Charles Rabou – Tobias Guarnerius (Gruselkabinett 94)

Die Zaubergeige und der doppelte Sündenfall

Tobias Guarnerius verdient als Geigenbauer für sich und seine Mutter mit Müh und Not das Allernötigste. Sein kostbarster Besitz ist eine sehr besondere Geige. Als seine Mutter im Sterben liegt, fasst er einen folgenschweren Plan… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 14 Jahren.

Der Autor

Charles Rabou (1803-71) war ab ca. 1830 ein französischer Schriftsteller und Journalist, aber ein studierter Jurist. Er war ein enger Freund von Honoré de Balzac, der in der „Revue de Paris“ veröffentlichte und nach seinem Tod Rabou vier unvollendete Romanmanuskripte zur Vollendung (1854-56) überließ. (Wikipedia)

Rabous titelgebende Erzählung wurde von Ignaz Castelli (1781-1862) ins Deutsche übertragen (Verlagsangabe).

Hintergrundinformationen über GUARNERI

Guarneri ist eine traditionsreiche Cremoneser Geigenbauerfamilie des 17. und 18. Jahrhunderts. Andrea Guarneri (ca. 1623/26–1698) war Schüler und Gehilfe von Nicola Amati. Andreas Sohn Pietro (I) (1655–1720) war ebenfalls Geigenbauer und arbeitete vorwiegend in Mantua. Andreas Sohn Giuseppe Giovanni (1666–ca. 1739/40), der später den Beinamen „filius Andreae“ erhielt, setzte die Arbeit seines Vaters fort.

Dessen Söhne Pietro (II) (1695–ca. 1762/63), der hauptsächlich in Venedig tätig war, und (Bartolomeo) Giuseppe Antonio, genannt Joseph Guarnerius del Gesù (1698–1744), waren ebenfalls Geigenbauer. Die Instrumente des Joseph Guarnerius Del Gesùs gehören neben denen von Antonio Stradivari zu den begehrtesten und teuersten Instrumenten. (Wikipedia) Mehr Info: http://www.si.edu/Encyclopedia_SI/nmah/guarneri.htm

Man sieht also: TOBIAS Guarneri ist eine rein fiktive Figur. Aber er könnte im 18. Jahrhundert gelebt haben.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen

Peter Weis: Wirt
Tobias Nath: Tobias G.
Kerstin Sanders-Dornseif: Brigitte G.
Max Schautzer: Bürgermeister von Bremen
Timmo Niesner: Johann
Peter Reinhardt: Sekretär
Patrick Bach: Prinz
Luisa Wietzorek: Bedienstete
Tom Deininger: Diener
Axel Malzacher: Polizist
Jacques Breuer: Gefängnis-Geistlicher
Frank-Otto Schenk: Priester
Monica Bielenstein, Arianne Borbach, Cornelia Meinhardt: diverse Bürgerinnen
Hasso Zorn: Erzähler

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand im Titania Medien Studio und in den Planet-Earth-Studios statt und wurde bei Kazuya abgemischt.

Handlung

Im Winter 1827 wartet ein junger Mann hinter einer Kirche in Bremen auf sein Date. Der junge Mann ist der Urgroßvater des Erzählers. Die junge Dame ist bereits reichlich überfällig, als sein Blick auf den Laden eines Instrumentenbauers fällt. In der Hoffnung auf ein wenig Wärme und angenehmere Gesellschaft als den Winterwind betritt er den Laden. Ein Mann arbeitet in einer Ecke und redet mit sich selbst.

Als er angesprochen wird, gibt er sich abweisend. Er hat die Unverschämtheit, ihm einen Kontrabass für fürstliche acht Taler andrehen zu wollen. Der junge Besucher gibt ihm Bescheid, wohin er sich seine Taler stecken könne. Da tritt eine ältere Dame in den Laden. Es ist die Mutter des Instrumentenbauers, und mit ihrem freundlichen Wesen besänftigt sie Besucher wie Ladenbesitzer gleichermaßen.

Als er drei Jahre später (1830) zurückkehrt, ist der Laden verschlossen, verrammelt und mit großen Kreuzen beschmiert. Welches Unglück mag den Instrumentenbauer ereilt haben? Er fragt den Wirt seines Domizils, und da dieser Stadtrat ist, weiß er fast alles über den traurigen und nicht wenig anrüchigen Fall vor 13 Jahren zu berichten…

Tobias Guarnerius war 1817 der einzige Instrumentenbauer der Stadt und hätte ein regelrechtes Vermögen mit diesem Monopol anhäufen können. Doch stattdessen arbeitete er sich in den Ruin. Der Grund: Er fiel einer fixen Idee anheim, nämlich eine Stradivari zu kopieren. Er hätte diese Vorlage nur verkaufen müssen, um ein gemachter Mann zu sein, doch nein – er musste sie kopieren. Ob dieses Wahns starb ihm seine junge Frau weg. Während nur seine Mutter ihm ein paar Aufträge verschaffen konnte, versuchte er alles, um die Tonqualität Stradivari zu erreichen – vergeblich.

Da fiel ihm eines Tages das Buch „Über die Seelenwanderung“ in die Hände, und er las es begierig durch. So kam er auf den Einfall, dass es ein Weg zur Unsterblichkeit sein könnte, eine edle Seele nicht nur einzufangen und zu speichern, sondern sie bzw. ihr Behältnis in eine Geige einzubauen. Es ist eine Win-win-win-Situation: Der Seelenspender würde ebenso unsterblich wie das Instrument und dessen Spieler – zumindest dem Ruhm nach zu urteilen, den sie einheimsen würden.

Doch welche Seele soll er nehmen, fragt sich Tobias, doch die Antwort präsentiert sich schließlich von selbst. Drei Monate später, um 1 Uhr 52, befiehlt die kranke Brigitte Guarnerius ihre Seele Gott. Doch bei dem kommt sie gar nicht an…

Mein Eindruck

Die Geschichte zeigt, welche Opfer – im übertragenen Sinne – für die Kunst gebracht werden müssen. Rabou, der Originalautor und Literaturkritiker, war sich mit den französischen Romantikern einig, dass Kunst nicht nur eine verschönernde Aufgabe hat, sondern eine überhöhende, die dem Leben einen höheren Sinn verleiht. Aber er sah auch, dass für die Kunst ein menschliches Opfer dargebracht werden muss.

In „Tobias Guarnerius“ nimmt er die Gelegenheit wahr, eine semi-historische Vorlage, die Geigenbauerfamilie der Guarneri (s. o.), mit dieser Fragestellung zu verknüpfen. Herausgekommen ist eine bewegende Erzählung, die auch heute durchaus noch denjenigen zu berühren weiß, der für romantische Momente offen ist, wie sie oftmals im „Gruselkabinett“ zu finden sind.

Der anrührendste Momente ist die Schlüsselszene. Guarnerius ist es gelungen, sein Hexenwerk zu vollbringen und seine Stradivari-Kopie eine Seele nicht nur einzuhauchen, sondern regelrecht einzubauen. Der Klang, den er im zentralen Geigen-Solo zu erzeugen weiß, ist von derart wunderbarer Innigkeit, dass kein Zuhörer unberührt bleibt, am allerwenigsten der in Bremen zu Gast weilende Prinz selbst.

Der abgebrühte Aristokrat – wir befinden uns im Jahr 1817 – bietet Tobias eine astronomische Summe, um die Zaubergeige zu erwerben. Und mit diesem Verkauf beginnt das Unglück, das das Leben des Geigenbauers fortan begleiten wird. Von Reue geplagt, bereist er ganz Europa, um endlich die Geige, die von Hand zu Hand wandert, zurückzukaufen. Es ist typisch französisch, dass erst ein katholischer Priester Guarnerius‘ gequälter Seele den richtigen Weg weist.

Der Sündenfall des Geigenbauers ist ein zweifacher: Erst stahl er die Seele seiner Mutter mit unlauteren Mitteln, dann verhökerte er das Instrument mitsamt Seele an einen Banausen. Das muss er bitter büßen. Gruselig ist an dieser Geschichte vor allem die schön gestaltete Szene des Seelenfangs, noch dazu auf Brigittes Sterbelager. Wird Tobias dereinst auf seinem eigenen Sterbebett Seelenfrieden finden? Wir wagen es zu bezweifeln. Denn noch muss die Seele seiner Mutter aus dem vermaledeiten Instrument befreit werden…

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Titelfigur erscheint als hartherziger, weil besessener Charakter, und der junge Ich-Erzähler der Rahmenerzähler ist entsprechend brüskiert. Der Ich-Erzähler sowie der Wirt als Erzähler der Binnenhandlung sind neutrale Chronisten, die Höhen wie Tiefen der Geschichte ungerührt und ohne Zensur weitergeben.

So können die Akteure der Binnenhandlung voll zur Geltung kommen: die arme, freundliche Brigitte Guarnerius, der abgebrüht-gierige Prinz, der standesbewusste Bürgermeister (Max Schautzer), der katholische Priester. Die Geschichte funktioniert mehr auf der emotionalen Ebene.

Geräusche

Die Geräusche sind genau die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in den meisten Szenen mit Andeutungen aufgebaut. Stets knistert ein Kaminfeuer, heult der Wind durch die Ritzen, knarren die Türen und ab und zu tickt eine Uhr.

Zur nächtlichen Stunde, zu der die Sünde begangen wird, dröhnt ein Donnerschlag durch die Lautsprecher, der Tod tritt mit tiefen Bässen und zu Glockengeläut auf. Dass der Auftritt der Zaubergeige mit frenetischem Beifall quittiert wird, war vorauszusehen, doch der Kater folgt dem Verkauf – klingende Münze wirkte noch nie so unheilvoll – auf dem Fuße.

Musik

Es ist ein Jammer, dass der Verlag nicht in der Lage ist, meinem Banausengedächtnis auf die Sprünge zu helfen und die Quelle für das zentrale Geigensolo zu benennen. Man habe diese Musik auch bloß eingekauft, heißt es von Stephan Bosenius. Ein echter Violinist von solchen Fähigkeiten und solchem Instrument hätte wahrscheinlich das Jahresbudget gesprengt.

Wie auch immer: Dieses Geigensolo ist die ganze Aufnahme wert. Wer sich in Geduld übt, wird mit einem sehr schönen Musikerlebnis belohnt. Es ist eine romantische Phantasie, die hier gespielt wird, und weit entfernt von Bach, dafür aber umso näher an Mozart.

Die Musik entspricht nur selten dem Score eines klassischen Horrorfilms, sondern wird vor allem durch eine Klangkulisse auf elektronisch erzeugten Sounds bestritten. Diese unheimlichen Klänge verfehlen ihre Wirkung keineswegs, muss ich zugeben. Ergänzt werden sie von Instrumenten wie Celli, Kontrabässen usw. Das Duo aus Geige und Piano bestreitet den sanften Ausklang.

Musik, Geräusche und Stimmen wurden so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher.

Im Booklet finden sich Verweise auf die kommenden Hörspiele aufgeführt:

Nr. 94: Charles Rabou: Tobias Guarnerius (November)
Nr. 95: Henry S. Whitehead: Die Falle (November)
Nr. 96/97: Abraham Merritt: „Madame Mandilips Puppen“
Nr. 98: Theodor Storm: „Der Schimmelreiter“
Nr. 99: Leopold von Sacher-Masoch: „Die Toten sind unersättlich“

Auf www.titania-medien.de wird das Hörspiel zum Jubiläum der Reihe genannt:

Nr. 100: H.P. Lovecraft: Träume im Hexenhaus
Nr. 101: M.R. James: „Verlorene Herzen“

Unterm Strich

„Junger besessener Zauberlehrling wird eines Besseren belehrt“ könnte man die bewegende Geschichte auf einen Nenner bringen. Natürlich gehört zu einem Beitrag fürs „Gruselkabinett“ noch etwas mehr dazu als Besessenheit: Die Titelfigur bemüht das (fiktive) Motiv der Seelenwanderung, um einer Geige zu einem ganz besonderen Klang zu verhelfen. Das ist der erste Sündenfall.

Zwar ist die so erzeugte Kunst geradezu himmlisch, doch das Instrument zu verkaufen, ist der zweite Sündenfall und widerspricht obendrein dem Ideal „Kunst um der Kunst willen“ (L’art pour l’art), das die französischen Romantiker propagierten: Kunst dürfe sich nicht an Unwürdige verkaufen. (Trotzdem schafften es die meisten Literaten/Journalisten, von ihrem Geschreibsel zu leben.) Der Doppelsünde folgen Lehr- und Bußejahre, bis die Titelfigur wieder ganz unten angelangt ist. Ob er und die eingesperrte Seele seiner Mutter erlöst werden können, darf hier nicht verraten werden.

Das Hörbuch

„Tobias Guarnerius“ reiht sich ein in die von Musik geprägten Hörspiele des „Gruselkabinetts“ wie etwa „Der Freischütz“, der ja Webers romantischer Oper als Vorlage diente. In „Bildnis des Dorian Gray“ sind es Piano-Passagen von Frederic Chopin, die dem Hörspiel seinen besonderen Reiz verleihen.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Synchronstimmen von Schauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Denn die Geschichte weist doch eine gewisse Komplexität auf. Die Rahmenhandlung des Jahres 1827 bzw. 1830 umfasst eine Binnenhandlung ab dem Jahr 1817, die vom Wirt in zahlreichen Rückblenden zum Leben erweckt wird.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert und die Stimmen der Sprecher vermitteln das richtige Kino-Feeling. Besonders zu vermerken ist das fabelhafte Geigensolo in der Mitte der Geschichte, das einen klaren Wendepunkt darstellt. Leider konnte mir niemand dafür die Quelle nennen.

Audio-CD
Spielzeit: ca. 46 Minuten
Info: Tobias Guarnerius, ca. 1830

www.titania-medien.de

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