Oliver Uschmann – Überleben auf Festivals. Expeditionen ins Rockreich


Survival Guide mit Soziologen-Humor

Wer in der Wildnis überleben will, muss die Wildnis verstehen. Das gilt selbst dann, wenn die Wildnis „nur“ ein Reservat ist, ein kontrollierter Ausnahmezustand. Musik-Festivals sind so etwas – eine Parallelwelt, in der eigene Gesetze herrschen.

„Überleben auf Festivals“ ist ein Nachschlagewerk wie ein Moshpit – lustig, böse und kathartisch. (Verlagsinfo) Wer jetzt nicht auf Anhieb weiß, was ein „Moshpit“ ist, muss nicht verzweifeln. Für solche Fachbegriffe soll man ja das Buch lesen.

Der Autor

Oliver Uschmann wurde 1977 in Wesel geboren und studierte Literaturwissenschaft, Linguistik und Anglistik in Bochum. Seit Ende der 1990er tritt er als Musikjournalist, Geisteswissenschaftler, Autor und Live-Entertainer in Erscheinung. Mit seiner Frau Sylvia Witt entwirft er die „Hui-Welt“ um die Bestseller-Reihe „Hartmut und ich“ mit virtuell wie physisch begehbarer WG-Welt oder einer 300-km-Barfuß-Tournee durch NRW. Daneben verfasste er Jugendromane und einen satirischen Männer-Ratgeber.

Inhalte

Das Rock-Festival ist im Allgemeinen ein Open-Air-Konzert: draußen, aber meist nicht umsonst. Es lässt sich leicht als „Reservat“ beschreiben, denn es gibt untrügliche Anzeichen, dass irgendwo draußen in der Pampa ein Festival stattfindet: Kilometer lange Staus, Security bis zum Abwinken, Zelte des Roten Kreuzes und anderer Samariter, Kolonnen von Dixi-Toiletten (im Idealfall) und eine auffallend große Menge junger Leute. Ach ja, und laute Musik.

Die Besucher

Das Buch beginnt nach einem überflüssigen Vorwort mit einer ethnografischen Beschreibung der Besucher. Schließlich ist diese Veranstaltung ja eine, zu der man nicht nur wegen der Musik fährt. Man blecht einen Haufen, das man im stillen Kämmerlein ja auch in Streaming-Musik investieren könnte. Also, es geht ums Begegnen mit anderen menschlichen Wesen. Umso besser, wenn diese Wesen dann auch noch vom anderen Geschlecht sind. Doch Obacht! Nicht alle Wesen sind harmlos!

Harmlos ist beispielsweise die Bettina, eine junge Dame, die von ihrem Norbert-Rüdiger das erste Mal aus dem gutbürgerlichen Elternhaus gezerrt wurde und sich nun in freier Wildbahn wiederfindet. Aber was macht Norbert-Rüdiger? Er verwandelt sich in ein furzendes, rülpsendes Monster, das unter Seinesgleichen König sein will. Ähnlich harmlos und bedauernswert ist die Lese-Lara, die so belesen ist, dass sie zwar jede Menge Ansichten, aber keine Erfahrungen hat. Da haben es die patente, erfahrene Betty und die stets hilfsbereite „Krankenschwester“ schon besser. Letzterer nähert Mann sich nur in unterwürfiger Haltung, um ein Pflaster oder dergleichen zu erbetteln.

Denn die freie Wildbahn gehört nicht selten den Volksstämmen der a) Barbaren, b) Vandalen und c) Trommler. Die Barbaren lassen einfach die Sau raus, sind aber sonst recht nette Kerle. Die Vandalen fackeln zum Schluss alles ab, was nicht niet- und nagelfest ist – auch Dixi-Klos. Die Trommler schließlich machen aus allem, was ein Hohlraum hat – etwa Dixi-Klos – eine Trommel und schlagen diese bis zum Umfallen – auch nachts.

Zum Glück gibt es Kräfte, die diesen Zerstörern entgegenwirken. Neben der Krankenschwester sind dies der Kümmerer, der Weltverbesserer, der Jünger, der Neunziger-Jahre-Kinnbart und die Turteltäubchen. Keine Angst, wenn man den Keglern in die Hände fallen sollte: Sie sind lieb und sofort an ihrem gastfreundlichen Grillstand zu erkennen. Wenig Freude hat man hingegen vom Veteranen, der doziert, früher (also anno 69-71) sei alles besser gewesen; vom Flirter, der sich an alle unbewachten Bettinas und Lese-Laras heranmacht, um sie zu vernaschen, vom „offenen Auge“, das unbeteiligt alles protokolliert, und vom Twitterer, der alles beobachtet, aber nichts für real hält, solange er es nicht auf Video aufgenommen und per Twitter/Instagram/Snapchat ins Netz gestellt hat.

Jedem dieser Typen weiß der Autor eine Track List und ein typisches Zitat zuzuordnen. Besonders hilfreich ist aber der Ratschlag, wie sich der „normale“ Festivalbesucher dem jeweiligen Typ gegenüber verhalten sollte.

Die Musiker

Unter den Musikern, die sich auf solch ein Festival verirrt oder getraut haben, gibt es ganz unterschiedliche Typen. Da ist der Agitator, der es dem Weltverbesserer nachmacht und eine Botschaft verbreitet. Da gibt es den Turner, der auf der Bühnenkonstruktionen seine Leibesübungen vorführt. Des Weiteren kann man antreffen: der Avantgardist, der Einsame, Die Elfen (Björk) und die Röhren (Doro), der Grobian (Biohazard), der Kalifornier, die Kappe (Limp Bizkit, Linkin Park), die Kippe, das Männerherz, der Metallarbeiter (Iron Maiden, Metallica), der moderne Macho, der Schnösel und der Schuhgucker. Die Bezeichnungen verraten schon alles.

Wer sich in die Lage versetzen möchte, jeden Typ dieser Musiker auf Anhieb zu erkennen und zuzuordnen, bekommt eine jeweils charakteristische Liste von Platten dieser Musikerkategorie angeboten. Bei den „Metallarbeitern“ von der Heavy-Metal-Fraktion werden bekanntlich dicke Bretter gebohrt, und wie an ihrer Plattenliste abzulesen ist, sind dies mal heidnische, mal christliche Bretter, mal schnelle, mal satanische oder mal schlichte Schwarze Bretter. Auch in diesem Buchteil finden sich wieder jede Menge kennzeichnende Zitate, die den Leser ins Hirn des jeweiligen Musiker blicken lassen.

Verhaltensrituale

Okay, dieser MUSIKER-Teil ist längst nicht so lustig wie der über die Besucher. Dabei macht sich doch der Kritiker im Autor bemerkbar. Viel witziger und actionreicher geht es im nächsten Teil zu: Verhaltensrituale. Wozu auf ein Festival gehen, wenn man nichts tut und bloß rumhängt? Allein schon zu den Show-Werten gehören das Crowd-Surfing der Sänger, beispielsweise von Campino von den Toten Hosen. Wehe dem- oder derjenigen, die sich ans Surfen wagt und dann auf halber Strecke fallen gelassen wird! So ein Fall aus zweieinhalb Metern Höhe kann böse Folgen haben.

Bei der Bierrutsche kann das nicht passieren. Sie erstreckt sich auf ebener Erde, die Fallhöhe ist also gleich Null. Auf einer ausgerollten Plastikplane befindet sich ein mehr oder weniger sorgfältig aufgebrachter Flüssigkeitsfilm, der aus – wer hätte das gedacht? – Bier besteht. In erster Linie zumindest, denn es soll ja inzwischen viele andere geistige Getränke in der westlichen Zivilisation (und in der östliche schon viel länger) geben. Am Anfang der Bierrutsche wirft sich der gewiefte Rutscher mit Anlauf auf selbige, um aus einem Bauchklatscher einen Abflug zu machen. Rutscht er ausreichend weit, gelangt er zur Quelle der Seligkeit, also zum Bierkasten o.ä.

Das Kapitel über Freundschaftsbänder fand ich angestrengt und anstrengend. Hier wird v.a. erklärt, wie sich Gleichgesinnte wiederfinden und aneinanderbinden. Platonische Paarungsrituale also – gähn. Weniger platonisch ist hingegen der „One-night Stand mit dem eigenen (!) Partner“, wobei die Bezeichnung schon alles erklärt. Ansonsten siehe oben unter „Flirter“. Lustiger ist da schon das Kapitel über „Dinge mit dem Dixi machen“. Dabei gibt es wahrscheinlich nichts, was es nicht gibt. Der Autor erfindet sogar neue Berufszweige wie den Abort- und Exkrement-Designer, professionelle Duftmischer (damit man das Chlor nicht mehr riecht) und der klandestine Häufchenverteiler (damit das Dixi nicht so leer aussieht). Stets werden interessante (und völlig fiktive) Umfrageergebnisse des „Instituts für unbehagliche Umfragen“ (IfuU) als Beleg zitiert.

Weitere interessante Phänomene, auf die ich nicht näher eingehen möchte sind: das Beflaggen, der Kaufrausch, das Luftinstrumente (wie die Luftgitarre) spielen; das melancholische Wanken; quer durch die Gegend fliegen; das Rufen nach Helga, die Schlägerei und der Tanzkrieg, Skulpturen bauen, unflätige Schilder aufhängen, verkleidet herumlaufen, Vorspielen, Völkerwanderung und der Vorfreude-Flow (eine Art la Ola als Vorspiel).

Die Mächte der Finsternis

Weitere wichtige Aspekte der Existenz im Reservat betreffen die (flüssige und feste) Ernährung (es gibt jede Menge exotischer Lebensmittel), die Bauten und Siedlungen (es gibt nicht bloß Zelte) und schließlich die Security. Letztere ist immer und überall. Es kommt darauf an herauszufinden, ob sie für „die Mächte des Lichts“ oder die Mächte der Finsternis“ tätig wird. Ich sage nur: Altamont 1969! Als dort der Festivalbesucher Meredith Hunter von den Hells Angels vor den Augen der Rolling Stones erstochen wurde, war dies der Tief- und Endpunkt der Hippie-Kultur. Es kommt also sehr auf die konstruktive Rolle der Security an, etwa dann, wenn die Vandalen aus ihren Löchern kommen und anfangen, alles abzufackeln.

Mein Eindruck

Diese humorvolle und vielseitige Betrachtung des Phänomens „Festival“ erscheint auf den ersten Blick wie ein Überlebens-Ratgeber für Besucher von Open Air Konzerten, wie es ja der Titel verspricht. Der Ratgeber wartet mit jeder Menge guten Tipps auf, vom Vehikel bis zum Essen. Aber der Untertitel „Expeditionen ins Rock-Reich“ gilt eben auch, und diesen Aspekt fand ich weitaus interessanter.

Ich muss vorausschicken, dass ich zuletzt vor etwa 40 Jahren auf einem Open Air war – ich weiß nicht mal mehr, wer spielte. Vermutlich eine Folk-Gruppe, die sich „Thorin Eichenschild“ nannte. Deshalb ist die Soziologie von Rock-Festival für mich noch viel exotischer und faszinierender als für den Dauergast.

Unversehens wurde für mich der „Ratgeber“ zu einem Soziologie-Studium. Und wie ich schon oben zu skizzieren versucht habe, gibt es jede Menge soziale Gruppen und Einzelgänger, die einen oder zwei Blicke und Bemerkungen wert sind. Diese Bemerkungen sind stets von einem ironischen Humor gekennzeichnet, den man aber durchaus ernstnehmen kann. Was der Autor in dieser Sektion sagt, meint er meist auch. Andererseits gibt es auch Abschnitte, die auf keinen Fall ernstgenommen werden KÖNNEN: Die Darstellung ist einfach viel zu überzogen. Selbst der Dümmste sollte den Unterschied erkennen.

Stories

Die am weitesten von Faktenhuberei entfernte Form der Beschreibung, deren sich der Autor befleißigt, ist das Erzählen einer erfundenen Geschichte mit erfundenen Figuren. So eine Figur ist beispielsweise Sören, der stolze Besitzer eines Zwei-Mann-Zeltes. Es gibt eine Klassengesellschaft der Zeltbesitzer, und Sören liegt in der unteren Mittelklasse, ganz oben rangieren natürlich die Kegler. Wen nur ein Einmannzelt sein Eigen nennt, ist ein armes Würstchen, und wer ein Wurfzelt nutzt, hat nur am Anfang – beim Herausziehen und Werfen/Entfalten etwas zu lachen, dann aber nicht mehr. Die Story von Sören sollte man sich also auf der Zunge zergehen lassen, ebenso die von den Häufchenverteilern und den Duftdesignern für Dixi-Klos.

Krasse Schwarzweißmalerei herrscht im Kapitel „Security“, denn da gibt es die Mächte des Lichts und die der Finsternis. Wer erwartet, dass zwischen diesen beiden Kategorien ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht herrscht, liegt völlig richtig. Der Leser kapiert aber auch gleich, dass es sich um Extreme handelt – und dass es dazwischen noch mehr geben muss.

Musikologie

Aber nicht alles dreht sich um Soziologie – da soll es ja auch noch feine Mucke geben, wenn man aufs Festival geht, nicht wahr? Doch nicht jeder Musiker nimmt seinen Auftrag, eine Menschenmenge zu unterhalten, richtig ernst. Manche haben auch eine Botschaft zu verbreiten, ganz gleich, ob jemand sie hören will oder nicht. Der Autor teilt die Musiker und Bands und die oben genannten Kategorien ein und stellt sie schon einmal hinterlistig gegenüber. Was haben auch so Elfen wie Tori Amos oder Björk mit Rockröhren wie Doro oder Gianna Nannini zu tun? ich wage zu vermuten, dass noch nicht einmal der Feminismus die beiden verfeindeten Fraktionen verbindet.

Garniert werden die Beschreibungen der Fraktionen, Typen und Klassen von Bands und Musikern – vom Agitator bis zum Schuhgucker – mit charakteristischen Zitaten und einer Playlist von empfohlenen Tracks oder Alben. Ich gebe frank und frei zu, dass ich nur die Playlist des VETERANEN wiedererkannte. Aber warum Deep Purple mit „Child in Time“ erwähnt wird statt mit „Smoke on the Water“, bleibt mir ein Rätsel. Okay, ich lasse auch noch U2 gelten, aber die Iren sind wirklich grenzwertig. Sie spielen keinen Blues.

Fotos

Der Ratgeber unterscheidet sich von vielen Survival Guides durch seine Vielzahl authentischer Fotos. Diese stammen keineswegs alle vom Autor, wie eine Liste der Copyright-Inhaber verrät. Aber das macht sie nicht weniger wertvoll. Ich habe über die Bierrutsche gestaunt, mich über Bauten und Flaggen gewundert, anzügliche Sprüche angeglotzt und so manches uralte Vehikel bestaunt (wovon die Spezies des VW-Bulli noch das gewöhnlichste ist).

Nackte Tatsachen sucht man meist vergeblich, denn dieses Buch ist weitgehend jugendfrei, auch wenn es die Festivitäten oftmals nicht sind. Eine Ausnahme ist die wohlgerundete Rückseite eines jungen Weibchens, wobei die Spalte zwischen den Hinterbacken als Bierquelle genutzt wird. Das dürfte im Wortsinne eine Geschmack-Sache sein. Soweit also der Biologieunterricht.

Unterm Strich

Mir hat die Lektüre dieses Überlebensratgebers viel Spaß gemacht. Erstens merkte ich schnell, dass der Autor mindestens einmal im Leben Musikjournalist war (oder immer noch ist) und zweitens, dass er sowohl Humor hat, diesen aber auch mit einem verschmitzten Ton in Worte zu kleiden weiß. Diese Art von Humor dient alles andere als zum Schenkelklopfen, sondern spricht eher Leser mit feinem Gehör an. Ich fühlte mich sofort daheim, obwohl die geschilderten Szenen und Leute mitunter sehr seltsam wirkten. Aber das Buch soll ja auch eine Expedition sein.

Bonustrax

Playlists, Zitate, Tipps & Tricks sowie eine Vielzahl von (schwarzweißen) Fotos lockern die Texte auf und machen das Buch zu einem echten multimedialen Ratgeber. Fehlen eigentlich nur noch ein paar Web-Links, aber mit denen gibt es meist Schwierigkeiten – hinsichtlich ihrer Aktualität sowie hinsichtlich des Copyrights. Auch das Buch selbst ist nicht mehr taufrisch. Dennoch bekommt das Buch von mir fast die volle Punktzahl.

Broschiert: 368 Seiten
www.heyne.de

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