Doctorow, Cory – Little Brother (Lesung)

_Der kleine Bruder von Big Brother: ein Befreier oder nicht?_

Marcus alias „w1n5t0n“ ist 17, smart und ein echter Computercrack. Als Terroristen die Oakland Bay Bridge in San Francisco in die Luft jagen und den darunterliegenden U-Bahn-Tunnel ebenfalls, werden er und seine Freunde verhaftet, verhört, gedemütigt – und wieder freigelassen, unter Beschattung.

Er kehrt nach sieben Tagen in eine Stadt zurück, die unter totaler Überwachung steht. Jeder Bürger – ein potenzieller Terrorist. Menschenrechte – altmodischer Schnickschnack; Freiheit – nichts als ein „Sicherheitsrisiko“. Marcus und seine Freunde beginnen, sich als Gamer-Guerilla zu organisieren. Ihr Plan: Sabotage der staatlich inszenierten Überwachungsparanoia. Ihre Waffen: Grips und Zukunftstechnologien. Ihr Ziel: Sturz der Regierung. (Verlagsinfo)

_Der Autor_

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Aktivist. Er wurde 1971 in Toronto geboren und lebt heute in London und im weltweiten Netz. Man finde ihn unter der Adresse www.craphound.com. Aber ich habe die Listen von literarischen Auszeichnungen im weiten Feld der Phantastik durchgeackert und bin mehrfach auf Doctorows Namen gestoßen. So wurde sein Roman „Down and out in the Magic Kingdom“ (dt. „Backup”) anno 2004 von den Lesern des einflussreichen LOCUS (SF-) Magazins zum besten Debütroman gewählt.

Doctorow ist Mitherausgeber des Blogs „Boing Boing“, ehemaliger Europadirektor der Electronic Frontier Foundation und Mitgründer der UK Open Rights Group. Sein Roman „Little Brother stieg direkt in die New York Times Bestsellerliste ein.

_Der Sprecher_

Oliver Rohrbeck, geboren 1965 in Berlin, ist Schauspieler und Synchronsprecher. Er ist bekannt für seine Sprechrolle als Justus Jonas in der Hörspielserie „Die drei Fragezeichen“. Als Sprecher synchronisierte er Hauptrollen in vielen Filmen und ist die deutsche Stimmbandvertretung von Ben Stiller.

Regie führte Tanja Fornaro. Das Cover entspricht dem des Buches.

_Handlung_

Marcus Yallo, 17-jähriger Schüler, ist ein Hacker. Sein Deckname: “ w1n5t0n“. Rektor Benson beschuldigt ihn, Prüfungsaufgaben aus dem Schulrechner geklaut und die Überwachungsmaßnahmen sabotiert zu haben. Marcus gibt sich ahnungslos und kommt davon. Diesmal noch. Auch die Gangart-Scanner, die ihn identifizieren sollen, trickst er locker aus – mit einem Steinchen im Schuh.

Marcus ist Schüler an der Chavez High School in San Francissco. Er trifft seinen Kumpel Darryl, gemeinsam freuen sie sich auf das Alternate Reality Game „Harajuku Fun Madness“ (HFM), das aus einer Schnitzeljagd mit Geocaching und Wettbewerb besteht. Zufällig lieben beide insgeheim Vanessa Peck, die auf ein Mädcheninternat geht. Aber erst einmal müssen sie der Schulüberwachung entkommen. Mit ein paar elektronischen Tricks haben sie Rektor Bensons Spitzel Walker überwunden und können in die Freiheit entkommen.

In der Stadt treffen sie Vanessa und Jolu alias Jorge Luis Torres, den Vierten im Bunde. Das HFM-Spiel soll sie in den Tenderloin-Distrikt führen – ganz üble Gegend! Marcus rempelt gerade ein Mädchen an, das sie mit dem Handy knipst, um sie zu verpetzen, als die Erde mit der Schulter zuckt: ein Beben!?

|Der Anschlag|

Marcus beobachtet staunend, wie über der Bay eine schwarze Wolke emporsteigt. Sie ist pilzförmig. Alarm dröhnt: Alle sofort die Schutzräume aufsuchen! Sie eilen in die riesige U-Bahn-Station an der Powell Street, die sich rasch füllt. Im Gerempel erhält Darryl einen Messerstich. Doch zum Glück beherrscht Vanessa Erste Hilfe. Wo ist die nächste Ambulanz?, fragt sich Marcus und eilt rauf zur Straße. Dort stoppt er ein Fahrzeug. Es gehört dem Militär, wie es scheint. Die Typen zielen auf ihn! Dann stecken sie sein Gesicht in einen Sack und fesseln ihn. Zusammen mit allen anderen landet Marcus schließlich nach Stunden in einer Zelle. Aber wer zum Teufel ist diese Truppe? Und warum trägt sie keine Abzeichen?

Erst nach Stunden wird er in einen mobilen Kommandostand geholt, wo er aussagen und sein Handy freischalten soll. Er denkt gar nicht daran. Die Verhörer scheinen der Heimatschutzbehörde DHS anzugehören. Sie nennen ihnen einen feindlichen Kämpfer, weil er die Brücke in die Luft gesprengt habe – und Terroristen würden nun mal keinen Anwalt kriegen, klar?!

|Die Hölle|

Nach ein paar Tagen der Haft und der Verhöre ist Marcus soweit, dass er alles verrät, was die Verhörerin – er nennt sie „die Eiskönigin“ – von ihm wissen will. Er gibt erst das Innerste seines Handys preis, dann seine E-Mail-Passwörter – wie viel intimer kann es denn noch werden? Und nachdem sie ihn seiner Privatsphäre beraubt hat, nimmt sie ihm auch noch seine Würde – er darf nichts von dem verraten, was hier vorgefallen ist.

Erst nach sechs Tagen sieht er seine Freunde Vanessa und JoLu wieder. Sie freuen sich unbändig, doch es kommt raus, dass man mit Marcus besonders hart umgegangen ist. Aber wo ist der Vierte im Bunde, wo ist Darry? Keine Spur von ihm. Und erst aus der Zeitung erfahren sie, was eigentlich der Auslöser dieser hirnrissigen Aktion war: Nicht nur die Oakland Bay Bridge wurde in die Luft gejagt, sondern auch die unter der Bucht verlaufende U-Bahn-Röhre, sodass mehrere tausend Menschen umkamen.

|Trautes Heim?|

Nach der ersten Mahlzeit in Freizeit schwört Marcus: „Ich werde sie kriegen.“ Will heißen, er werde es dem DHS heimzahlen, ganz besonders das Verschwinden seines besten Freundes. Seine Eltern sind ebenfalls überglücklich, ihn nach einer Woche der Ungewissheit und der Sorge wiederzusehen. Seine Vater war in den sechziger Jahren ein Aktivist und kennt die Regierungsbehörden, doch seine Mutter ist Britin. Sie nennt das DHS nur „Barbaren“. Ganz genau.

In seinem Zimmer möchte Marcus natürlich als Erstes in Netz, um alle seine Vertrauten wiederzufinden. Doch etwas stimmt mit dem Laptop nicht. Als er ihn aufschraubt, findet er eine Keylogger-Wanze, die alle Tastatureingaben protokolliert und an ihre Herren weiterleitet: das DHS, das ist Marcus sofort klar. Er lässt sie drin, damit die Regierung keinen Verdacht schöpft und ihn gleich nochmal verhaftet. Statt dessen holt er seine Xbox-Spielekonsole hervor und funktioniert diese zu einem Hochsicherheitszugang ins Internet um. Zusammen mit den anderen geschützten Xboxen verfügt er nun über ein abhörsicheres Netzwerk.

|Aktivist|

Die Welt hat sich verändert, als er zur Schule geht: Auf Schritt und Tritt wird er überwacht. Aber in der Klasse verteilt er Paranoid-Xbox-DVDs und rasend schnell entsteht das abhörsichere Xnet. Als ihn zwei verdeckte Ermittler zum Verhör mitnehmen, weil er in der U-Bahn den RFID-Chip nicht nutzt, bringt dies ausgerechnet seine Mutter auf die Palme – „ein klarer Fall für die ACLU!“ Die ACLU ist die Bürgerrechtsbewegung. Doch ausgerechnet Dad glaubt noch an die Regierung, ist es zu fassen.

Marcus baut unter dem Decknamen MIKEY das IndieNet auf. Nach Monaten ist er die Stimme des Untergrunds, auch wenn das seiner koreanischen und daher ängstlichen Freundin Vanessa nicht passt. Aber das DHS muss für Darryls Verschwinden büßen. Und so lernt er Ange kennen, ebenfalls eine Aktivistin. Und schließlich erreicht ihn auch die erste geheime Nachricht von Darryl: Sein bester Freund lebt!

Doch Darryl aus seinem Gefängnis zu holen, würde den Untergang der DHS bedeuten. Und Marcus ahnt nicht, welche heimtückischen Mittel die Regierung einzusetzen bereit ist …

_Mein Eindruck_

Wer unter dem Vorwand der Terrorabwehr die Verfassung außer Kraft setzt, kann sogar in einer Demokratie ganz leicht eine faschistische Diktatur errichten. Der Widerstand ist diesmal vor allem im Internet organisiert. Aber kann das überhaupt funktionieren? Schließlich kontrolliert die National Security Agency doch sämtlichen Datenverkehr, oder?

Die Geschichte des Marcus Yallo alias MIKEY zeigt jedoch, dass es Schlupflöcher gibt. Mit einer Software, die ausgerechnet aus Deutschland kommt, nämlich Paranoid-Xbox, gelingt es Marcus, sein Trusted Web einzurichten und zu verbreiten. Natürlich ist ständigen Angriffen ausgesetzt. Er muss sich ausgeklügelte Sicherheitsverfahren mit Einmalschlüsseln usw. einfallen lassen, um wirklich auf Nummer sicher gehen zu können.

|Vertrauen|

Doch wie es nun mal mit den Menschen so ist, reicht die beste Schutztechnik nicht aus, wenn sich Menschen untereinander nicht vertrauen können. Hier liegt der wahre Verdienst des Autors. Statt sich ellenlang über die Performance von Abwehrtechniken zu verbreiten, kommt es schließlich doch letzten Endes darauf an, ob der Eine dem Anderen vertrauen kann. Stimmt es, was die Bibel sagt (in einem der Apostelbriefe, glaube ich): „Die Wahrheit wird euch freimachen“?

|Bangen|

Die Geschichte bleibt immer ganz nah dran an den Figuren, und nur dadurch wirken sie auch glaubwürdig. So lässt sich nachvollziehen, wie Marcus‘ Vertrauen in Ange wächst, sie zu seiner großen Liebe wird – aber kann er ihr wirklich trauen, bangen wir mit. Okay, sie ist seine emotionale Stütze, wenn er das Xnet anführt und eine hammermäßige Wahrheit nach der anderen gegen die DHS abfeuert. Sie verfasst mit ihm sogar Pressemitteilungen und gibt mit ihm virtuelle Pressekonferenzen. Kann das wirklich alles Täuschung sein? Hoffentlich nicht!

|Spaß und Schönheit|

Man sieht also, dass selbst im Mittelteil, der für viele Autoren zum schwächsten Teil eines Buches gerät, eine erhebliche Spannung aufrechterhalten wird. Aber viele Szenen sorgen auch für Spaß. So etwa das abgefahrene Protestkonzert der Speedwhores und Trudi Doo, das die DHS schließlich mit Truppen unterbindet. Oder die Pseudo-Reality Games mit Vampiren und allem, die schließlich per Gasangriff gestoppt werden. Es gibt auch wirklich schöne Momente, und die finden nicht alle im Bett von Ange statt, sondern draußen am Meer. Die Welt könnte so schön sein, wenn wir nur keine Angst mehr haben müssten.

|Spannungsbögen|

Der erste Spannungsbogen besteht in dem Rätsel, das das Verschwinden von Marcus‘ Freund Darryl umgibt. Dieser Spannungsbogen ist auch der Letzte, der aufgelöst wird. Dadurch besitzt das Buch über einen Zusammenhalt, den man in vielen Geschichten, die so lang sind, vergeblich sucht. Wir wissen immer, dass das Buch nicht enden kann, ohne diese offene Frage beantwortet zu haben.

Und im Finale, als es für Marcus und Ange mal wieder ganz finster aussieht, kommt die Hilfe diesmal nicht mehr nur aus ihm selbst, sondern aus dem, was Marcus geschaffen hat, von den Trägern der Wahrheit, von der Bürgerrechtsbewegung und von den noch nicht von der DHS korrumpierten Sicherheitsbehörden. Autobahnpolizei! Wer hätte das gedacht?

_Der Sprecher_

Oliver Rohrbeck ist ja schon ein alter Hase im Synchronsprechergeschäft und in Sachen Hörspielserie (s. o.). Seine „normale“ Stimme eignet sich gut für Kinderstoffe, also Märchen, Fantasy und Ähnliches, denn sie erklingt nicht besonders tief oder autoritär, ist also sympathisch. Jedenfalls alles andere als furchteinflößend, schon gar nicht, wenn er mit der hohen Stimme einer weiblichen Figur spricht, oder sich gestelzt und säuselnd ausdrückt.

Das Hörbuch weist weder Geräusche noch Musik auf, sodass allein der Sprecher dafür sorgen muss, dass Stimmung aufkommt. Das gelingt Rohrbeck jedoch praktisch nie, denn seine Stimme ist einfach nicht wandlungsfähig genug. Nur in vereinzelten Sätzen charakterisiert er einen Sprecher oder eine Situation, so etwa indem er wütend brüllt oder neugierig flüstert, erbost klingt oder einschmeichelnd.

Und so bleibt selbst eine so bedrohliche Szene wie das erste Verhör oder die totale Demütigung ohne weitere emotionale Wirkung. Man hätte wirklich einen anderen Sprecher wählen sollen, beispielsweise Andreas Fröhlich (der ja auch bei den Drei Fragezeichen mitwirkte).

_Unterm Strich_

Cory Doctorow ist ganz klar einer der wichtigsten Internet-Aktivisten überhaupt und entscheidet über die Zukunft des inzwischen wichtigsten Kommunikationsmittels mit. Facebook und Twitter haben nicht nur den Arabischen Frühling ermöglicht, sondern können, wie die Süddeutsche Zeitung kürzlich berichtete, zum Teil sogar die große Chinesche Firewall überklettern.

Es ist daher ein wichtiges Thema, dessen sich Doctorows Jugendroman „Little Brother“ annimmt: die Freiheit des Individuums in der freien Nutzung des Internets. Nach dem verheerenden Anschlag auf San Francisco errichtet die Heimatschutzbehörde DHS einen Überwachungsstaat, der alle Züge einer Diktatur aufweist. Verwunderlich, dass es selbst dann noch Leute gibt, die dem Staat die Stange halten: „Wir sitzen alle im gleichen Rettungsboot“, lautet das Argument.

Während ich den emotionalen gehalt des Buches bereits oben gelobt habe, so habe ich doch unerwähnt gelassen, dass die vielfältigen Möglichkeiten, über die der Überwachungsstaat „Big Brother“ verfügt, in der Mehrzahl bereits heute gegeben sind. Von daher ist „Little Brother“, der Gegenentwurf zu George Orwells „1984“, ein Gegenwartsszenario, das jederzeit Wirklichkeit werden könnte.

Die technische Möglichkeit dafür besteht ebenso wie die gesetzliche Grundlage, nämlich der U.S. Patriot Act von 2001/02, der auch im Buch zitiert wird. Durch die Verlagerung des Blickpunkt in Jugendliche erhält auch der erwachsene Leser ein relativ niedriges Einstiegsniveau, das es ihm ermöglicht, die neuen technischen Begriffe zu verstehen.

Nicht von ungefähr spielt das Buch in Kalifornien: dort verläuft sowohl die vorderste Front, was die technologische Entwicklung angeht – im Silicon Valley – als auch die Front, was die Bürgerrechtsbewegung angeht. Nicht ohne Grund entstanden an den Berkeley Uni von San Francisco die ersten radikalen Untergrundkämpfer der USA, die „Weathermen“ (Bob Dylan sang darüber). Der Autor wirft also indirekt die Frage auf, ob die Kalifornier diese Tradition verraten oder verteidigen würden. Und alle anderen, die über eine solche Tradition verfügen, natürlich ebenfalls.

|Das Hörbuch|

Die Vortragsweise Rohrbecks konnte mich nicht überzeugen. Seine Stimme und ihre begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten wirken am besten in Komödien. Doch „Little Brother“ ist alles andere als das, sondern ein mitunter sehr bedrohlich wirkendes Drama für Jugendliche ab 14 Jahren. Andreas Fröhlich, die deutsche Stimme von „Gollum“, wäre als Sprecher besser geeignet gewesen.

|6 CDs mit 450 Minuten Spieldauer
ISBN-13: 978-3839840030
Aus dem US-Englischen übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
Vom Hersteller empfohlenes Alter: 14 – 15 Jahre|
[www.argon-verlag.de]http://www.argon-verlag.de

_Cory Doctorow beim Buchwurm:_
[„Backup“ 4231
[„Upload“ 5031
[„Little Brother“ 6276

Schreibe einen Kommentar