiction-Leser. Der Italiener Evangelisti, mit seinem „Nostradamus“-Zyklus (bei |Goldmann|) als Mittelalter-Fachmann ausgewiesen, bietet in den vier Handlungssträngen seines Romans jedem etwas.

Der Autor

Valerio Evangelisti, geboren 1952 in Bologna, studierte Geschichte und ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Später befasste er sich vorwiegend mit fantastischer Literatur, bis er 1994 selbst zum preisgekrönten Fantasy-Schriftsteller wurde. Seither werden seine Romane in vielen Ländern aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit seiner Nostradamus-Trilogie wurde er schließlich zum internationalen Bestsellerautor. Seine Werke werden bereits für das italienische Fernsehen verfilmt.

Der Inquisitor-Zyklus:

Der Schatten des Inquisitors (Heyne 06/9124)
Das Blut des Inquisitors (Heyne 06/9125)
Die Ketten des Inquisitors (Heyne 06/9126)
Das Geheimnis des Inquisitors (Heyne 06/9156)
Die Versuchung des Inquisitors (Heyne 06/9157)

Handlung

Man schreibt das Jahr des Herrn 1354, und Großinquisitor Nikolas Eymerich ist gerade mal zwei Jahre im Amt, da hat er bereits zwei ketzerische Sekte ausgerottet. Mit der Flotte des Königs Peter I. von Aragon schippert er nach dessen Einladung zur Insel Sardinien, von der finstere Gerüchte nach Aragon gedrungen sind. Was Peter I. in Wahrheit im Schilde führt, erkennt Eymerich beinahe zu spät. Die Flotte ist ganz einfach zur Eroberung hier, heißt es, doch wie sich zeigt, ist auch ein Inquisitor gefragt.

Ein Richter namens Mariano hat sich mit seiner Bevölkerung in die Küstentadt Alghero zurückgezogen, die alsbald mit sämtlichen verfügbaren Kriegsmaschinen belagert wird. Doch Eymerich beunruhigt etwas ganz anderes: Das Land selbst scheint krank und verseucht zu sein: Epidemien und missgebildete Kinder scheinen an der Tagesordnung zu sein. Da er selbst wie ein Hypochonder allergisch auf Berührungen und Verschmutzung sowie Krankheit jeder Art reagiert, fühlt er sich äußerst unbehaglich in seiner Haut.

Da kommt ihm durch einen gefolterten Gefangenen zu Ohren, dass Mariano einen offenbar heidnischen Kult wiederbelebt hat: Er dient der Fruchtbarkeit und verehrt vorchristliche Gottheiten wie etwa die phönizischen Göttern Tanit und Eschmun, da Sardinien bis zum Jahr 231 v. Chr. den Karthagern gehörte, die es aber an die Römer verloren.

Eymerich greift zu einer List: Er lässt sich wie einen Gefolterten herrichten und lässt es so aussehen, als könne er zur Stadt flüchten. Da man ihn dort nicht erkennt, kann er sich als einen Bekannten des Richters ausgeben und Asyl erhalten. Fortan kann er ohne Weiteres die Stadt auskundschaften sowie die tieferen Geheimnisse, die in einem Höhlensystem und in der blau strahlenden Neptunsgrotte auf ihn warten …

Zweite Haupthandlung

Das 20. Jahrhundert: Nach einem Physiker und einem Genetiker tritt auch diesmal wieder ein „Wissenschaftler“ mit dubiosem Ruf auf: [Wilhelm Reich 66 (1897-1957). Der Österreicher übte den Beruf eines Psychotherapeuten aus, der Freud kannte, bis er jedoch zur Biologie umschwenkte, um seiner Theorie von der Energie des Orgasmus auf den Grund zu gehen. In Berlin gründet er 1930 ein Institut für Sexualforschung und -beratung, das sozialistische Sympathien nicht verhehlt.

Er entgeht 1933 den Nazis, wird im Exil von norwegischen Kollegen angegriffen, von Einstein im Exil abgelehnt und schließlich vom FBI wegen „Kurpfuscherei“ verhaftet und eingebuchtet. Die auf Kommunistenhatz befindlichen Gesetzesvertreter sind ebenso borniert wie Eymerich auf Sardinien, und Reich tritt als ein geistiger Nachfahre des Judex Mariano aus Alghero auf. Alles, was mit Sex zu tun hat, wird also durch die Jahrhunderte hindurch von Ignoranten verfolgt und ausgemerzt, ungeachtet dessen, ob die Theorie zu einer Heilung führt oder nicht.

Dritte Haupthandlung

In seinen letzten Wochen im Knast von Lewisburg (1954 bis November 1957) wird Reich einer Behandlung mit Methionin unterzogen, die zu schizophrenen Wahnvorstellungen führt. Dort erscheint ihm der Inquisitor Eymerich, der ihn nach seinem Verhältnis zu Vater und Mutter befragt. Eymerichs „Opfer“ windet sich in Seelenqualen.

Vierte Haupthandlung

In der nahen Zukunft. Die USA haben sich in drei Staatenbünde aufgespalten, von denen zwei erzkonservative Werte vertreten. Nur der dritte im Nordosten scheint noch liberale Werte vertreten zu können. Insbesondere die woanders verbotenen „Kinder der Zukunft“ verbreiten in der geistigen Nachfolge Wilhelm Reichs eine befreite Sexualität, die zu einer psychischen Integration führen soll.

Dieser Handlungsstrang schildert das Schicksal dreier Jungen, die in staatlichen Erziehungsanstalten durch Kontakt mit Mädchen gegen die strengen Verhaltensregeln verstoßen und als „Aufsässige“ deportiert werden. Ein Flugzeug bringt sie an einen unbekannten Ort, der nur als „Lazzarett“ bekannt und gefürchtet ist. Wie sich bald zeigt, handelt es sich um ein Sardinien, das von Radioaktivität verstrahlt ist und auf dem Krankheiten die Lagerinsassen dahinraffen. Sie können nicht fliehen, weil wilde Hunde sie alsbald reißen würden.

Das Jungen-Trio stößt während eines schweren Sturms in einem Schiffswrack auf einen Angehörigen von Reichs verbotener Kolonie. David hat sogar Funkkontakt zum Lager der geliebten Mädchen! Daher kann er sie dazu bringen, ihm zu helfen. Sie sollen in das seit Jahrhunderten blockierte und verfemte Höhlensystem an der Neptunsgrotte vordringen und die Blockade beseitigen. Das Ergebnis erweist sich als wesentlich mehr, als David erwartet hat …

Mein Eindruck

Die vierfache Handlungsstruktur ist für den Anspruchslosen sicherlich einigermaßen verwirrend. Wir bewegen uns nicht mehr auf Groschenheftniveau à la „Conan“, sondern müssen unseren Grips und vor allem die Erinnerung anstrengen. Erst dann entsteht so etwas wie eine Bedeutungsebene des Romans.

Obwohl die erzählte Zeit rund 700 bis 800 Jahre umfasst, bleibt doch die Grundkonstellation stets die gleiche. Auf der einen Seite stehen die körperfeindlichen, die Lust verdammenden Kräfte, die vom Inquisitor, vom FBI und von den diktatorischen US-Regimes in den Staatsinternaten vertreten werden. Die Opfer sind stets die Befürworter der Lust, des Sexus und schließlich – in naher Zukunft – der bloßen körperlichen Berührung. Man könnte auch die Gegensatzpaare Unterdrückung und Befreiung, Kollektiv gegen Individuum etc. bilden.

In Eymerichs Handlungen ist das Kollektiv die rechtmäßige römisch-katholische Kirche, die aber leider zu Eymerichs Leidwesen noch keine strikte Einheitslehre vertritt, sondern abweichende Lehren zulässt – zu dumm aber auch. Gut aber für die Abweichler wie etwa die Benediktiner, die in der Neptunsgrotte Heilungen fördern. Deren Treiben sieht für Eymerich aus wie heidnischer Götzendienst, der die Unzucht fördert. Herrje, Männlein und Weiblein tanzen splitternackt um eine Phallus-förmige Säule herum! Und in einem finsteren Abgrund winden sich Würmer, die Eymerich das kalte Grausen einjagen. Sicher ist auch die uralte Göttin Tanit nicht weit. Doch er wird dem Treiben Einhalt gebieten.

Obwohl der Autor Eymerichs Opfer ebenso als Unschuldige hinstellt wie Wilhelm Reich und die drei Jungs, so darf man doch daran zweifeln, dass Reich in allen Punkten Recht hatte. Orgonenergie – davon ist heute nicht mehr die Rede, obwohl Reichs Ideen in den Gegenkulturen der sechziger und siebziger Jahre viele Anhänger fanden. Sein Orgon-Akkumulator und sein „Cloudbuster“ (Kate Bush hat ein schönes Lied dazu geschrieben) befinden sich heute als Kuriosa der Wissenschaft in Museen.

Doch es kommt nicht darauf an, ob Reich Recht hatte oder nicht, sondern wie man mit ihm umging. Und die Art der Behandlung, die ihm die US-Justiz in den Fünfzigern zukommen ließ, bedeutete ebenso eine menschenverachtende Unterdrückung wie sie die Nazis 1933 mit ihm vorhatten. Dass diese antiliberale und körperfeindliche Einstellung auch heute und künftig verbreitet ist, dürfte niemand bestreiten, der sich einmal das Parteiprogramm der Republikaner unter Bush und die Ideen der Neo-Konservativen ansieht.

Der Autor extrapoliert diese Tendenz im Geiste der Inquisition in die nahe Zukunft, wo sich drei „Aufsässige“ wie in einer Endzeitwelt vorkommen, wo der Tod schon auf sie wartet: Er ist im Land (Krankheitserreger, Bandwürmer usw.), im Wasser (verbotene Trinkzeiten) und in der Luft (Radioaktivität). Dies ist J. G. Ballards „Terminal Beach“ und H. G. Wells‘ Endzeitvision aus „Die Zeitmaschine“.

Allerdings hat mich der Schluss enttäuscht. Es gibt keine Erlösung im Sinne von Heilung, sondern den Ausbruch des so genannten Bösen. Es sieht so aus, als wolle der Autor sagen, dass Eymerich 1354 richtig gehandelt hat, als er die Neptunsgrotte blockieren ließ. Und das finde ich wenig erfreulich.

Unterm Strich

Vom Plot her hat mich dieser Inquisitor-Roman weniger überzeugt als die Vorgänger „Der Schatten des Inquisitors“ und „Das Blut des Inquisitors“. Die treibende Kraft ist weniger die kriminalistische Absicht Eymerichs als seine von vornherein feststehende Bekämpfung antichristlicher Impulse, obwohl, wie ihm deutlich gemacht wird, dieser Kult notwendig ist, um die Fruchtbarkeit und Gesundheit der Bewohner Sardiniens zu fördern. Macht nix – weg damit, sagt Eymerich. Das ist ziemlich uncool von ihm und stellt ihn als Psychopathen hin. Einleuchtender ist daher, dass er ein intrigantes Komplott unter Adeligen aufdeckt – ob für oder gegen den König, muss sich allerdings noch herausstellen.

Der diesmal auftretende Wissenschaftler ist kein Monster, sondern ein angenehmer Zeitgenosse, der lediglich etwas kuriose Ideen hat. Diese aber werden sowohl von den Nazis als auch von den US-Justizbehörden – ein übler Vergleich – nicht geduldet und unterdrückt. Seine Bücher wurden öffentlich verbrannt. Es kann jedoch gut sein, dass Reich ein Scharlatan war, der nur den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen wollte, besonders mit seinen Apparaten, die sowohl der Krebsbekämpfung (der Akkumulator) als auch dem Regenmachen (Cloudbusting) dienen sollten. Reichs Albtraumphantasien unter dem Einfluss des Methionin sind ziemlich frustrierend und unschön, zum Glück aber kurz gehalten. Hier wird er entlarvt.

Am sympathischsten ist der Handlungsstrang um die „Kinder der Zukunft“. Zuweilen ist das eine Kombination aus Internatsroman, Orwells „1984“ und „Herr der Fliegen“. Diese Story bleibt aber im Abschluss recht enttäuschend, denn sie und die Insel werden weder geheilt noch erlöst. Denn ob sich durch ihre Tat die Welt verändert- ob zum Guten oder Schlechten -, bleibt offen.

Taschenbuch: 366 Seiten
Originaltitel: Il mistero dell‘ inquisitore Eymerich, 1996
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner
ISBN-13: 9783453188280

www.heyne.de

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