M. R. James – Das unheimliche Puppenhaus (Gruselkabinett Folge 145)

Mordzeugen wider Willen

Als Mr. Dillet, ein Sammler von Antiquitäten, im Gebraucht-Waren-Laden des Ehepaars Chittenden ein viktorianisches Puppenhaus entdeckt, ist er sich sicher, dass er es haben muss. Er ahnt nicht, dass es nun mit dem Nachtschlaf für ihn und seine Frau erst einmal aus und vorbei sein wird und die Chittendens im Grunde froh sind, das unheimliche Puppenhaus losgeworden zu sein… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt sein Hörspiel ab 14 Jahren.

Der Autor

Montague Rhodes James (1862-1936) war ein englischer Altertumsforscher und Autor von Geistergeschichten. Außerdem war er Provost von Cambridge University und Eton College. Der Öffentlichkeit bekannt wurde James ab 1894 durch seine Geistergeschichten, wobei er sich auf zahlreichen Reisen auf dem europäischen Kontinent Anregungen holte. Seine profunden historischen Kenntnisse, die er in seine Erzählungen einfließen ließ, geben diesen einen Anstrich von Authentizität.

James bediente sich häufig der Elemente von „klassischen“ Geistergeschichten und perfektioniert diese: Der Schauplatz ist oft eine ländliche Gegend, Kleinstadt oder eine ehrenwerte Universität mit einem verschrobenen Gelehrten als Protagonisten. Die Entdeckung eines alten Buches oder einer anderen Antiquität beschwört das Unheil oder eine dunkle Bedrohung herauf. Dabei wird das Böse eher angedeutet und der Vorstellung des Lesers überlassen, wogegen die Charaktere und der Schauplatz detailliert beschrieben werden. (Quelle: Wikipedia)

Die vorliegende Erzählung erschien zuerst in der Zeitschrift „Empire Review“ und wurde laut Autor explizit für das Puppenhaus Ihrer Majestät der Königin (Victoria) verfasst. Und dieses Puppenhaus war selbstverständlich im gesamten Weltreich der Briten bekannt, wenn nicht sogar berühmt.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen

Matthias Lühn: Mr. Dillet
Sigrid Burkholder: Mrs. Dillet
Bodo Primus: Mr. Chittenden
Dagmar von Kurmin: Mrs. Chittenden
Jacques Breuer: Butler Collins
Thomas Balou Martin: Archivar
Marc Gruppe: Kutscher

Die Macher

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand im Titania Medien Studio statt und wurde bei Kazuya abgemischt. Die Illustration stammt von Ertugrul Edirne.

Handlung

London 1895. Mr. Dillet hat sich mal wieder im Antiquitätenladen von Mr. Chittenden umgesehen. Sofort fielen die neugierigen Blicke des Sammlers auf das große Puppenhaus, dessen Vorzüge nun Chittenden herausstreicht. Der Detailreichtum und die handwerkliche Verarbeitung suchen in der Tat ihresgleichen. Als der Händler nur 75 Pfund für dieses Schmuckstück verlangt, kann Dillet sein Glück kaum fassen, aber die Ehre verlangt, den Mann runterzuhandeln. Bei schlappen 63 Pfund werden sie sich handelseinig. Kaum ist das gute Stück sorgfältig verpackt, lässt Dillet es nach Hause transportieren. Er ahnt nicht, dass das Ehepaar Chittenden froh ist, das „grässliche Ding“ endlich loszuwerden.

Inventur

Sein Butler Collins hat die zweifelhafte Ehre, das Monstrum in den ersten Stock zu schleppen, um es im geräumigen Schlafzimmer aufzustellen und mit allem Zubehör aufzubauen. Was wird wohl die Dame des Hauses dazu sagen, fragt sich Dillet ungeduldig. Als sie endlich eintritt, bemerkt sie das Puppenhaus sofort. Es erinnert sie an das Anwesen Strawberry Hill“ eines gewissen Horace Walpole. Eindeutig 18. Jahrhundert. Zusammen bewundern sie die ungewöhnlich detailreichen Einrichtungsgegenstände – es gibt sogar Ersatzgardinen in einer Schublade – und die vielen Figuren.

Also, da sind der Hausherr und seine Dame, die gerade zu Abend speisen, umschwärmt von Butler, Zofe, Köchin usw.. Während im Stallgebäude drei Bedienstete stehen, befinden sich Obergeschoss zwei Kinder mit ihrem Kindermädchen. Sind das jetzt alle, fragt sich Dillet. Nein, meint seine Dame, da oben im Bett liegt noch ein greis, der eine Nachtmütze auf dem Kopf trägt. Full House, könnte man zusammenfassen. Die Dillets gehen selbst zum Abendessen.

Mitternachtsspuk

Eine Glocke schlägt zur Mitternacht. Sie weckt Mrs. Dillet aus ihrem Schlummer. Der Glockenschlag ist insofern ungewohnt, weil sie weit und breit keine Glocke hängen haben, nicht mal in einer Standuhr. Sie weckt ihren Göttergatten und zusammen wundern sie sich, woher zum Geier dieses Geräusch kommt. Ein geisterhafter Schein weist ihnen den Weg zum neuen Puppenhaus. Es ist in das Mondlicht eines Septembermonats gehüllt – doch der Mond scheint heute gar nicht. Das Puppenhaus scheint eine Welt für sich zu sein.

Doch, halt! Hat sich da nicht etwas bewegt? In der Tat: Es sind die beiden Eltern, die gerade ihr Abendessen beenden und sich mit verschwörerischem Blick umsehen – die Luft ist rein. Er übergibt ihr eine Phiole und schüttelt die Faust gegen das Obergeschoss, wo der Greis unruhig schläft. Atemlos verfolgen Mr. und Mrs. Dillet, wo die Hausherrin ihren Vater oder Schwiegervater mit dem Zeug aus der Phiole vergiftet. Und als ein Notar eintrifft und den Greis tot vorfindet, zieht er unverrichteter Dinge wieder ab: Dieses Testament wird wohl nicht mehr geändert.

Doch nicht genug damit: Der in einen Sarg gelegte und in der winzigen Kapelle aufgebahrte Sarg öffnet sich und ein Leichnam entsteigt ihm. Zwei weitere Morde folgen. Zwei weitere Särge werden davongetragen. Die Glocke schlägt ein Uhr, der Spuk ist zu Ende. Mrs. Dillet ist einer Ohnmacht nahe und verlangt nach einem doppelten Scotch. Von dem Feuerwasser genehmigt sich auch ihr Mann einen guten Schluck. Eines ist klar: „Das Ding muss verschwinden!“, wie Mrs. Dillet verlangt. Ihr Mann beschließt, mit Mr. Chittenden ein ernstes Wörtchen zu reden.

Doch ihn hat auch die Neugier gepackt. Womöglich gibt es für das Puppenhaus ein reales Vorbild aus dem 18. Jahrhundert?! Wer waren die beiden Giftmörder, wer der wiederauferstandene Geist? Mrs. Dillet schließt sich der Ermittlung an, denn ihr detektivischer Spürsinn wittert Unrat…

Mein Eindruck

Ungeachtet des gespenstischen und tödlichen Geschehens im Puppenhaus ist das zentrale Element in die Story die des Zuschauens. Der Voyeur empfindet in der Regel Lust am Beobachteten, doch die Dillets beschleicht ein wachsendes Grauen, als sie der Todessequenz folgen. Sie sind in der gleichen Lage wie der Bildersammler in James‘ Erzählung „The Mezzotint“ („Der Kupferstich“), in der der Betrachter im gekauften Bild mit wachsender Beklemmung den Weg einer schwarzen Figur verfolgt, die sich auf ein Haus zubewegt – um was zu tun? jedenfalls nichts Gutes.

Jeweils geraten zwei zeitliche Ebenen in Konflikt: Die Betrachter haben das Agieren verlernt und beziehen ihr zweifelhaftes Vergnügen aus der Kontemplation. So ergeht es ja auch dem heutigen Fernsehzuschauer, der sich in einer erstaunlich ähnlichen Lage befindet: Die scheußlichsten Schauspiele dienen ihm, den Unbewegten, als Anlass zu Unterhaltung. Doch die Dillets sind – noch – anders: Sie sprechen dem Schauspiel im Puppenhaus einen Grad von Realismus zu, den der heutige Zuschauer nie zubilligen würde.

Würde sich der heutige Zeitgenosse wie die Dillets verhalten, müsste er sich vom Sofa erheben und das Gesehene wie das Protokoll einer realen Mordtat aus seiner Nachbarschaft behandeln. Nicht nur das, er müsste sich in die Rolle eines Polizisten versetzen, echte Akten in einem echten Archiv wälzen, Zusammenhänge und Zeitlinien herstellen sowie Schlussfolgerungen ziehen. Eine Menge Aufgaben für die durchschnittliche Sofakartoffel!

Es ist daher kein Wunder, wenn der emotionale Abstand des Hörers zum Gehörten beträchtlich ist. Nur durch die Vermittlung der emotionalen Reaktion der Dillets als unsere Stellvertreter vermögen wir daher die Bedeutung der Tragödie und die Verbrechen im Puppenhaus zu ermessen. Im Theater wird diese Methode „Mauerschau“ (Teichoskopie) genannt. Schon von antiken Autoren angewandt, erspart die Mauerschau die personalintensive Aufführung von Schlachten und dergleichen.

Der Hörer hat indes die Aufgabe, dieser Schilderung in allen Details zu folgen und so festzustellen, was Ungewöhnliches vor sich geht. Einen Teil der Interpretation übernimmt zum Glück die beiden Betrachter, also die Dillets. Nur so wird klar, dass es offenbar um ein umstrittenes Testament geht. Dass ein Toter wieder zum Leben erwacht, um Kinder zu meucheln, hätten sie sich allerdings auch nicht träumen lassen. Das (laut Originaltext) fast zwei Meter breite Puppenhaus wird auf diese Weise zu einem Gruseltheater, das sich seiner Zuschauer nicht bewusst ist, aber jede Nacht zur Geisterstunde seine Aufführung startet, als wäre es die wiederkehrende Erinnerung eines Träumers.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen

Das Personal besteht vor allem aus dem Ehepaar der Dillets und mehreren Nebenfiguren wie etwa den Chittendens. Deshalb konzentriert sich die Aufmerksamkeit v.a. auf Mr. und Mrs. Dillet. Der gut betuchte Sammler erfreut sich offensichtlich einer sicheren gesellschaftlichen Stellung und muss nicht einmal arbeiten. Das erledigen seine Bediensteten, v.a. sein Butler. Folglich mangelt es Dillet nicht an Selbstsicherheit.

Was er sich wünscht, ist allein das Interesse und der Beifall seiner Frau, die offenbar noch arbeiten muss, sonst würde sie nicht so spät nach Hause kommen. Sie ist die emotionalere Hälfte des Paares, lässt aber auch nicht an Grips vermissen. Kurzum: Sie sind für die Detektivarbeit wie geschaffen, die sich dem erschütternden Schauspiel im Puppenhaus anschließt.

Mr. Chittenden ist durchaus eine Erwähnung erwähnt. Bodo Primus stellt den Antiquitätenhändler als aufrichtigen Mann dar, doch wie sich später herausstellt, stimmt etwas nicht mit der Ware – wie ehrlich kann er also sein? Chittenden erscheint dann eher wie ein Gebrauchtwagenhändler, der gerne auch mal flunkert, um seine Ware an den Mann zu bringen. Dagmar von Kurmin, ein Urgestein des Gruselkabinetts, hat nicht viel zu sagen, aber sie wirkt ein wenig wie die unzufriedene Frau des Fischers im Märchen, der einen sprechenden Fisch gefangen hat und nun allerlei Wünsche erfüllt bekommt.

Geräusche

Eine große Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers, obwohl die meisten Szenen drinnen spielen, entweder bei Mr. Chittenden oder Mr. Dillet. Nur am Schluss gibt es eine Außenszene, komplett mit Kutsche, Käuzchenruf, Glockenschlag und Windesrauschen – alles analog zur Szene in und um das titelgebende Puppenhaus.

Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Papierrascheln, klappernde Teetassen, knisterndes Kaminfeuer – all diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Die Musik

Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Hier steigert sich die Spannung sehr dezent von Szene zu Szene, ganz besonders in der zentralen Puppenhaus-Sequenz.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der die Dillets ungläubig und mit wachsendem Grauen den Vorgängen im Puppenhaus folgen. Dargestellt ist der Moment, als die beiden Särge der Kinder herausgetragen werden.

Im Booklet sind die Titel des GRUSELKABINETTS verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Im Booklet finden sich Verweise auf die im Herbst 2018 und Frühjahr 2019 kommenden Hörspiele aufgeführt:

Ab Frühjahr 2019

144: Arthur Machen: Der gewaltige Gott Pan ((LINK))
145: M.R. James: Das unheimliche Puppenhaus
146: H.G. Wells: Der rote Raum
147: Per McGraup: Die Höllenfahrt des Schörgen-Toni (Original-Hörspiel!)
148: Louisa May Alcott: Im Labyrinth der Großen Pyramide
149: E. & H. Heron: Flaxman Low – Der Fall Teufelsmoor

Unterm Strich

Ein Sammler wird durch die Aufführung, die sein neues Puppenhaus – ein Trumm von zwei Metern Breite – zur Geisterstunde zeigt, zum Mordzeugen und muss eine moralische Entscheidung fällen: Kann er genügend Verantwortungsbewusstsein aufbringen, um das Rätsel des Dreifachmordes und des Gespenstes lösen zu wollen. Zusammen mit seiner Frau entschließt er sich dazu. Ein heutiger Fernsehzuschauer würde das sicherlich nicht tun und doch gibt es Ereignisse in der deutschen Geschichte, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen, sollen sie sich nicht wiederholen. Erst wenn reale, verbürgte Geschichte zum banalen Schauspiel – zu einem “ Vogelschiss“ quasi – degradiert wird, sind Hopfen und Malz verloren.

Es ist auch interessant zu verfolgen, welches Schicksal das Puppenhaus selbst erfährt. Der Händler, Mr. Chittenden, lobt es vor allem wegen seiner Materialität: feine Verarbeitung, großer Detailreichtum. Wohlweislich verschwiegt er eine weitere Eigenschaft. Diese entdeckt wohl oder über der Sammler Mr. Dillet: Das Puppenhaus ist eine Zeitkapsel, die allnächtlich zur Geisterstunde die gespeicherte Erinnerung an drei Morde und eine Wiederauferstehung wiedergibt, sehr zur Beunruhigung der beiden Betrachter. Schließlich finden sie das reale Vorbild des Puppenhauses vor, komplett mit Käuzchen, Wind und Mondschein – genau wie im Modell: quasi die „Universal Studios“-Version in 3D. Das ist eine bemerkenswerte Steigerung des Realitätsgrades dieser Zeitkapsel.

Wie kam die aufgezeichnete Erinnerung in dieses Puppenhaus – und wozu? Um das herauszufinden, bemühen die Dillets einen Archivar, der auch dank eines Fotos (es ist immerhin 1895) das Haus halbwegs identifizieren kann. Die Dillets gelangen auf die Spur von Lord James Moorweather, der in seiner Karriere als angehender Architekt einen bemerkenswerten Knick aufweist: Nach dem Verlust seines Vaters, seiner Kinder und seiner Frau im September 1757 wurde er stattdessen Modellbauer.

Er starb offenbar als geläuterter Mensch. Die Kraft, die ihm die Magie zur Verewigung dieser Tragödie verlieh, ist daher wohl himmlischen Ursprungs. Das dürfte die royalen Zuhörer, die der Geschichte von M.R. James lauschten, sehr gefreut haben. Denn wie oben erwähnt, schrieb M.R. James diese Geschichte für die Bibliothek des Puppenhauses Ihrer Majestät der Königin Victoria.

Das Hörbuch

Die Handlung bietet zwar keinerlei Action, weiß aber dennoch eine gruselige Wirkung zu entfalten, wenn man das Geschehen im Puppenhaus ganz genau verfolgt. Ein Gespenst, das aus Rache Kinder tötet? Das bekommt man nicht alle Tage erzählt.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

CD: über 53 Minuten
Originaltitel: The Haunted Doll’s House, abgedruckt 1925
ISBN-13: 9783785759455

www.titania-medien.de

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