Edith Nesbit – Der Ebenholzrahmen (Gruselkabinett 112)

Die Geliebte aus der Hölle

London 1923: Philip Devigne ist nicht wenig erstaunt, von seiner reichen Tante ein altes viktorianisches Haus im Londoner Nobel-Stadtteil Chelsea zu erben. Über dem Kamin im Speisezimmer hängt in dem ansonsten erlesen möblierten Haus ein billiger Druck in einem aufwändigen Ebenholzrahmen. Wie sich herausstellt, hat es damit eine unheimliche Bewandtnis… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Die Autorin

Edith Nesbit (1858-1924) war eine englische Autorin, deren Werke für Kinder im englischen Original unter dem „geschlechtslosen“ Namen E. Nesbit veröffentlicht wurden. Sie verfasste über 40 Kinderbücher. Einige davon wurden später verfilmt. (Wikipedia) Das Hörspiel setzt ihre Erzählungen „The Power of Darkness“ (VÖ 2006) und „Man-Size in Marble“ um.

Werkverzeichnis auf Wikipedia:

* Die Schatzsucher (The Story of the Treasure Seekers; Bastable-Trilogie 1; 1899)
* Der Club der guten Taten (The Would-Be-Goods; Bastable-Trilogie 2; 1901)
* Das rote Haus / Die lustige Ehe (The Red House; 1902)
* Fünf Kinder und zehn Wünsche / Der Sandelf (Five Children and It, Psamead-Trilogie 1; 1902)
* Der Phönix und der Teppich / Feuervogel und Zauberteppich (The Phoenix and the Carpet; Psamead-Trilogie 2; 1904)
* New Treasure Seekers (Bastable-Trilogie 3; 1904)
* Die Eisenbahnkinder ( The Railway Children; 1905)
* The Story of the Amulet (Psamead-Trilogie 3; 1906)
* Das verzauberte Schloß (Enchanted Castle; 1907)
* Die Kinder von Arden (House of Arden; 1908)
* Der Traum von Arden (Harding’s Luck; 1909)
* Die verzauberte Stadt (Magic City; 1910)
* Meereszauber (Wet Magic; 1913)

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Herbert Schäfer: Philip Devigne
Eva-Maria Werth: Mrs. Mayhew
Janina Sachau: Mildred Mayhew
Beate Gerlach: Hausdame Jane
Daniela Bette: Mistress
Matthias Lühn: Teufel
Florian Jahr: Feuerwehrmann

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden im Titania Medien Studio und im Planet Earth Tonstudio statt. Die Illustrationen trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Der junge Philip Devigne lebt 1923 als Mieter bei Mrs. Mayhew und ihrer reizenden Tochter Mildred. Es gilt als ausgemacht, dass er Mildred heiraten wird. Doch das Schicksal hat andere Pläne. Als sie zu Freunden aufs Land gefahren, erhält Philip von ihrer Mutter einen Brief von einem Anwalt aus London. Weil seine Tante Dorcas gestorben sei und sie ihn zum Alleinerben erklärt habe, solle er doch bitte baldmöglichst nach Chelsea kommen, um dort sein ererbtes Haus in Empfang zu nehmen – nebst 700 Pfund pro Jahr. Mrs. Mayhew schreit vor Entzücken auf – welch ein superber Start für ein junges Ehepaar!

Das Porträt

Die Hausdame Jane, die schon 20 Jahre im Chelsea-Haus arbeitet, führt Philip durch die Räume des frühviktorianischen Hauses. Der billige Druck, der über dem Kaminsims hängt, will überhaupt nicht zum noblen Mobiliar passen, bis auf den kostbaren Ebenholzrahmen. Jane erzählt, dass sich vor 20 Jahren ein anderes Bild darin befunden habe. Es sei auf dem Dachboden. Philip will es gegen Janes Protest sehen.

Das Gemälde ist durch ein zweites abgedeckt, so als sollte das eigentliche Bild versteckt werden. Das erste Bild zeigt Philip, allerdings in einem viktorianischen „Kostüm“, das andere eine schöne Frau mit eindringlichem Blick. In ihrem schwarzen Samtkleid sieht sie geradezu lebensecht aus. Sehr zu Janes Bedauern ist es Philips Wunsch, dass das Damenporträt wieder über den Kamin gehängt wird, zusammen mit seinem Gegenstück. Wer mögen die beiden wohl gewesen sein, fragt er sich. Jeder Hinweis fehlt.

Die Erscheinung

Schon beim Abendessen zieht ihn der Blick der Dame im Porträt hypnotisch an. Ein Gewitter ist aufgezogen, und plötzlich erhellt ein Blitz das Zimmer. Als der Donner rollt, fällt Philips Blick wieder auf das Bild: Es ist leer. Als sei die Dame dem Bild entstiegen, nähert sie sich ihm in ihrem schwarzen Samtkleid und redet ihn freundlich an: „Geliebter!“

Jetzt erinnert er sich schlagartig an sie. Nein, sie ist kein Geist, sondern die einzige Dame auf der Welt für ihn. Verwirrenderweise spricht sie von der Hölle, in der sie existiere. Er nimmt sie dennoch in die Arme. Sie seien verlobt gewesen, doch vor ihrer Hochzeit sei er zum Kriegsdienst auf dem Kontinent eingezogen worden – und erst nach ihrem Ende zurückgekehrt. Denn ihre Gegner wollten sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Doch der Fürst der Finsternis fand einen Weg, ihre Seele zu retten, auf dass sie dereinst – heute – mit ihrem Geliebten wiedervereint sein könne: im Ebenholzrahmen ihres Porträts…

Mein Eindruck

Unversehens findet sich der bis dato relativ unschuldige und unbescholtene junge Mann in einem Liebesdreieck wieder, das auf dem Konflikt der Gegenwart mit der Vergangenheit basiert. Er selbst sieht sich auf einmal von einem früheren Ich besessen – da könnte so mancher schizophren werden. Der Kampf um seine unsterbliche Seele entbrennt, man muss es wohl so nennen: Die Liebe zu seiner verflossenen Mistress aus dem Ebenholzrahmen könnte zu einem Teufelspakt führen, falls er ebenfalls auf ewig mit ihr vereint sein möchte.

Doch da ist ja noch Mildred, der Engel der unschuldigen, reinen Liebe, die ihn ebenfalls für sich zu gewinnen sucht. Der seelische Konflikt, in den Philip gerät, wird inszeniert in dem Brand, dem sein Erbe zum Opfer zu fallen droht. Soll er zuerst Mildred aus den Flammen retten oder seine nach ihm rufende Geliebte aus der Vergangenheit? Das soll hier nicht verraten werden.

Die Autorin spielt hier recht gewagt mit den Möglichkeiten der Untreue. Schon Philips Alter Ego ließ seine Verlobte im Stich, bis diese – ungewöhnlich für die Zeit des 19. Jahrhunderts – auf dem Scheiterhaufen endete. Allerdings wird nie genau festgelegt, wann sein Vorgänger in den Krieg zog und seine Lady verbrannt wurde – möglicherweise zu Zeiten des 16. und 17. Jahrhunderts, als es in England noch sogenannte „witchfinder generals“ gab: Hexenjäger. (Es gibt dazu einen Roman und einen Film, ich glaube mit Oliver Reed.)

Auch in der Gegenwart ist Philip praktisch verlobt, mit Mildred, doch wieder ist sein Herz untreu, indem er mit der Lady aus der Hölle turtelt. Sie verkörpert den Traum von einer leidenschaftlichen Liebe, die bedingungslos gelebt werden kann. Mit Mildred scheint dies nicht im Bereich der Möglichkeiten zu liegen. Das Ende vom Lied wirkt daher umso ironischer.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Hauptrollen fallen natürlich Herbert Schäfer als Philip Devigne und Daniela Bette als „Mistress“ zu. Ihr gemeinsamen Szenen ist am intensivsten im Hinblick auf Emotion und Leidenschaft. Das unschuldige Gegenstück zur Mistress aus der Hölle ist die engelhafte Mildred Mayhew, gesprochen von Janina Sachau.

Dieses unselige Liebesdreieck betrachten die älteren Damen, Mrs Mayhew und Hausdame Jane, mit größter Skepsis, wenn nicht sogar Empörung. Besonders gut gefiel mir der schadenfrohe Teufel, den Matthias Lühn spricht. So ein Teufelspakt ist doch – jeder FAUST-Leser weiß es – doch was Feines und Aufregendes. Man darf sich auf allerlei „illegale Aktivitäten“ („L.A. Confidential“) freuen.

Geräusche

Die Geräusche sind in etwa die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in manchen Szenen dicht und realistisch aufgebaut, meist aber reichen Andeutungen aus. Regelmäßig hören wir inzwischen in viktorianischen Interieurs das Kaminfeuer knistern, die Standuhr ticken, die Holzdielen knarren und den Wind unheimlich durch die Fensterritzen (diese Fenster wurden noch hochgeschoben und waren nicht aus Doppelglasscheiben, wie ich aus leidvoller Erfahrung weiß). Diesmal erklingen auch noch Schlüssel, Schloss und Tür des Dachbodens – der Hall fügt dem Augenblick noch ein unheimliches Element hinzu.

Die Geräusche des Feuers spielen eine besondere Rolle: das der Scheiterhaufens, das in der Hölle und schließlich das in Philips geerbtem Haus. Fanfaren und Glocken alarmieren. Wen soll Philip, hustend und rufend, retten – Mildred oder die Dame seines Herzens?

Musik

Die untermalende Musik, die unterschwellig die Emotionen des Hörers steuert, wechselt zwischen idyllischen und unheimlichen Harmonien und Rhythmen. Meist hält sie sich im Hintergrund, indem sehr tiefe Bässe, die an der unteren Hörgrenze angesiedelt sind, den Hörer unterschwellig auf etwas Schlimmes vorbereiten oder ihm sonstwie Unbehagen bereiten sollen. Die Musik erklingt mal harmonisch-romantisch, tragisch und elegisch, wenn es drauf ankommt, auch dramatisch. Warum das Outro allerdings so flott erklingt, obwohl Philips Stimmung ziemlich düster ist, bleibt mir ein Rätsel.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Ertugrul Edirne fand ich diesmal passend und stimmungsvoll.

Im Booklet sind Hinweise auf die nachfolgenden Hörspiele zu finden:

Ab Herbst 2016:

Folgen 114/115 „Der Ruf des Cthulhu“ aus der Feder von H.P. Lovecraft
Folge 116 „Der schwarze Stein“, nach Robert E. Howard
Folge 117 „Ewige Jugend“ nach Leopold von Sacher-Masoch
Folgen 118/119: Doppel-Folge „20.000 Meilen unter dem Meer“ nach Jules Verne

Sir Arthur Conan Doyle: Sherlock Holmes ermittelt im Herbst 2016 erneut stolze drei Mal. Diesmal gilt es die klassischen Fälle „Die Gloria Scott“, „Das Musgrave-Ritual“ und „Eine Studie in Scharlachrot“ (2 CDs!).

Im September veröffentlicht Titania Medien traditionell sein Weihnachtsmärchen. Die Folge 12 der Reihe Titania Special kombiniert unter dem Titel „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ verschiedene Märchen von Hans Christian Andersen.

Unterm Strich

Das romantische Hörspiel reiht sich ein in die zahlreichen Beispiele aus dem „Gruselkabinett“, in denen vermeintliche oder echte Hexen im Mittelpunkt stehen. Die Reihe reicht vom „Hexenfluch“ (Folge 21) bis zu Lovecrafts „Träumen im Hexenhaus“ (Folge 100). Auch in Edith Whartons „Allerseelen“ (Folge 104) tritt eine Hexe auf.

Zunächst ist der Hörer überrascht, dass das geerbte Haus seinen neuen Bewohner so in Beschlag nimmt. Seine Nachtreise – ein verbreiteter Topos der Horrorliteratur – beginnt. Sie führt ihn auf den Dachboden, wo er eine wichtige Entdeckung macht: seine verflossene Geliebte – und das Bildnis seiner selbst in altertümlicher Kostümierung. Er ist also nur ein Wiedergänger oder Opfer einer Seelenwanderung. War er selbst mal in den Jagden auf Hexen beteiligt? Das wäre eine fatale Verknüpfung.

Die weitere Handlung ist eine zunehmend aufregende Gratwanderung zwischen Unschuld und Leidenschaft, Engel und Teufel, Traum der Vergangenheit und Langeweile der Gegenwart. Wie würde sich der Hörer verhalten, wäre ein passendes Fragespiel. Die Autorin stellt die psychologische Schizophrenie zwischen äußerlicher Wohlanständigkeit und innerer Sehnsucht nach leidenschaftlicher Erfüllung, also zwischen den Freud’schen Polen Über-Ich und Es dar: Sie lässt das „Unwohlsein an der Kultur“ zu einem spannenden Kampf zwischen Teufel und Engel ausarten, der in einer actionreiche Katastrophenszene seinen Höhepunkt findet.

Diese Erzählung belegt, dass Edith Nesbit nicht immer als nette Autorin von Kinderbüchern auftrat. Hier geht es nicht um einen Sandelf, der Wünsche erfüllt, oder um eine Schatzsuche, die außer Kontrolle gerät. Aber auch hier stellt sie die Frage: Wie kann man sich in einer Kultur „richtig“ verhalten, wenn diese Kultur leugnet, dass der Mensch nicht bloß gezähmter Engel, sondern auch lustvoller Teufel sein möchte?

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling. Für Sammler ist die Reihe inzwischen ein Leckerbissen.

Audio-CD
Spieldauer: 58 Minuten
www.titania-medien.de

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