Tad Williams – Die Insel des Magiers. Phantastischer Roman

Die Glorie der Magie, von unten betrachtet

Tad Williams, Autor von „Otherland“ und der Osten-Ard-Trilogie, erzählt die Geschichte von Shakespeares Drama „Der Sturm“ neu aus ganz anderem Blickwinkel: dem des hässlichen Hexensohnes Caliban. Für das, was ihm der Magier Prospero und seine Tochter Miranda angetan haben, will sich nun Kaliban 25 Jahre später rächen. Aber hat er überhaupt Recht? Darf er den Mord an Miranda begehen? Der Leser muss entscheiden.

Der Autor

Tad Williams, 1957 in San José als Robert Paul Williams geboren, hat sowohl mit dem Osten-Ard-Zyklus als auch mit seinem Otherland-Zyklus Millionen von Lesern gewonnen. Davor schrieb er aber schon kleinere Werke wie etwa „Die Stimme der Finsternis“ und „Der brennende Mann“ (beide bei |Klett-Cotta| verlegt; Ersterer erscheint im Herbst ebenfalls beim |dtv| in preisgünstigerer Neuauflage). Sein erster Bestseller hieß „Traumjäger und Goldpfote“, sein längster Zyklus ist wohl „Shadowmarch“.

Vorgeschichte

Die Handlung spielt vor dem Hintergrund jener weltbekannten Geschichte, die William Shakespeare in seinem Theaterstück „Der Sturm“ (The Tempest, 1611) erzählt. Nur zur Auffrischung des Gedächtnisses noch einmal die wichtigsten Fakten: Ein Schiff gerät in einen Sturm und sinkt, die überlebenden See- und Edelleute aus Mailand und Neapel erkunden die unbekannte Insel, auf der sie gestrandet sind.

Hie leben aber bereits einige Leutchen. Herrscher der Insel ist Prospero, eine Art Magier. Er hat hier seine Tochter Miranda aufgezogen, die aber leider etwas unschuldig, rein, keusch und naiv geraten ist – eben eine Jungfrau. Von ihr stammt der berühmte Vers über die „brave new world“: pure Selbsttäuschung. Prospero gebietet dem Geist der Lüfte Ariel, um seinen Willen auszuführen und mit den Neuankömmlingen nach Belieben zu verfahren.

Natürlich gibt es auch eine Nachtseite der Insel, sozusagen die Ureinwohner. Das sind die „Hexe“ Sycorax und ihr hässlicher Sohn Caliban, den sie angeblich mit einem Meeresungeheuer gezeugt hat. Er ist eine Mischung aus Mensch und Tier, ein dunkler Erdgeist vielleicht – der Interpretationen sind Legion. Und von Caliban handelt das vorliegende Buch.

Handlung

Rahmenhandlung 1

25 Jahre später. Nachts taucht am Hafen von Neapel ein unheimliches Wesen auf, das in Mantel und Kapuze gehüllt ist und nach dem Schloss fragt. Schon bald hat Caliban die Schlossmauern erklommen und linst in die Zimmer der beiden Kinder von Miranda, in die er sich seinerzeit unsterblich verliebt hatte. Sie hat einen jungen Sohn, Cesare, und eine mannbare Tochter, Giulietta, die schon bald verheiratet werden soll. Leider hält Giulietta überhaupt nichts von ihrem Bräutigam in spe und bereitet ihrer Mutter einigen Verdruss.

Da taucht Caliban nächtens in Mirandas Schlafzimmer auf und zwingt die Erschrockene, sich seine Geschichte anzuhören. Diese bildet den zentralen Teil des Romans. Danach will er die Zuhörerin umbringen, als Strafe für ihren schändlichen Verrat, den sie in seinen Augen vor 25 Jahren an ihm beging.

Binnenhandlung

Calibans Mutter wurde zunächst als Hexe aus ihrer Heimat, dem heutigen Algerien, vertrieben und schwanger in einem Boot auf dem Meer ausgesetzt. Sie landete auf der einsamen Insel, die nie einen eigenen Namen trägt, und bringt ihr Kind zur Welt. Mit Kräutern und so weiter kennt sie sich aus. Da man ihr leider die Zunge herausgeschnitten hat, damit sie niemanden verfluchen könne, kann sie ihrem Sohn auch keine Sprache beibringen. Ihre Frustration macht sie jähzornig, und schon bald muss der namenlose Junge zusehen, wie er sich auf der Insel alleine die Zeit vertreibt.

Schon bald entdeckt er Mächte, die größer und stärker sind als er. Da ist zum einen eine riesige Eiche in einem grünen Wiesental, das durch eine Dornenhecke abgeschlossen ist. Nur unter Schmerzen gelangt der Junge an diesen Ort des Friedens. Wie ihm auffällt, raunt der Baum ihm etwas zu, und seine Späher – ein Eichhörnchen, ein Vogel – spionieren dem Jungen hinterher. Später wird sich erweisen, welches Wesen im Baum eingeschlossen ist.

Der wichtigste Widersacher des Jungen ist jedoch ein weibliches Wildschwein, eine Bache, die mit ihren Frischlingen die Pfade durch den Dschungel beherrscht und jeden angreift, der auch nur so tun könnte, als wolle er ihren Jungen etwas antun. Die Bache fügt dem Jungen eine tiefe Demütigung zu, so dass er ihren Tod beschließt. Unter Einsatz einer Fallgrube und Verwendung eines Spießes gelingt es ihm, die Widersacherin zu Tode zu bringen. Fortan fühlt er sich als schuldiger Mörder, keineswegs selbstgerecht. Wenig später stirbt auch seine Mutter an einer Verletzung.

Deshalb ist ihm die Ankunft Mirandas und ihres gebildeten Vaters doppelt willkommen. Die zehnjährige Blondine verkörpert die Unschuld in jeder Hinsicht: körperlich, geistig wie auch moralisch. Sie hilft, seine schuldhaft gefühlte Existenz zu erleichtern. Ganz anders Prinzessin Mirandas (= die Bewundernswerte) Vater Prospero (= der Gedeihliche): Der einstige Fürst von Mailand, der von seinem Bruder verjagt wurde, ist in seinem Exil Calibans Mutter sehr ähnlich. Er lehrt den Jungen, den Miranda und er als „Caliban“ bezeichnen, die Sprache als Verständigungsmittel und nimmt ihn als Diener und Handlanger gnädig in seine Dienste. Dabei hatte doch Caliban zuvor die gesamte Insel gehört! Er steckt den nackten Jungen in Kniehosen und zivilisiert ihn, wie Robinson Crusoe seinen Kannibalen Freitag erzog. Aus „cannibal“ wird in Prosperos Verdrehung wirklich „Caliban“.

Dennoch gestalten sich die folgenden Jahre für Caliban glücklich, besonders wegen des unschuldigen Zusammenseins mit Miranda. Prospero jedoch lehrte Caliban die Zwiespältigkeit der Sprache: dass Lügen Masken sind. Beim Bau eines Hauses wird Caliban lediglich noch als Arbeitssklave geduldet, während der Fürst in seinem Labor Stoffe zusammenbraut, die fürchterlich stinken. Miranda ist oft in ihrer Kammer versteckt und wird vom Vater eifersüchtig bewacht.

Das Ende des Glücks kommt rasch und katastrophal über die Insel. Caliban entdeckt die junge Prinzessin, wie sie nackt unterm Wasserfall badet. Ihre weiblichen Rundungen erregen ihn auf bislang unbekannte Weise, doch er zeigt sich nicht, aus Angst vor Prosperos Reaktion. Als er ihr sein Paradies mit der Eiche zeigen will, zerreißt sie ihr Kleid an den Dornen. Als er sie lieben will und beinahe vergewaltigt, läuft sie davon. Der Zorn Prosperos, dem sie ihr Leid klagt, ist fürchterlich: Er schlägt Caliban zum hässlichen Krüppel, als dessen Inbegriff er bei Shakespeare auftaucht.

Nicht genug damit, erobert Prospero nun auch Calibans „Paradies“ und befreit den Geist in der Eiche: Es ist Ariel, ein fieser Luftgeist, der es vermag, Caliban fürchterliche Schmerzen zu bereiten und ihn damit zu allen Arbeiten zu zwingen, die Prospero verlangt. Durch seine Dienste hofft Ariel, in naher Zukunft aus Prosperos Diensten entlassen zu werden, was dann ja auch eintritt.

Denn nun besteht Ariels Hauptjob darin, mit den Gestrandeten aus Mailand und Neapel nach Belieben zu verfahren und die bekannten Resultate herbeizuführen: Prospero erhält sein Königreich zurück, Miranda ehelicht den Prinzen Ferdinand von Neapel und wird später die Königin, die von Caliban Besuch erhält. Und dieser selbst? Er bleibt zurück und grämt sich über Mirandas Verrat.

Rahmenhandlung 2

Nun ist es an der Zeit, Miranda zu töten, um die Rache zu vollziehen. Da tritt eine unerwartete Wendung ein …

Mein Eindruck

Wie schon seine High Fantasy über die drei Großen Schwerter Memory, Sorrow und Thorn – die Osten-Ard-Trilogie – Tolkien korrigierte und indirekt kritisierte, bildet auch „Die Insel des Magiers“ sowohl Revision als auch Kritik an Shakespeares Darstellung der Ereignisse auf Kalibans Insel. Der deutsche Titel stellt die Verhältnisse auf den Kopf und unterläuft exakt Calibans/Williams‘ Bemühung, die wahre Geschichte durch Neu-Erzählen zu revidieren. Da hat der deutsche Übersetzer seinem Autor einen Bärendienst erwiesen.

Williams‘ Dekonstruktion von „Der Sturm“ läuft auf eine Umbewertung der Figur des weisen, väterlichen Magiers hinaus, wie sie bereits Peter Greenaway in seinem stilistisch einfallsreichen Film „Prospero’s Books“ unternommen hat. Prospero erscheint uns durch Kalibans rechtfertigende Darstellung als ein finsterer, engstirniger Saruman, der es versteht, andere in seine Dienste zu zwingen und auszubeuten. Er selbst ist dabei keineswegs kreativ, sondern lediglich eine Art frühkapitalistischer Unternehmer.

Was er wirklich kreiert, sind Lehmklumpen, die er in Bewegung versetzt und tanzen lässt, so dass es aussieht, als besäßen sie ein eigenes Leben. Dieser Subkreator ist also lediglich ein Herr über Golems, die nach getaner Arbeit wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückfallen. Dass er Wesen wie Caliban ebenso behandelt, liegt nahe. Auch Miranda, seine eigene Tochter, ist ihm lediglich Mittel zum Zweck. Durch die Heirat mit dem Thronerben von Neapel verschafft sie ihm, wie es einst die Habsburger im 13. Jahrhundert taten, Macht und Einfluss.

Ist dies also die „brave new world“, die Miranda in Skakespeares Worten so lobt? Mitnichten! „Calibans Stunde“, so der Originaltitel, dient dazu, diese Darstellung, diese Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern und alle Bilder zu zerfetzen, die sich hoffnungsvoll an sie knüpfen. Denn der Preis der Erschaffung dieser Welt ist viel zu hoch: Calibans moralische und körperliche Zerstörung, seine Enteignung, Ausbeutung und Entsorgung (er wird zurückgelassen).

Die Frage ist also für Williams, ob sich für dieses Wesen eine Art Wiedergutmachung rechtfertigen lässt: Die Rache in Form des Mordes an Miranda wäre das. Oder ob es vielleicht doch noch für Caliban eine Art Erlösung von der Vergangenheit geben kann, sozusagen eine unverhoffte, quasi göttliche Gnade. Die Antwort auf die zweite Frage, so viel darf ich wohl verraten, lautet „ja“. (Profis brauchen nur Rahmenhandlung 1 + 2 zusammenzuzählen, um auf die richtige Lösung zu kommen.)

Unterm Strich

Der Kurzroman ist ein Buch, das vom Leser Mitdenken erfordert. Es enthält nur relativ wenige anschauliche Szenen und noch viel weniger Dialoge. Es eignet sich daher überhaupt nicht für eine Dramatisierung à la Shakespeare. Vielmehr ließen sich leicht die wichtigsten Statements Kalibans, des Alleinerzählers, zu einem philosophischen Essay zusammenfassen. Über diesen ließe sich dann trefflich disputieren.

Man merkt schon, worauf ich hinaus will. Die Lektüre ist nur mäßig spannend, weder abenteuerlich noch sinnlich, außer an gewissen Stellen. Als Abenteuerstory scheitert das Buch also auf ganzer Linie, und ich musste mir das Gähnen mehrmals verkneifen. Als Kritik an einem literarischen Hauptwerk und dessen Revision wie auch als Kritik an der Ethik des modernen Frühkapitalisten à la Prospero durch einen enteigneten und ausgebeuteten „Angehörigen der Arbeiterklasse“ funktioniert das Buch nur eingeschränkt. Denn wenn der Leser diese Kritik unbesehen übernähme, müsste er ja wohl auch Calibans Rache sanktionieren: den geplanten Mord an Miranda. Ob das wohl in jedermanns Sinne wäre? Der Leser darf dem Mitleid heischenden Psychologisieren des Autors nicht auf den Leim gehen.

Aber es gibt einen Ausweg, den der Autor aufzeigt. Theatermäßig ausgedrückt, handelt es sich um einen |deus ex machina|, moralisch ausgedrückt um eine Gnade von erlösender Kraft, sowohl für Miranda (sie ist dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen) als auch für Kaliban, denn er muss nun nicht noch mehr Schuld auf sich laden; er kann den Mord umgehen und obendrein etwas gewinnen.

Und so bleibt der Leser mit gemischten Gefühlen zurück. Das ist der Zweck der Übung: Wo Gefühle nicht entscheiden helfen, muss der Kopf angestrengt werden. Und auf dieser Ebene kommt der philosophische Essay zu seinem Recht.

Taschenbuch: 237 Seiten
Originaltitel: Caliban’s Hour, 1994
Aus dem US-Englischen übersetzt von Hans-Ulrich Möhring
Mit Illustrationen des Autors

www.dzv.de

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